OGH 8Ob596/93

OGH8Ob596/9330.11.1993

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Edgar Huber als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Peter Schiemer, Dr. Birgit Jelinek, Dr.Ronald Rohrer und Dr. Ilse Huber in der Pflegschaftssache des ***** mj. M***** W*****, ***** vertreten durch seine Mutter S***** Z*****, ***** ***** infolge Revisionsrekurses des Minderjährigen gegen den Beschluß des Landesgerichtes St. Pölten als Rekursgerichtes vom 28. April 1993, GZ R 282/93-72, womit infolge Rekurses des Minderjährigen der Beschluß des Bezirksgerichtes Lilienfeld vom 7.April 1993, GZ P 26/77-69, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß, der in seinem abändernden (stattgebenden) Teil als unangefochten unberührt bleibt, wird im übrigen (also in seinem abweisenden Teil) aufgehoben. In diesem Umfang wird auch die erstgerichtliche Entscheidung aufgehoben und die Rechtssache an dieses zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Beschlußfassung zurückverwiesen.

Text

Begründung

Der Minderjährige ist seit 15.August 1990 Koch- und Kellnerlehrling; er hat eine dreijährige Lehrzeit zu absolvieren, soll also die Lehre mit 14.August 1993 beenden.

Mit Wirkung vom 1.Oktober 1990 wurde auf Antrag des Vaters der Unterhalt für den Minderjährigen im Einvernehmen mit seiner Mutter und gesetzlichen Vertreterin von S 2.600 auf S 1.000 herabgestezt. Mit Wirkung vom 1.Oktober 1991 wurde der Vater im Einverständnis mit der Mutter von seiner Unterhaltsverpflichtung in Anbetracht der vom Minderjährigen bezogenen Lehrlingsentschädigung zur Gänze enthoben.

Mit Antrag vom 17.Februar 1993 begehrt die Mutter namens des Minderjährigen, vom Vater rückwirkend für das zweite Lehrjahr einen Unterhaltsbeitrag von S 2.000 und für das dritte Lehrjahr von S 1.500; sie begründet dies mit der ihr bisher unbekannt gebliebenen neuen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Lehrlingsentschädigung, wonach diese auf den vom Vater geschuldeten Geldunterhalt nur zur Hälfte anzurechnen sei, woraus sich unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Höhe der Lehrlingsentschädigung im zweiten und dritten Lehrjahr der begehrte Betrag ergebe.

Das Erstgericht wies den Antrag unter Hinweis auf die Rechtskraft der Beschlüsse ab. Allein die Änderung der Rechtsprechung zum Problem der Selbsterhaltungsfähigkeit vermöge eine rückwirkende Unterhaltsfestsetzung nicht herbeizuführen; die Mutter hätte sich gegen die Enthebung von der Unterhaltsverpflichtung bereits damals aussprechen und den Obersten Gerichtshof anrufen können.

Das Rekursgericht sprach dem Minderjährigen in teilweiser Abänderung des angefochtenen Beschlusses für die Zeit vom 1.Oktober 1992 bis 14. August 1993, längstens jedoch bis zum Eintritt der Selbsterhaltungsfähigkeit, monatliche Unterhaltsleistungen von S 1.000 zu und wies das Mehrbegehren ab. In seiner Entscheidungsbegründung führte es aus:

