OGH 10ObS46/94

OGH10ObS46/9428.2.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Edeltraud Haselmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Alfred Klair (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rudolf E*****, ohne Beschäftigung, *****, vertreten durch Dr. Heribert Schar, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Weitergewährung einer befristeten Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 12. Oktober 1993, GZ 5 Rs 79/93-29, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 11. Mai 1993, GZ 44 Cgs 51/92-24, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Revisionskosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 20.1.1943 geborene Kläger hat den Beruf des Malers und Anstreichers gelernt. Er leidet unter anderem an Verspannungen und Bewegungseinschränkungen, einem Zustand nach einem Unterschenkelbruch, nach einem Fersenbeinbruch sowie an Abnützungen insbesondere im Wirbelsäulenbereich. Nach dem im einzelnen näher festgestellten Leistungskalkül kann er noch leichte und bis zur Hälfte mittelschwere Arbeiten im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen, vorwiegend in geschlossenen Räumen, gelegentlich aber auch im Freien ohne längere als die üblichen Unterbrechungen verrichten. Häufiges Heben und Tragen von Gegenständen über 20 Kilogramm, häufiges Bücken und Treppensteigen, Arbeiten in ständig gebückter Haltung, Nässe- und Zugluftexposition sollten möglichst vermieden werden. Der Arbeitshaltungswechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen ist unregelmäßig durchzuführen; nach etwa 30 Minuten muß ein - wenn auch nur kurzfristiger - Haltungswechsel zur Vermeidung von Zwangshaltung möglich sein. Dann kann der Kläger wieder die vorhergehende Arbeitshaltung einnehmen. Die einzelnen Haltungen müssen daher nicht rhytmisch wechseln.

Mit Bescheid der beklagten Pensionsver- sicherungsanstalt der Arbeiter vom 15.1.1992 wurde der Antrag des Klägers auf Weitergewährung der ihm zuerkannten, bis 31.12.1990 befristeten Invaliditätspension abgelehnt, weil der Kläger nach dem Ergebnis der neuerlichen Begutachtung nicht mehr invalid sei.

Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren statt und erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger die Invaliditätspension auch über den 31.12.1990 hinaus weiter zu gewähren. Es gelangte zum Ergebnis, daß der Kläger aus orthopädischer Sicht die Tätigkeit eines Lackierers ausüben könne, nicht jedoch die Tätigkeit eines Malers und Anstreichers, mit der oftmalige Zwangshaltungen wie Überkopf-Arbeiten verbunden seien. Auch die Schmutzbeeinträchtigung und die Zugluftexposition würden gegen die Durchführung von Maler- und Anstreicherarbeiten sprechen. Artverwandte Einsätze etwa bei Bodenmarkierungsarbeiten könne der Kläger wegen der erforderlichen gebückten Haltung und weil diese ausschließlich unter freiem Himmel zu erledigen seien nicht mehr ausführen. Eine Verwendung des Klägers als qualifizierter Lackierer im Rahmen der industriellen Spritz- und Tauchlackierung stünde aber nichts entgegen. Diese Tätigkeit erfahre derzeit auch eine entsprechende Bewertung. Der erforderliche Haltungswechsel lasse sich bewältigen, die sitzenden Arbeitsanteile seien gering. Auch Vorbeugen und Bücken falle nicht häufig an. Ein solcher Lackierer sei auch weder direkt der Nässe noch der Zugluft ausgesetzt; Lasten unter 20 Kilogramm seien zu bewältigen. Spritzlackierer und Tauchbadlackierer übten Teiltätigkeiten eines gelernten Malers und Anstreichers aus. Die diesbezüglichen Arbeitseinsätze in der Serienproduktion bedürften regelmäßig nur einer zwei- bis vierwöchigen Anlernzeit. Der Arbeitsauftrag des Lackierers enthalte Arbeiten mit der Spritzpistole, die im Rahmen des Gesamtarbeitsaufwandes eines Malers und Anstreichers jedoch nur mit etwa 10 % angegeben würden.

Rechtlich folgerte das Erstgericht, daß der Kläger zwar Berufsschutz als Maler und Anstreicher genieße, doch auf die weniger qualifizierte Teiltätigkeit eines Spritzlackierers verwiesen werden könne, wodurch die Berufsqualifikation nicht verloren ginge. Bei diesem Beruf habe der Kläger die im erlernten Beruf erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten voll einzusetzen. Ungeachtet dieser Überlegungen sei es aber für keinen Dienstgeber mehr zumutbar, den Kläger zu beschäftigen, er sei daher invalid.

