OGH 10ObS69/94

OGH10ObS69/9422.3.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Monika Angelberger und Dr. Otto Lamatsch (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Anna S*****, ehemals Landwirtin, *****, vertreten durch Dr. Gerhard Petrovitsch, Rechtsanwalt in Leibnitz, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, vertreten durch Dr. Herbert Macher, Rechtsanwalt in Wien, wegen Erwerbsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. Oktober 1993, GZ 8 Rs 54/93-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 16. März 1993, GZ 34 Cgs 102/92-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid der beklagten Sozialversicherungs- anstalt der Bauern vom 13.4.1992 wurde der Antrag der Klägerin vom 13.2.1992 auf Gewährung einer Erwerbs- unfähigkeitspension nach § 124 BSVG abgelehnt.

Das Erstgericht wies das dagegen auf Gewährung der Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 13.2.1992 (richtig wohl ab 1.3.1992) gerichtete Klagebegehren ab. Auf Grund von ärztlichen Sachverständigengutachten stellte das Erstgericht bei der am 11.6.1939 geborenen Klägerin altersübliche Aufbrauchs- und Abnützungserscheinungen, gelegentliche Lumbalgien, mobile Spreizfüße, erfolgreich operierte Krampfadern, oberflächliche Venenausweitungen und einen altersüblichen Verschleiß am übrigen Skelettsystem fest. In neurologisch-psychiatrischer Hinsicht besteht ein larvierter Depressionszustand mit deutlicher Somatisierung, wobei eine endogene Komponente nicht ausgeschlossen werden kann. Darüber hinaus findet sich ein sensibles Polyneuropathiesyndrom mit Gefühlsstörungen der Beine, ein Zervikalsyndrom mit Spannungskopfschmerz, lumbale Neuralgien ohne Wurzelreiz- oder Wurzelkompressionssymptome und subjektive Schwindelerscheinungen. Zusammenfassend sind der Klägerin nur mehr leichte körperliche Arbeiten zumutbar; diese können im Sitzen, Gehen und Stehen, im Freien und in geschlossenen Räumen unter Einhaltung der üblichen Ruhepausen ausgeübt werden. Überkopfarbeiten scheiden aus; Bück- und Hebearbeiten sind nicht eingeschränkt. Arbeiten an exponierten Stellen sollen aus Sicherheitsgründen vermieden werden, die Benützung von Steighilfen ist zumutbar. Akkord- und Fließbandarbeiten sowie Tätigkeiten mit forciertem Arbeitstempo sind der Klägerin nicht zumutbar, ein normaler Tätigkeitsablauf ist ihr ganztägig zuzumuten. Die Klägerin ist auf andere Tätigkeiten verweisbar, eine Umschul- und Anlernbarkeit ist allerdings nicht gegeben. Den üblichen Arbeitsanweisungen ist sie gewachsen. Im Falle eines Ortswechsels ist mit maßgeblichen Anpassungs- schwierigkeiten nicht zu rechnen. Leidensbedingte Krankenstände sind in einer Dauer von fünf Wochen pro Jahr zu erwarten.

Die Klägerin stand nach Beendigung der Pflichtschule von Juli 1953 bis Oktober 1959 im elterlichen landwirtschaftlichen Betrieb in Beschäftigung und besuchte von Jänner bis Mai 1957 eine Haushaltungsschule. Danach war sie von November 1959 bis Oktober 1960 als Serviererin, anschließend bis März 1963 als Hausgehilfin und von April bis Mai 1963 im elterlichen landwirtschaftlichen Betrieb in Arbeit. Seit Oktober 1963 war sie Betriebsführerin eines cirka 2 ha großen landwirtschaftlichen Betriebes, der landwirtschaftlich, forstwirtschaftlich und weinbaumäßig genutzt wurde. Der Betrieb wies zum 1.1.1988 einen Einheitswert von S 11.000,-- auf. Sie erzielte auch ein Einkommen aus Flaschenweinverkauf und Zimmervermietung. Ihre persönliche Arbeitsleistung war zur wirtschaftlichen Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig. Auf Grund des medizinischen Leistungskalküls kann die Klägerin die von ihr in den letzten 15 Jahren ausgeübte Tätigkeit ohne Gefährdung ihrer Gesundheit nicht mehr ausüben, vor allem weil sie die notwendigerweise wiederkehrend zu verrichtenden körperlichen mittelschweren und schweren Arbeiten nicht mehr ausführen kann. Trotz der eingeschränkten Leistungsfähigkeit kommen für sie aber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch Tätigkeiten wie beispielsweise die einer Garderobierin, Aufseherin, Botengängerin oder Kontrollorin in der Elektro- oder Elektronikindustrie und im Warenversandhandel in Betracht. Für diese Verweisungstätigkeiten gibt es eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen auf dem österreichischen Arbeitsmarkt.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, daß die Klägerin nicht erwerbsunfähig iS des § 124 Abs 1 BSVG sei, wenngleich sie nicht mehr als Landwirtin tätig sein könne. Sie sei im Rahmen des festgestellten medizinischen Leistungskalküls auf die oben genannten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen der gerügten Verfahrensmängel und hielt auch die Rechtsrüge für unberechtigt. § 124 Abs 1 BSVG ordne die Verweisung der in der land- und forstwirtschaftlich selbständig erwerbstätigen Versicherten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt an. Welche sozialen Gründe einer derartigen Verweisung konkret entgegenstünden, werde in der Berufung nicht ausgeführt, abgesehen davon, daß eine solche Verweisungsbeschränkung der Gesetzeslage widerspräche. Die genannte Gesetzesstelle sei auch nicht verfassungsrechtlich bedenklich, weil zwischen unselbständig und selbständig erwerbstätig Versicherten in der Ausübung ihrer versicherungspflichtigen Beschäftigung solche Unterschiede bestünden, daß keine gleichartigen Sachverhalte vorlägen, die gleich beurteilt werden müßten.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die auf die Revisionsgründe der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung dahin, daß ihr die Erwerbsunfähigkeitspension gewährt werde, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt in ihrer Revisions- beantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Unter dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wiederholt die Klägerin im wesentlichen ihre bereits in der Berufung geltend gemachte Mängelrüge, insbesondere in die Richtung, daß die erstatteten medizinischen Gutachten unzureichend und in der mündlichen Verhandlung erster Instanz nicht erörtert worden seien; das Erstgericht habe auch seine Anleitungspflicht in der Weise verletzt, daß es die Klägerin nicht angeleitet habe, den ärztlichen Sachverständigen weitere Fragen betreffend ihren Gesundheitszustand und ihr Leistungskalkül zu stellen.

