Spruch:
Durch den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien vom 17.November 1993, AZ 21 Bs 365/93 (= ON 62) wurden Andreas B*****, Ing.Helmut W*****, Werner W***** und Harald G***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Dieser Beschluß wird aufgehoben.
Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von je 8.000 S, zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer, an die Beschwerdeführer auferlegt.
Text
Gründe:
Rechtliche Beurteilung
Gegen Andreas B*****, Ing.Helmut W*****, Werner W***** und Harald G***** (sowie zwei weitere Mitbeschuldigte) wird beim Landesgericht St.Pölten ein Strafverfahren wegen des Verdachtes des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Betruges nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 erster Fall StGB geführt. Ihnen wird angelastet, im Rahmen einer zu diesem Zweck gegründeten Gesellschaft mbH (Financial System International - FSI) einer großen Anzahl von Personen insgesamt ca. 4,300.000 S als Einsatz für ein kettenbriefartiges Gewinnspiel betrügerisch herausgelockt zu haben.
Über die Beschuldigten wurde am 14.Oktober 1993 aus den Haftgründen der Flucht-, Verdunkelungs- und Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 1, 2 und 3 lit a und b StPO die Untersuchungshaft verhängt, von der Ratskammer in der Haftprüfungsverhandlung vom 27.Oktober 1993 jedoch unter Verneinung sämtlicher Haftgründe, aber - und insoweit ohne gesetzliche Grundlage (§ 180 Abs 4; EvBl 1974/178) - gegen gelindere Mittel wieder aufgehoben (ON 44).
Der dagegen von der Staatsanwaltschaft erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluß vom 27.November 1993 Folge und ordnete mit einer für alle Beschuldigten gleichlautenden Begründung die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus den erwähnten Haftgründen an (ON 62).
Dagegen richten sich nunmehr die von Andreas B***** und Harald G***** gesondert, von Ing.Helmut und Werner W***** in einem gemeinsamen Schriftsatz ausgeführten Grundrechtsbeschwerden, mit denen - ohne Bestreitung des dringenden Tatverdachtes - die Annahme der Haftgründe durch das Oberlandesgericht bekämpft wird.
Die Grundrechtsbeschwerden sind berechtigt.
Zur Fluchtgefahr:
Die vom Oberlandesgericht zu deren Bejahung herangezogenen bestimmten Tatsachen, es sei ein Teil des erbeuteten Geldes bereits ins Ausland transferiert und von den Beschuldigten geäußert worden, "sie würden sich absetzen", sind in dieser Form durch die Aktenlage nicht gedeckt und vermögen daher die daraus gezogenen Schlußfolgerungen nicht zu tragen.
Der von Ing.Helmut W***** nach den Erhebungsergebnissen ohne Wissen der Mitbeschuldigten nach Deutschland überwiesene Betrag von ca. 445.000 S (S 145) diente nach seinen unwiderlegten Angaben der Finanzierung eines Spekulationsgeschäftes, zu dem er sich durch die Zusicherung einer innerhalb von 30 Tagen zu lukrierenden Rendite von 60 % bereit gefunden hatte, ging jedoch zur Gänze verloren (S 115, 145, 170 f, 319, 339/I, ON 49 S 10). Als Finanzierungskapital (und damit als Indiz) für ein allfälliges Fluchtvorhaben des Beschuldigten Ing.Helmut W*****, geschweige denn der übrigen Beschwerdeführer, scheidet dieser Transfer demnach aus.
Die vom Oberlandesgericht allen Beschuldigten gleichermaßen zugeschriebene Äußerung hinwieder "sie würden sich absetzen", beruht wohl auf der Information eines der Geschädigten, wurde aber darnach nur von Harald G*****, und zwar schon Monate vor dessen Verhaftung einem Dritten gegenüber abgegeben. Sie bezog sich also auf G***** allein (S 17, 313/I) und wurde zudem nicht verifiziert (S 200, 313). Die Annahme, die Beschuldigten B*****, Ing.Helmut und Werner W***** würden sich einer Strafverfolgung durch Flucht entziehen, kann daher auf diese Aussage jedenfalls nicht gestützt werden. Sie stellt aber auch in Ansehung des Beschuldigten G***** - weder isoliert betrachtet noch im Zusammenhang mit den übrigen bei Prüfung der Fluchtgefahr zu beachtenden Kriterien - keine bestimmte Tatsache dar, die die Prognose des Oberlandesgerichtes rechtfertigen könnte. Steht dem doch - trotz des hohen Schuldenstandes dieses Beschuldigten - sein fester Wohnsitz im Inland, sein Bemühen um Schadensbegrenzung (S 327, 325, 339/I; ON 49 S 10), die Beendigung der inkriminierten Werbetätigkeit spätestens im Frühjahr 1993 (S 323, 329) und seine bisherige Unbescholtenheit entgegen. Da auch die übrigen Beschuldigten sozial integriert und unbescholten sind, keine Fluchtvorbereitungen getroffen haben und auch sonst den Akten keine Anhaltspunkte für das Bestehen von Fluchtgefahr entnommen werden können, ist dieser Haftgrund bei allen Beschwerdeführern zu verneinen.