Das Berufungsgericht änderte infolge Berufung der Beklagten dieses Urteil im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens ab. Es sei nicht nachvollziehbar, warum es für keinen Dienstgeber mehr zumutbar sein solle, den Kläger zu beschäftigen, der eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete Teiltätigkeit seines erlernten Berufes noch ausüben könne. Ein gelernter Maler und Anstreicher könne nämlich auf die Tätigkeiten eines Möbellackierers und Möbelanstreichers sowie auf Imprägnierungsarbeiten und die Durchführung von Lackanstrichen in der industriellen Fertigung verwiesen werden (SSV-NF 6/88). Dies schließe nach den Feststellungen die Verweisbarkeit auf qualifizierte Lackiererarbeiten in der industriellen Produktion ein. Damit sei der Berufsschutz genießende Kläger aber nicht invalid.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision des Klägers aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache. Er beantragt dieses Urteil dahin abzuändern, daß der Klage stattgegeben werde, hilfsweise es aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes, daß ein gelernter oder angelernter Maler und Anstreicher auf die Tätigkeit eines Möbellackierers oder Möbelanstreichers sowie auf Imprägnierungsarbeiten und die Durchführung von Lackanstrichen in der industriellen Erzeugung von Fenstern und Türen verwiesen werden kann, ist zutreffend und entspricht der Judikatur des Obersten Gerichtshofs (SSV-NF 6/88). In einem anderen Zusammenhang wurde ausgesprochen, daß ein Versicherter, der alle Tätigkeiten des Lackierers im Sinne der Ausbildungsvorschriften BGBl. 1987/240 mit Ausnahme der Technik des Tauchens und Flutens, des Imprägnierens und Neutralisierens sowie einfacher Isolierarbeiten verrichtet, einen angelernten Beruf iS des § 255 Abs 2 ASVG ausübt (SSV-NF 5/122). Ein Spritzlackierer, dessen Haupttätigkeit in der Durchführung von Lackierungen mit der Spritzpistole besteht, übt allerdings keinen angelernten Beruf aus (SSV-NF 5/20), doch ging es in diesem Fall darum, ob der Kläger einen angelernten Beruf ausgeübt habe und nicht, ob er durch Teiltätigkeiten eines erlernten Berufes den Berufsschutz behalte. Nach den erstgerichtlichen Feststellungen stünde einer Verwendung des Klägers als qualifizierter Lackierer im Rahmen industrieller Spritz- und Tauchlackierungen nichts entgegen.

Dennoch kommt der Revision im Ergebnis Berechtigung zu. Unter dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens (§ 503 Z 2 ZPO) bekämpft der Kläger nämlich die vom Erstgericht in bezug auf sein Leistungskalkül und die Anforderungen in den Verweisungstätigkeiten getroffenen Feststellungen. Es sei nicht darauf eingegangen worden, daß auch bei der Tätigkeit des Lackierers ein Heben und Tragen mehrerer Lasten von 15 bis 20 Kilogramm sowie öfteres Vorbeugen nicht umgangen werden könne, der Kläger aber gerade solche Tätigkeiten nicht bewältigen könne. Auch sei nicht berücksichtigt worden, daß für die Ausübung der Lackierertätigkeit Hand- und Fingergeschick unabdingbare Voraussetzungen seien; sowohl nach den Angaben des Klägers als auch nach den ärztlichen Gutachten sei sein Handgriff rechts gegenüber links herabgesetzt. Dabei sei zu beachten, daß er Rechtshänder sei und bei der eingeschränkten Beweglichkeit und Geschicklichkeit gerade der rechten Hand nicht ohne weiteres die an einen Lackierer gestellten Anforderungen bewältigen könne. Die Arbeit des Lackierers werde auch zum überwiegenden Teil im Stehen verrichtet, insofern sei das dem Ersturteil zugrunde gelegte berufskundliche Gutachten nicht schlüssig. An die Tätigkeit eines Lackierers würden Anforderungen gestellt, die der Kläger auf Grund seines Gesundheitszustandes nicht erbringen könne. Wenn das Berufungsgericht Zweifel an der Richtigkeit der abschließenden Beurteilung durch das Erstgericht hatte, weil Feststellungen dazu fehlten, daß es keinem Arbeitgeber zuzumuten sei, den Kläger einzustellen, so hätte das Berufungsgericht nicht ohne vorherige Beweisergänzung durch Einvernahme des Klägers und durch ein weiteres Gutachten in der Sache selbst entscheiden dürfen.

Wenngleich der Oberste Gerichtshof nicht Tatsacheninstanz ist und eine Bekämpfung der Tatsachenfeststellungen mit Revision im allgemeinen scheitern muß, stand es dem Kläger im vorliegenden Fall offen, die für ihn ungünstigen Feststellungen betreffend sein Leistungskalkül und die Anforderungen im Verweisungsberuf erst in der Revision zu bekämpfen bzw Mängel des zur Gewinnung dieser Feststellungen durchgeführten Verfahrens erst in der Revision geltend zu machen. Als in erster Instanz siegreiche Partei war er nämlich nicht gezwungen, im Verfahren über die Berufung der Beklagten eine Stellungnahme zu dem von der Beklagten angefochtenen Urteil selbst abzugeben, er war insbesondere nicht verpflichtet, seinerseits ausdrücklich die ihm nachteiligen Feststellungen des Erstgerichtes zu bekämpfen; nach herrschender Lehre und Rechtsprechung konnte er dies in der Revision nachholen, weil sich erst das Berufungsgericht infolge abweichender rechtlicher Beurteilung auf die ihm nachteiligen Feststellungen stützte. Daran hat auch die Umbenennung der früheren Berufungsmitteilung in Berufungsbeantwortung nichts geändert. Die Bekämpfung setzt allerdings voraus, daß die Feststellung für die rechtliche Beurteilung relevant ist und das Berufungsgericht nicht ausgesprochen hat, daß es der Beweiswürdigung des Erstgerichtes jedenfalls beitrete. Eine solche Mängel- oder Beweisrüge führt zur Aufhebung des Berufungsurteiles wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens. Dies gilt jedenfalls im Rahmen einer Vollrevision in Sozialrechtssachen (SSV-NF 7/31 mwN; zuletzt 10 Ob S 11/94).

Da sich das Berufungsgericht mit Tatsachenfeststellungen, die nach den vorstehenden Ausführungen für die Entscheidung wesentlich sind und die in der Revision zulässigerweise bekämpft wurden, nicht auseinandergesetzt hat, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung (nach allfälliger mündlicher Berufungsverhandlung) an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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