Rechtliche Beurteilung

Das Berufungsgericht hat sich mit den die Erstellung des medizinischen Leistungskalküls betreffenden Verfahrensrügen der Klägerin eingehend auseinandergesetzt und ist zum Ergebnis gekommen, daß die behaupteten Mängel nicht vorliegen. Nach ständiger Rechtsprechung (SSV-NF 1/32 = SZ 60/197 uva) können aber auch in Sozialrechtssachen Mängel des Verfahrens erster Instanz, die das Berufungsgericht nicht für gegeben erachtete, nicht mehr mit Revision geltend gemacht werden; dies gilt übrigens auch für Verfahrensmängel erster Instanz, die in der Berufung nicht gerügt wurden (SSV-NF 1/68, 5/120 ua). Eigentliche Mängel des Berufungsverfahrens werden aber in der Revision nicht aufgezeigt.

Unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechlichen Beurteilung der Sache führt die Klägerin aus, sie sei nicht als Garderobierin, Aufseherin, Botengängerin oder Kontrollorin verweisbar, weil nach ständiger Rechtsprechung eine Überschreitung des bisherigen Wirtschaftsrahmens bei der Verweisung nicht stattfinden dürfe; eine Verweisung einer selbständigen Landwirtin in eine unselbständige Erwerbstätigkeit der genannten Art sei auf Grund der Überschreitung des bisherigen Wirtschaftsrahmens unzulässig. Die Verweisung würde auch wegen des unzumutbaren sozialen Abstieges nicht in Betracht kommen.

Diesen Ausführungen ist nicht zu folgen. Gemäß § 124 Abs 1 BSVG gilt als erwerbsunfähig der (die) Versicherte, der (die) infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte dauernd außerstande ist, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen. Wie der Oberste Gerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, ist der Begriff der Erwerbsunfähigkeit nach dieser Gesetzesstelle an strengere Voraussetzungen geknüpft als die Begriffe der Invalidität und der Berufsunfähigkeit nach dem ASVG. Erwerbsunfähigkeit liegt nämlich erst bei gänzlicher Unfähigkeit zu einem regelmäßigen Erwerb vor; der (die) Versicherte muß sich auf jede wie immer geartete selbständige oder unselbständige Tätigkeit verweisen lassen. Das Verweisungsfeld ist also mit dem gesamten Arbeitsmarkt identisch; eine Einschränkung, daß die Verweisungstätigkeiten im Hinblick auf die bisher ausgeübten Tätigkeiten zumutbar sein müssen, besteht nicht (SVSlg 39.110 = ARD 4326/21/91; 10 Ob S 86/92; 10 Ob S 300/92; SSV-NF 4/81 zur ähnlichen Bestimmung des § 133 Abs 1 GSVG). Die in der Revision zitierte Entscheidung SSV-NF 3/42 betrifft den Begriff der Erwerbsunfähigkeit nach § 124 Abs 2 BSVG aF (nunmehr § 122 c BSVG) und setzt die Vollendung des 55. Lebensjahres voraus. Die Klägerin wird das 55. Lebensjahr aber erst mit Stichtag 1.7.1994 vollendet haben. Da die analoge Heranziehung betreffend der Entscheidungen zur Berufsunfähigkeit gemäß § 273 ASVG aus dem oben genannten Grund verfehlt ist, kann auch der Hinweis auf die Entscheidung SSV-NF 6/135 (betreffend die Pensionsversicherung der Angestellten) nicht zielführend sein. Die Vorinstanzen haben zutreffend erkannt, daß die Klägerin zu einem regelmäßigen Erwerb noch nicht gänzlich unfähig ist, so daß die Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitspension nach § 124 Abs 1 BSVG derzeit nicht vorliegen.

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch an die unterlegene Klägerin nach Billigkeit wurden nicht dargetan und sind nach der Aktenlage auch nicht ersichtlich.

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