Zur Verdunkelungsgefahr:
Zu Recht remonstrieren die Beschuldigten auch gegen diesen Haftgrund, waren doch nach dem Bericht der Sicherheitsbehörde vom 3.November 1993 (ON 49) die Ermittlungen weitgehend abgeschlossen (ON 49, S 4) und es lagen zum Zeitpunkt der Haftentscheidung jedenfalls auch keine bestimmten Tatsachen vor, die die Annahme gerechtfertigt hätten, die Beschwerdeführer könnten noch nicht vernommene Geschädigte in einer die Ermittlung der Wahrheit erschwerenden Weise beeinflussen. Angesichts der Tatsache aber, daß alle relevanten Unterlagen beschlagnahmt sind, bietet sich für die Erwägung des Oberlandesgerichtes, die Beschuldigten könnten bis dato nicht aufgefundene Gelder auf unbekannte Konten überweisen und solcherart eine vollständige Aufklärung des Sachverhaltes vereiteln, keine Handhabe. Daß hiedurch eine Rückzahlung betrügerisch herausgelockter Gelder an Geschädigte, also die Schadensgutmachung gefährdet werden könnte, vermag den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr gleichfalls nicht herzustellen.
Zur Tatbegehungsgefahr:
Diesen Haftgrund stützt das Oberlandesgericht auf die wiederholte und fortgesetzte Tatbegehung, insbesondere aber darauf, daß bei Hausdurchsuchungen 600 weitere Spielverträge aufgefunden wurden.
Auch in diesem Punkte ist den Beschwerdeeinwänden Recht zu geben. Abgesehen davon, daß beim Abschluß dieser Verträge - neben einem nicht in Haft befindlichen Mitbeschuldigten - nur Ing.Helmut W***** beteiligt war, betreffen diese Unterlagen die Firma Computer Systemverwaltungsgesellschaft mbH (CSV), mithin jene (andere) Gesellschaft, die ein gleichartiges Gewinnspiel organisiert hatte, wie es später die Beschuldigten unternahmen, bei der aber Werner W***** überhaupt nicht und die übrigen Beschuldigten Andreas B***** und Ing.Helmut W***** nur in völlig untergeordneter Stellung tätig waren, indem sie als sogenannte "Systemberater" auf Provisionsbasis um Mitspieler warben. Lediglich Harald G***** war vorübergehend Gesellschafter dieses Unternehmens, scheint aber in der Gesellschafterliste spätestens ab April 1992 nicht mehr auf und hat für diese Organisation seither auch keine Aktivitäten mehr entfaltet. Gleiches gilt für die übrigen Mitbeschuldigten, die ihre Tätigkeit für diese Gesellschaft eben deshalb eingestellt hatten, um über eine eigene Gesellschaft, nämlich die Firma Financial System International GesmbH (FSI), größere "Gewinne" erzielen zu können.
Die vom Oberlandesgericht ins Treffen geführten Beweggründe reichen daher für die Annahme der Tatbegehungsgefahr nicht hin.
Aber auch sonst sind bestimmte Tatsachen, die diesen Haftgrund stützen könnten, den Akten nicht zu entnehmen. Der Umstand, daß die Beschuldigten einer Vielzahl von Betrugshandlungen gegenüber einer großen Zahl von Personen mit einem hohen Schadensbetrag verdächtig sind, wird dadurch aufgewogen, daß sich die Verhältnisse, unter denen die betrügerische Anwerbung von Mitspielern nach der Verdachtslage stattgefunden hat, entscheidend geändert haben (§ 180 Abs 3 letzter Satz StPO). Dazu kommt, daß die Beschuldigten bisher unbescholten sind, die ihnen angelasteten Delikte nur während eines kurzen Zeitraumes begangen haben sollen, und sie sich nach dem Erkennen des Scheiterns ihres ursprünglichen, auf die Erzielung weit höherer "Gewinne" gerichteten Vorhabens weiterer Tathandlungen schon Monate vor ihrer Verhaftung von sich aus enthalten haben. Die Gefahr einer Begehung von ähnliche Betrügereien, zudem unter dem Eindruck des anhängigen Strafverfahrens und der bisher erlittenen Haft, konnte daher weder nach § 180 Abs 2 Z 3 lit a StPO noch in der Spielart der lit b schlüssig bejaht werden.
Infolge unrichtiger Beurteilung der Haftgründe verletzt die Entscheidung des Oberlandesgerichtes die Beschwerdeführer im Grundrecht auf persönliche Freiheit (§ 2 Abs 1 GRBG).
Die Gerichte sind nunmehr verpflichtet, mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Obersten Gerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen (§ 7 Abs 2 GRBG). Dabei ist zu beachten, daß die von der Ratskammer angeordneten gelinderen Mittel das Bestehen eines Haftgrundes vorausgesetzt hätten (EvBl 1974/178), deren Anwendung daher nunmehr außer Betracht zu bleiben hat.
Die Kostenentscheidung basiert dem Grunde nach auf § 8 GRBG, der Höhe nach auf der Verordnung des Bundesministeriums für Justiz, BGBl 35/93. Dazu bleibt zu bemerken, daß dem Bund der Beschwerdekostenersatz auch an die Beschwerdeführer Ing.Helmut W***** und Werner W***** ungeachtet des Umstandes, daß sie ihre Beschwerden von einem gemeinsamen Verteidiger (in einem Schriftsatz) ausgeführt haben, im vollen Umfang aufzuerlegen war. Nach dem Grundrechtsbeschwerdegesetz kommt es nicht darauf an, ob und zu welcher Höhe dem Beschwerdeführer tatsächlich für seine rechtsfreundliche Vertretung im Grundrechtsbeschwerdeverfahren Rechtsanwaltskosten erwachsen (vgl Graff in RZ 1993, 271 im Zusammenhang mit der Kostenfrage bei Verfahrenshilfe). Es sind daher bei der Kostenauferlegung nach § 8 GRBG auch keine Überlegungen dahin anzustellen, ob der Honoraranspruch des Verteidigers gegen mehrere Beschwerdeführer etwa deshalb eine Veränderung erfährt, weil er sie gleichzeitig vertritt.
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