Der Vater sei seinerzeit von seiner Unterhaltsverpflichtung enthoben worden, weil der Unterhalt mit Null bemessen worden sei (§ 140 Abs 3 erster Tatbestand ABGB). Eine geänderte Rechtsprechung könne nicht dem Tatbestand einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse unterstellt werden. Daß sich nach Rechtskraft der Entscheidung die Rechtsauffassung geändert habe, sei für die Wirkung der vorher ergangenen Entscheidungen bedeutungslos; überdies sei diese Änderung damals schon absehbar gewesen. Durch den Herabsetzungs- und nachfolgenden Enthebungsbeschluß sei über den Unterhaltsanspruch abschließend erkannt worden; diese Beschlüsse seien vergleichbar einer Teilabweisung eines erhöhten Unterhaltsbegehrens; einem höheren Unterhaltsbegehren stehe die materielle Rechtskraft (§ 18 AußStrG) entgegen, von der nur wegen einer nachträglichen wesentlichen Änderung der Verhältnisse (= Tatsachen) abgegangen werden könne. Das Rekursgericht vertrete die Auffassung, daß eine Unterhaltserhöhung wegen Bedürfnissteigerung eines Kindes prinzipiell nur stattfinden könne, wenn seit der letzten Unterhaltsfestsetzung rund ein Jahr verstrichen sei. Demnach komme für den Zeitraum vom 1.Oktober 1990 bis 30.September 1991 (großteils identisch mit dem ersten Lehrjahr) infolge Rechtskraft der "abschließenden Herabsetzungsentscheidung" eine rückwirkende Unterhaltserhöhung nicht in Betracht. Gleiches gelte für den unmittelbar darauffolgenden Zeitraum vom 1.Oktober 1991 bis 30.September 1992 (etwa identisch mit dem zweiten Lehrjahr) infolge Rechtskraft des "abschließenden" Enthebungsbeschlusses. Auf Grund des jeweiligen Stichtages der Vorentscheidungen (1.Oktober) könne davon ausgegangen werden, daß die Beteiligten den Wechsel in das jeweils nächste Lehrjahr unterhaltsrechtlich erst ab 1.Oktober wahrnehmen wollten, weshalb diese Vorgangsweise auch für den Wechsel vom zweiten in das dritte Lehrjahr beibehalten werde. Demnach sei erst ab 1.Oktober 1992 eine Unterhaltsneubemessung durchzuführen, wobei dem Minderjährigen in Anwendung der vom verstärkten Senat des Obersten Gerichtshofes entwickelten Grundsätze S 1.000 gebührten.

Den Revisionsrekurs an den Obersten Gerichtshof ließ das Rekursgericht zur Klärung der Frage zu, inwieweit die geänderte Unterhaltsjudikatur zur Lehrlingsentschädigung eine rückwirkende Abänderung bereits rechtskräftiger Unterhaltsbemessungen erlaube und inwieweit die Rechtskraft einer Unterhaltsherabsetzung (bei unveränderten Verhältnissen) einer rückwirkenden Unterhaltserhöhung entgegenstehe.

Der Vater ließ den rekursgerichtlichen Zuspruch unangefochten.

Die Mutter bekämpft den Beschluß namens des Minderjährigen im Umfang der Abweisung und beantragt, ihn im Sinne einer vollen Antragsstattgebung abzuändern. Sie macht im wesentlichen geltend, daß ihr damals, als sie sich nach Belehrung durch das Erstgericht mit der Herabsetzung bzw. dem Entfall des Unterhalts für den Minderjährigen einverstanden erklärte, die gerade geänderte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Lehrlingsentschädigung nicht bekannt gewesen sei. Da nunmehr auch Unterhalt für die Vergangenheit begehrt werden könne, gebühre dem Minderjährigen rückwirkend der begehrte Unterhalt; daran ändere auch die vom Rekursgericht vertretene Ansicht einer dies hindernden Rechtskraft der Vorentscheidungen nichts, weil man sich durch eine rückwirkende Unterhaltsfestsetzung in jedem Fall über die Rechtskraft der Vorentscheidungen hinwegsetze.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist im Sinne seines Aufhebungsantrages berechtigt.

Auch im Außerstreitverfahren ergehende Beschlüsse, so auch Unterhaltsbemessungsbeschlüsse, sind der Rechtskraft fähig. Grundsätzlich kann eine Neufestsetzung des Unterhalts nur bei geänderter Sachlage (SZ 48/113 uva) oder bei Änderung der dem Unterhaltsanspruch zugrundeliegenden Gesetzesregelungen erfolgen. Es kann sowohl der Unterhaltsberechtigte als auch der Unterhaltsverpflichtete die Änderung des festgesetzten Unterhaltsbeitrages unter Bedachtnahme auf das neue Recht begehren (JBl 1978, 539 uva). Liegt keine Änderung der den Unterhalt regelnden materiellrechtlichen Gesetzesbestimmungen, sondern lediglich eine Änderung der zu dieser Gesetzeslage ergangenen Rechtsprechung vor, dann ist zwar grundsätzlich eine bloß hierauf gestützte neue Unterhaltsbemessung nicht zulässig. Handelt es sich allerdings um eine so tiefgreifende Änderung der bisherigen, den Unterhaltstitel bestimmenden Rechtsprechungsgrundsätze, daß sie in ihrer Tragweite praktisch einer Gesetzesänderung gleichkommt, dann muß dies ebenfalls als eine die materielle Rechtskraft durchbrechende Änderung der Gesetzeslage gewertet werden (8 Ob 663/92). Die Änderung betraf in der genannten Entscheidung die Anwendung der Prozentmethode und führte zu einer Herabsetzung des Unterhalts von S 3.000 auf S 1.950. Eine vergleichbare tiefgreifende Änderung der Rechtsprechung liegt auch hier vor, weil sie - vereinfacht gesagt - dazu führt, daß das anrechenbare Eigeneinkommen des Lehrlings nicht zur Gänze, sondern nur zur Hälfte auf die Unterhaltsverpflichtung des Geldunterhaltspflichtigen angerechnet wird.

