OGH 15Os40/94

OGH15Os40/947.4.1994

Der Oberste Gerichtshof hat am 7. April 1994 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Reisenleitner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch, Mag. Strieder, Dr. Rouschal und Dr. Schmucker als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Czedik‑Eysenberg als Schriftführer, in der Strafsache gegen Karl Leopold S* wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB und einer anderen strafbaren Handlung über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Vorgänge, daß vor der Beschlußfassung nach dem StEG der freigesprochene Angeklagte nicht gehört wurde und der Beschluß nicht vom Geschworenengericht gefaßt wurde, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, des Generalanwaltes Dr. Hauptmann, und des Verteidigers Dr. Moringer, jedoch in Abwesenheit des freigesprochenen Angeklagten, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1994:0150OS00040.9400000.0407.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

Durch die Unterlassungen des Geschworenengerichtes beim Landesgericht Linz, am 30. Juli 1986

a) den (wenngleich noch nicht rechtskräftig) freigesprochenen Angeklagten Karl Leopold S* zu den Voraussetzungen des § 2 Abs 1 lit b, Abs 2 und Abs 3 StEG zu hören und

b) hierüber sofort nach dessen Anhörung zu entscheiden,

wurde das Gesetz in den Bestimmungen des § 6 Abs 2 und 3 StEG verletzt.

 

Gründe:

 

Rechtliche Beurteilung

I. Mit Urteil des Geschworenengerichtes beim Landesgericht Linz vom 30.Juli 1986 (in der Urteilsausfertigung offenkundig versehentlich: "28.7.1986" ‑ vgl S 7, 182/III), GZ 21 Vr 1981/85‑164, wurde Karl Leopold S* von der wider ihn wegen der Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB und der schweren Nötigung nach §§ 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 erstem Fall StGB erhobenen Anklage gemäß "§ 259 Z 3" (richtig: § 336) StPO freigesprochen, nachdem im Wahrspruch der Geschworenen die beiden auf diese Anklagetaten gerichteten Hauptfragen ‑ die einzigen den Geschworenen gestellten Schuldfragen ‑ verneint worden waren. Nach Verkündung dieses Urteils, hinsichtlich dessen die Staatsanwaltschaft keine Rechtsmittelerklärung abgab, wurde die Aufhebung der Untersuchungshaft und die Enthaftung des seit 1.August 1985 in Haft befindlichen Angeklagten angeordnet (S 298/III). Eine Vernehmung des (noch nicht rechtskräftig) freigesprochenen Angeklagten nach § 6 Abs 3 StEG und eine Beschlußfassung nach Abs 2 dieser Gesetzesstelle unterblieben.

Eine (vom Obersten Gerichtshof vorgenommene) Einsicht in das Beratungsprotokoll (zu ON 163) ergab, daß eine Beratung des Geschworenengerichtes über einen Ersatzanspruch nach dem StEG nicht stattfand und demnach eine Entscheidung auch nicht etwa deshalb unterblieb, weil dem Gericht eine sofortige Entscheidung wegen aufzunehmender weiterer erforderlicher Beweise nicht möglich schien (§ 6 Abs 2 vorletzter SatzAbs 3 StEG). Tatsächlich wurden in der Folge auch keine weiteren Beweise aufgenommen.

Der Freispruch erwuchs infolge Unterlassung der Rechtsmittelanmeldung seitens der Staatsanwaltschaft in Rechtskraft (S 321/III). Am 5.August 1986 wurde bei Gericht ein Antrag des Angeklagten (ON 169) überreicht, der unter anderem auf die Feststellung der Verpflichtung des Bundes zum Ersatz der durch die Anhaltung enstandenen vermögensrechtlichen Nachteile abzielte. Erst mit Beschluß vom 10.Dezember 1986 (ON 177) stellte das Landesgericht Linz in der in § 13 Abs 3 StPO bestimmten Zusammensetzung ‑ der Antragstellung der Staatsanwaltschaft Linz vom 4.November 1986 (ON 176) folgend ‑ fest, daß dem Angeklagten für die durch die Anhaltung vom 1.August 1985, 13.30 Uhr bis 30.Juli 1986, 22.00 Uhr, entstandenen vermögensrechtlichen Nachteile kein Ersatzanspruch zustehe; es begründete dies damit, daß der Tatverdacht, aufgrund der Belastungsmomente in ihrer Gesamtheit gesehen, nicht entkräftet worden sei und zählte eine Anzahl von seiner Ansicht nach fortbestehenden gewichtigen Verdachtsmomenten auf.

