Spruch:
Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, und es werden
1. der Wahrspruch der Geschworenen (der im übrigen unberührt bleibt) zur Hauptfrage 1.A./ und demgemäß
2. der Schuldspruch wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB sowie
3. der Strafausspruch (einschließlich des Ausspruches über die Vorhaftanrechnung) aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu nochmaliger Verhandlung und Entscheidung an das Geschworenengericht beim Landesgericht für Strafsachen Wien zurückverwiesen.
Mit ihrer Berufung wird die Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Rechtliche Beurteilung
Mit dem auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden angefochtenen Urteil wurde Dusica T***** des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB (A; allein angefochten) und des (unbekämpft gebliebenen) Vergehens des (ergänze: versuchten) Schwangerschaftsabbruches nach §§ 15, 96 Abs. 3 StGB (B) schuldig erkannt.
Die Geschworenen hatten die an sie gestellte anklagekonforme, auf das Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB gerichtete Hauptfrage 1, Punkt A (fortlaufende Zahl 1), ob die Angeklagte schuldig sei, in Wien am 16. Jänner 1992 und im Jänner 1993 jeweils von ihr geborene weibliche Säuglinge (A/1. und 2.) dadurch, daß sie nach deren Geburt die erforderliche Pflege, Hilfsmaßnahmen und Ernährung vorsätzlich unterließ und die Nabelschnur vorsätzlich nicht abtrennte, getötet zu haben, einstimmig bejaht.
Die auf § 345 Abs. 1 Z 5, 6 und 8 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten ist im Recht.
Die Nichtigkeitsbeschwerde strebt insgesamt die Unterstellung des der Angeklagten vorgeworfenen Tötungsdeliktes unter das Verbrechen der Tötung eines Kindes bei der Geburt nach § 79 StGB an. Dazu war in der Hauptverhandlung der Antrag auf Beiziehung eines Sachverständigen aus dem Gebiet der Gynäkologie zum Beweis dafür beantragt worden, daß der Tod der beiden Kinder eintrat, solange die Angeklagte (unter anderem) unter der Einwirkung des Geburtsvorganges gestanden ist (S 437, 438).
Die Verfahrensrüge (Z 5) wendet sich gegen die Abweisung dieses Antrages durch den Schwurgerichtshof mit der Begründung, auf Grund der Verantwortung der Angeklagten und des gesamten Akteninhaltes sowie des daraus ersichtlichen Sachverhaltes stelle sich diese Frage nicht (S 438).
Mit der Ablehnung dieses Beweisantrages wurden Grundsätze des Verfahrens hintangesetzt, deren Beobachtung durch das Wesen eines die Strafverfolgung und die Verteidigung sichernden fairen Verfahrens geboten ist. Das Delikt der Tötung eines Kindes bei der Geburt nach § 79 StGB ist ein privilegierter Fall der vorsätzlichen Tötung. Die Privilegierung ist durch den physischen und psychischen Ausnahmezustand begründet, in dem sich die Mutter durch die Einwirkung des Geburtsaktes befindet und deshalb vermindert zurechnungsfähig ist. Das Gesetz nimmt diesen Ausnahmezustand für die Zeit des Geburtsvorganges selbst sowie für die Zeit nach der Geburt an, solange die Täterin "noch unter Einwirkung des Geburtsvorganges steht". Daß die Schwangere die Tötung des Neugeborenen schon vor dessen Geburt geplant und vorbereitet hat, steht der Annahme einer geburtsbedingten Ausnahmesituation und damit der Anwendbarkeit des § 79 StGB während dieser Phase nicht entgegen. Für jene Phase, in der sich die Mutter bereits nach der Geburt noch unter Einwirkung des Geburtsvorganges befindet, kann sich ein Unterschied allenfalls daraus ergeben, daß der vorgefaßte Vorsatz bzw die Handlungsbereitschaft die im Einzelfall festzustellende Verminderung der Zurechnungsfähigkeit nach der Geburt unter Umständen zu verkürzen oder zurückzudrängen vermag. Ob dieser geburtsbedingt beeinträchtigte Zustand der Mutter zur Tatzeit noch bestanden hat, kann in der Regel nur nach Beiziehung eines Sachverständigen geklärt werden (Leukauf-Steininger, Komm3, RN 1 und 6; Moos in WK, Rz 30 bis 32; Kienapfel, BT3, Rz 23 bis 25, alle zu § 79 StGB; SSt 53/59).
Der in der Hauptverhandlung gehörte klinisch-psychologische Sachverständige Univ.Prof. Dr.Q***** erklärte auf die vom Verteidiger gestellte Frage, wie lange im Sinne des § 79 StGB die Periode (gemeint Phase) der Einwirkung des Geburtsvorganges gewesen wäre, dies aus der Sicht seines Fachgebietes nicht beantworten zu können, dazu müsse ein Gynäkologe befragt werden (S 431). Der gerichtsmedizinische Sachverständige Univ.Prof. Dr.B***** wiederum konnte sich in seinem Gutachten nur auf die Dauer des Geburtsvorganges selbst beziehen (S 434). Den Geschworenen stand somit zur Beurteilung der Frage, ob die Angeklagte unter der Einwirkung des Geburtsvorganges gestanden war, als sie die beiden von ihr Neugeborenen tötete, keine Grundlage zur Verfügung. Die Ablehnung des darauf zielenden Antrages hat somit Verteidigungsrechte des Angeklagten im Sinne der Hintansetzung von Grundsätzen einer fairen Verfahrensführung in einer dessen Nichtigkeit bewirkenden Weise verletzt.