Seit der Entscheidung des verstärkten Senates (SZ 63/181) steht fest, daß Unterhaltsansprüche grundsätzlich auch für die Vergangenheit gestellt werden können. Unabhängig davon, ob die seinerzeitige Unterhaltsbemessung durch gerichtlichen Vergleich oder durch gerichtliche Entscheidung erfolgte, darf eine Änderung der Unterhaltsbemessung für die Vergangenheit immer dann erfolgen, wenn wegen Änderung der Verhältnisse (ganz allgemein !) die seinerzeitige Unterhaltsbemessung wegen der ihr innewohnenden Umstandsklausel nicht mehr bindend blieb. Dies gilt sowohl für den rückwirkenden Zuspruch als auch für die rückwirkende Enthebung von der Unterhaltspflicht (EvBl 1990/151 uva). Eine solche Änderung der Verhältnisse kann sich - wie ausgeführt - auch durch eine grundlegende Änderung der Rechtsprechung ergeben. Sie kann grundsätzlich wie jede andere Änderung rückwirkend geltend gemacht werden, soweit nicht die Rechtskraft einer Entscheidung die Abänderung verhindert (zu den Grenzen der Rechtskraft ausführlich ÖA 1992, 57 mwN). Die Rechtskraft des Beschlusses des Erstgerichts vom 1.Oktober 1990, mit dem der Unterhalt auf S 1.000, und vom 1.Oktober 1991, mit dem dieser auf Null herabgesetzt wurde und den das Erstgericht offenbar in Unkenntnis der damals erst jüngst geänderten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes gefaßt hatte, verhindert die Abänderung für einen bis zu dieser Beschlußfassung verstrichenen Zeitraum, weil über diesen Unterhaltsanspruch damals rechtskräftig erkannt wurde - ein derartiger Abänderungsantrag ist wegen dieser Rechtskraft zurückzuweisen (ÖA 1992, 57) -, sie verhindert aber nicht, daß nach Bekanntwerden der für die Unterhaltspflicht des Vaters erheblichen Änderung der Rechtsprechung für die Zeit nach dieser Entscheidung von dieser abgegangen wird; er hindert also eine rückwirkende Neufestsetzung des Unterhalts mit dem der Entscheidung nachfolgenden nächsten Monatsersten (3 Ob 535/92) nicht.

Die Ansicht des Rekursgerichtes, daß erst für die Zeit ab einem Jahr nach der jeweiligen Beschlußfassung rückwirkend Unterhalt begehrt werden könne, die mit der Praxis begründet wird, daß vor diesem Zeitpunkt wegen Bedürfnissteigerung des Kindes prinzipiell keine neue Unterhaltsfestsetzung stattfindet, übersieht, daß es hier nicht um langsam steigende Bedürfnisse des Minderjährigen geht, sondern daß sich die Rechtsprechung grundsätzlich geändert hat und dieser Umstand, soweit und sobald dies wegen der Rechtskraft der vorangegangenen Entscheidung möglich ist, also grundsätzlich für die gesamte nach der Beschlußfassung nachfolgende Zeit (3 Ob 535/92) zu einer Neufestsetzung führen muß, soweit die Ansprüche noch nicht verjährt sind.

Da der Antrag ON 59 undeutlich ist (Antrag auf Unterhaltsneufestsetzung für das zweite bzw. dritte Lehrjahr) und vom Erstgericht und vom Rekursgericht unterschiedlich verstanden wurde (Antrag jeweils mit 15.August oder mit 1.Oktober), und auch unklar ist, ob die Abweisung des Unterhaltsmehrbegehrens der Höhe nach auch für die Zeit ab 1.Oktober 1992 bekämpft wird (der Revisionsrekurs enthält hiezu keinerlei Ausführungen), ist der angefochtene Beschluß in seinem abweisenden Teil und in diesem Umfang auch der erstgerichtliche Beschluß zu beheben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Klärung dieser Fragen aufzutragen.

Stichworte