Der gegen diesen Beschluß erhobenen Beschwerde des freigesprochenen Angeklagten (ON 179) gab das Oberlandesgericht Linz mit Beschluß vom 25.Feber 1987, AZ 8 Bs 8/87 (ON 186), nicht Folge. Es sah keinen Anlaß zur vom Beschwerdeführer angeregten Stellung eines Antrages nach Artikel 89 Abs 2 B‑VG beim Verfassungsgerichtshof auf Aufhebung der Bestimmung des § 2 Abs 1 lit b StEG und führte in der Sache selbst aus, daß unter Berücksichtigung der Zahl von (in der Beschlußbegründung konkret aufgezählten) belastenden Umständen, die auch in der Hauptverhandlung in den wesentlichen Teilen nicht widerlegt worden seien, in ihrer Gesamtheit von einer Entkräftung des Tatverdachtes (§ 2 Abs 1 lit b StEG) nicht die Rede sein könne, wenn auch die Verdachtslage nach Ansicht der Geschworenen nicht zu einem Schuldspruch ausgereicht hätte.

Mit Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 25.August 1993, Zl 21/1992/366/440 (veröffentlicht ÖJZ 1993, 816 MRK‑E 46), wurde festgestellt, daß die über die Frage der Haftentschädigung erkennenden österreichischen Gerichte Begründungen verwendeten, welche mit der Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 MRK nicht zu vereinbaren seien, und hiedurch diese Konventionsbestimmung verletzt hätten. Zweifel an der grundsätzlichen Vereinbarkeit der angewendeten Regelung des § 2 Abs 1 lit b StEG mit dieser Konventionsbestimmung wurden vom Europäischen Gerichtshof ‑ der sich auch nicht zum Zuspruch der vom Beschwerdeführer S* begehrten Entschädigung für die durch seine Haft angeblich erlittenen vermögensrechtlichen Nachteile veranlaßt sah ‑ nicht geäußert. Im (zustimmenden) Sondervotum des Richters Matscher zu dieser Entscheidung wurde unter anderem hervorgehoben, die Begründung der bekämpften Gerichtsbeschlüsse ginge über das nach § 2 Abs 1 lit b StEG für die Begründung der Aberkennung der Haftentschädigung Verlangte hinaus; im Hinblick auf die Schwierigkeit, Enscheidungen in gleichgelagerten Fällen zureichend, jedoch ohne Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, zu begründen, sei eine (allerdings nicht weiter konkretisierte) Novellierung der erwähnten Gesetzesstelle wünschenswert.

II. Das Unterbleiben der sogleich nach Verkündung des Freispruches vorzunehmenden Anhörung des Angehaltenen sowie einer sofortigen Entscheidung des Geschworenengerichtes über das Vorliegen der in § 2 Abs 1 lit bAbs 2 und Abs 3 StEG bezeichneten Anspruchsvoraussetzungen oder der im § 3 StEG bezeichneten Ausschlußgründe in Ansehung des Angeklagten S* verstieß gegen die Bestimmungen der Abs 2 und Abs 3 des § 6 StEG. Diesen Vorschriften (iVm Abs 4 dieser Gesetzsstelle) zufolge obliegt eine derartige beschlußmäßige Feststellung, sofern das Urteil aufgrund eines Wahrspruches der Geschworenen gefällt worden ist, dem Schwurgerichtshof gemeinsam mit den Geschworenen, mithin dem Geschworenengericht. Ist im Verfahren vor diesem Gericht allerdings die sofortige Entscheidung nicht möglich, so hat das Strafgericht erster Instanz, und zwar der Gerichtshof erster Instanz in der im § 13 Abs 3 StPO bestimmten Zusammensetzung, zu entscheiden. Vor der Beschlußfassung ist der Angehaltene zu hören; ferner sind die für die Feststellungen erforderlichen ‑ zur Verdachtsentkräftung geeigneten (Mayerhofer‑Rieder Nebenstrafrecht3 § 2 StEG E 12 b) ‑ Beweise aufzunehmen, soweit sie nicht bereits im Strafverfahren erhoben worden sind. Der Umstand, daß der Freispruch nicht sogleich rechtskräftig wurde, steht einer sofortigen Entscheidung des Geschworenengerichtes nicht entgegen; der (vorerst nicht kundzumachende) Beschluß ist gemäß § 6 Abs 4 StEG nach Eintritt der Rechtskraft des freisprechenden Urteiles dem Angehaltenen (zu eigenen Handen) und dem Staatsanwalt zuzustellen und wird im Falle einer Aufhebung des Freispruches im Rechtsmittelverfahren gegenstandslos (SSt 48/83). Gründe, welche im vorliegenden Fall dem Geschworenengericht eine sofortige ‑ nach Anhörung des Angehaltenen zu treffende ‑ Entscheidung unmöglich gemacht hätten, lagen nicht vor; insbesondere war die Aufnahme weiterer Beweise weder vom Gericht noch ‑ wie sich aus dem Rechtsmittelvorbringen ergibt ‑ vom Angeklagten für notwendig erachtet worden. Das Geschworenengericht hätte daher im Sinne des § 6 Abs 2 StEG über das Vorliegen von Anspruchsvoraussetzungen oder Ausschlußgründen noch in der Hauptverhandlung ‑ nach Anhörung des Angeklagten ‑ entscheiden müssen. Eine vom Gericht in dieser Zusammensetzung sogleich nach Verkündung und noch vor Rechtskraft des Freispruches beschlossene Aberkennung der Haftentschädigung mangels Entkräftung des Tatverdachtes hätte vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ‑ wie aus der Begründung seiner Entscheidung zu erschließen ist ‑ weder als Äußerung von Zweifeln an der Richtigkeit des unmittelbar zuvor von den Geschworenen gefundenen Wahrspruches und des auf dieser Grundlage vom Schwurgerichtshof gefällten Freispruches noch als Verstoß gegen die insbesondere (erst) nach rechtskräftigem Verfahrensabschluß zu beachtende Unschuldsvermutung verstanden werden können; eine solche Vorgangsweise des Geschworenengerichtes hätte es überdies dem als Beschwerdegericht angerufenen Gerichshof zweiter Instanz auch eher ermöglicht, sich einer ‑ vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als mit Art 6 Abs 2 MRK unvereinbar betrachteten ‑ detaillierten Würdigung belastender Verfahrensergebnisse unter Gebrauch von Formulierungen, die als Kritik am (indessen in Rechtskraft erwachsenen) Freispruch aufgefaßt werden könnten, zu enthalten.