Die Beantwortung dieser Frage war nämlich, wie die Beschwerde ebenso zutreffend unter dem Gesichtspunkt der Fragestellungsrüge (Z 6) releviert, im Sinn des § 314 Abs. 1 StPO indiziert. Der Verteidiger hatte in der Hauptverhandlung die Stellung einer Eventualfrage in Richtung des § 79 StGB beantragt. Dies war vom Schwurgerichtshof mit der Begründung abgelehnt worden, eine solche Frage sei weder durch das (bisherige) Beweisverfahren noch durch die Verantwortung der Angeklagten indiziert (S 439).
Bei der Beurteilung, ob entsprechende Schuldfragen (Eventualfragen) an die Geschworenen zu stellen sind, hat der Schwurgerichtshof zu prüfen, ob eine für die Unterstellung der Tat unter ein weniger strenges Strafgesetz - hier § 79 StGB - unmittelbar maßgebende Tatsache im Sinn des § 314 Abs. 1 StPO "vorgebracht", also in der Hauptverhandlung geradezu (konkret) behauptet wird oder aber sich doch aus den darin vorgeführten Beweismitteln jedenfalls mittelbar ergibt (ÖJZ-LSK 1978/138; EvBl 1980/222; 14 Os 75/89-9).
Die Angeklagte hatte sich in der Hauptverhandlung zu beiden Geburtsvorgängen damit verantwortet, ihr sei danach "schwer zumute" gewesen, sie habe sich benommen gefühlt (S 425, 426, 430). Die zum ersten Geburtsvorgang und dessen Folgen vernommene Zeugin Vera T***** deponierte, sie habe die Angeklagte damals liegend angetroffen, diese wäre ganz gelb im Gesicht gewesen; die Zeugin habe das Gefühl gehabt, daß die Angeklagte nicht bei Sinnen gewesen sei, sie habe nur ganz kurz die Augen geöffnet und dann wieder zugemacht, dies wäre etwa zwei Stunden nach der Geburt gewesen (S 434, 435). Die zu diesen Phasen des zweiten inkriminierten Geburtsvorganges vernommene Zeugin Violetta T***** gab in der Hauptverhandlung an, die Angeklagte wäre nach der Geburt in keinem guten Zustand und bewußtlos gewesen und erst nach einer Stunde wach geworden; sie habe versucht, die Angeklagte aufzuwecken, ihr ein Glas Wasser gegeben, worauf diese kurz wach wurde. Die Zeugin habe ihr dann das Gesicht mit Wasser abgewaschen (S 435 bis 437).
Damit wurden in der Hauptverhandlung Tatsachen vorgebracht, nach denen die Angeklagte bei der Verübung der beiden ihr vorgeworfenen Tötungsdelike noch unter der Einwirkung des Geburtsvorganges gestanden sein kann, weswegen gemäß der Vorschrift des § 314 Abs. 1 StPO eine Eventualfrage nach dem Verbrechen der Tötung eines Kindes bei der Geburt nach § 79 StGB zu stellen gewesen wäre.
Daß der klinisch-psychologische Sachverständige aus der Sicht seines Fachgebietes keinen Anhaltspunkt für eine tiefer greifende Bewußtseinsstörung zu den Tatzeiten finden konnte (S 432), steht der Annahme des vom Gesetz zur Anwendung des § 79 StGB geforderten physischen und psychischen Ausnahmezustands als Folge des Geburtsvorganges nicht entgegen, zumal er selbst die Phase des Geburtsvorganges zeitlich nicht begrenzen konnte und auf das Fachgebiet der Gynäkologie verwiesen hat, und eine verminderte Zurechnungsfähigkeit einer tiefer greifenden Bewußtseinsstörung nicht gleich ist.
Im Hinblick auf die somit erforderliche (§ 349 Abs. 1 StPO) teilweise Aufhebung des Wahrspruches der Geschworenen (zur Hauptfrage 1. Punkt A) und des darauf beruhenden, wenn auch - ungerügt - in den Urteilsspruch nicht mit der Beschreibung der Tat und der notwendigen Unterstellung unter das Gesetz (§ 260 Z 1 und 2 StPO) aufgenommenen (s Mayerhofer-Rieder, StPO3, § 260 ENr 90), jedoch mit der Anführung der angelasteten Delikte (hier aktuell Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB) bezeichneten Schuldspruchs, erübrigt sich ein Eingehen auf das weitere Beschwerdevorbringen (§ 345 Abs. 1 Z 8 StPO).
Der Nichtigkeitsbeschwerde war daher Folge zu geben, der angefochtene Wahrspruch der Geschworenen sowie das darauf beruhende Urteil aufzuheben und dem Geschworenengericht die Verfahrenserneuerung im dargestellten Sinn aufzutragen.
Mit ihrer Berufung war die Angeklagte auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.
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