Es waren daher aus den vom Generalprokurator in der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend angeführten Gründen die unterlaufenen Gesetzesverletzungen festzustellen.

Die aufgezeigten Unterlassungen des Geschworenengerichtes sind ‑ anders als in dem der Entscheidung EvBl 1980/197, auf die sich der Verteidiger des Freigesprochenen in der gemäß § 292 StPO erstatteten Äußerung bezieht, zugrundeliegenden Fall ‑ schon deshalb nicht behebbar, weil zufolge der jeweils durch Auslosung jedes zweite Jahr zu bildenden Geschworenenlisten (§§ 5 Abs 112 Abs 213 Abs 1 GSchG) eine Einberufung jener Geschworenen, die in der vom 28. bis 30.Juli 1986 tätig geworden waren, in dieser Funktion nicht mehr möglich ist (so im Ergebnis bereits SSt 48/83).

Der Oberste Gerichtshof hatte sich somit auf die Feststellung der in Beschwerde gezogenen Gesetzesverletzungen zu beschränken.

Der Anregung des Verteidigers zu einer Maßnahme nach § 290 Abs 1 StPO ist lediglich einzuräumen, daß eine solche Maßnahme auch aus Anlaß einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes getroffen werden kann (Mayerhofer‑Rieder StPO3 § 290 E 20 sowie 9 Os 83/84). Vorliegend ist dies indes nicht möglich.

Auf die bei der gegebenen Fallkonstellation auftauchende Frage, ob sich eine derartige Maßnahme auch auf Beschlüsse erstrecken könnte, die nicht Gegenstand der ‑ andere Verfahrensvorgänge monierenden ‑ Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes sind, muß hier schon deshalb nicht eingangen werden, weil das Gesetz durch das Klammerzitat "(§ 281 Abs 1 Z 9 bis 11)" und den Hinweis auf einen solcherart "in Frage kommenden Nichtigkeitsgrund" in § 290 Abs 1 StPO klarstellt, daß ausschließlich materiellrechtliche Nichtigkeiten der genannten Art Gegenstand einer amtswegigen Maßnahme nach dieser Gesetzesstelle sein können, mithin nur Benachteiligungen eines Angeklagten im Ausspruch über die Schuld oder über die Strafe aufgegriffen werden können (SSt 30/105 = RZ 1960,12), nicht aber ‑ wie hier ‑ ein Ausspruch über einen Ersatzanspruch nach dem StEG, der nach der Gestaltung der Rechtslage denknotwendigerweise von keiner der in § 281 Abs 1 Z 9 bis 11 StPO bezeichneten Nichtigkeiten betroffen sein kann.

Damit scheitert aber auch die im Gerichtstag der Sache nach vorgetragene weitere Anregung des Verteidigers, der Oberste Gerichtshof möge gemäß Art 89 Abs 2 zweiter Satz B‑VG beim Verfassungsgerichtshof den Antrag auf Aufhebung des § 2 Abs 1 lit b StEG wegen Verfassungswidrigkeit stellen.

Unabdingbare Voraussetzung für eine derartige Antragstellung ist die Präjudizialität der angefochtenen Gesetzesstelle für die zu fällende Gerichtsentscheidung (VfG‑Slg 12185/1989, 12168/1989, 11576/1987, 10904/1986, 10701/1985, 10311/1984 zumeist mwN). Eine Anwendung des § 2 Abs 1 lit b StEG in der nach dem Gesagten hier allein zu behandelnden Frage eines Verstoßes gegen die Bestimmungen des § 6 Abs 2 und 3 StEG wäre iS der zitierten Judikatur des Verfassungsgerichtshofes geradezu denkunmöglich; ein Antrag der angeregten Art müßte einer Zurückweisung durch den Verfassungsgerichtshof ohne meritorische Prüfung verfallen. Der Oberste Gerichtshof sieht demnach keinen Anlaß, der Anregung näherzutreten.

 

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