OGH 10ObS174/93

OGH10ObS174/939.11.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Steinbauer als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Franz Köck (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerold Kopecky (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hilan A*****, ohne Berufsangabe, ***** vertreten durch Dr.Jörg Hobmeier und Dr.Hubertus Schumacher, Rechtsanwälte in Innsbruck, wider die beklagte Partei Tiroler Gebietskrankenkasse, Klara-Pölt-Weg 2, 6020 Innsbruck, vertreten durch Dr.Hans-Peter Ullmann und Dr.Stefan Geiler, Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen Kostenersatz für Zahnersätze, infolge Revision der Klägerin gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 8.Juni 1993, GZ 5 Rs 46/93-12, womit infolge Berufung der Klägerin das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 3.März 1993, GZ 47 Cgs 1107/92h-7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Rechtssache wird zur neuen, nach Ergänzung des Verfahrens zu fällenden Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Rechtsmittelkosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Bei der Klägerin wurde im Jahre 1992 im Rahmen eines Türkeiaufenthaltes eine Versorgung im Ober- und Unterkiefer durch Zahnersatzstücke vorgenommen. Die Ersatzstücke sind mit erheblichen Mängeln behaftet. Die Klägerin bezahlte an den türkischen Zahnarzt 4,442.320,- türkische Lira, deren Ersatz sie von der Beklagten begehrt.

Die Beklagte lehnte die Übernahme eines satzungsgemäßen Kostenersatzes ab. Diesen Bescheid bekämpft die Klägerin mit der vorliegenden Klage.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die zahntechnischen Arbeiten entsprächen nicht dem durch § 36 der Satzung geforderten Standard. Sie seien weder in einwandfreiem Material noch in einwandfreier Ausführung hergestellt worden.

Das Gericht der zweiten Instanz gab der dagegen erhobenen Berufung keine Folge. Der unentbehrliche Zahnersatz sei eine Pflichtleistung der Beklagten. Ein Kostenersatzanspruch im Rahmen der Satzung käme nicht in Frage, weil eine unsachgemäße Zahnersatzarbeit, die den angestrebten Zweck nicht erfüllt, sondern weitere Verschlechterungen befürchten läßt, den gesetzlichen Voraussetzungen einer zweckmäßigen Krankenbehandlung nicht entspricht. Auf den zahnmedizinischen Standard käme es dabei nicht an. Im übrigen gingen die Zahnersatzarbeiten über eine zur Beseitigung von Zahnschmerzen erforderliche Behandlung hinaus, so daß nach Art. 12 Abs 1 des Sozialversicherungsabkommens zwischen Österreich und der Türkei kein Anspruch auf eine Leistung bestehe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung und mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagestattgebung abzuändern; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagte beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision der Klägerin keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Ergebnis berechtigt.

Art. 12 des Abkommens Österreich - Türkei über Soziale Sicherheit vom 2.12.1982, BGBl 1985/91, regelt den Leistungsanspruch des Versicherten gegenüber dem Versicherungsträger des Vertragsstaates bei einem vorübergehenden Aufenthalt im Ausland. Leistungen des türkischen Sozialversicherungsträgers liegen nicht vor, so daß aus Art. 12 des Abkommens für die rechtliche Beurteilung des Anspruches der Klägerin nichts zu gewinnen ist.

Zahnbehandlung und Zahnersatz sind gemäß § 153 Abs 1 ASVG nach

Maßgabe der Bestimmungen der Satzung zu gewähren. Da Zahnbehandlung

und Zahnersatz eigentlich ein Konglomerat aus dem Versicherungsfall

der Gesundheitserhaltung (wenn es bloß um die Untersuchung des

Zahnzustandes geht), dem der Krankenbehandlung (wenn die Leistung die

Zahnbehandlung zum Gegenstand hat) und dem der Hilfe bei körperlichen

Gebrechen (wenn Zahnersatz gewährt wird) ist, können für die

Bestimmung des Inhaltes des § 153 Abs 1 Satz 1 ASVG und der darauf

beruhenden Satzung der Beklagten die für die Krankenbehandlung und

den Zahnersatz in besonderen getroffenen Bestimmungen des zweiten und

fünften Unterabschnittes (insbesondere § 133 Abs 2 und § 154 ASVG)

determinierend herangezogen werden (Binder in Tomandl, System

5. ErgLfg, 257; VfGH vom 27.6.1992, G 245/91; 10 Ob S 312/92 = DRdA

1993, 406 = SSV-NF 7/22 - in Druck).

§ 36 Abs 1 der Satzung der Beklagten bestimmt, daß die Kosten für den unentbehrlichen Zahnersatz nur für Arbeiten in einwandfreiem Material und einwandfreier Ausführung übernommen werden.

Was darunter zu verstehen ist, erläutert die Satzung nicht. Da die Satzung eine auf Grund der Gesetze (Art. 18 Abs 2 B-VG) erlassene Verordnung ist, die bloß präzisieren darf, was in den wesentlichen Konturen bereits im Gesetz selbst vorgezeichnet wurde (VfSlg 11.859, 11.938 ua, JBl 1993, 467) ist deren Inhalt daher an den korrespondierenden Bestimmungen des ASVG zu messen, wofür insbesondere die Bestimmungen der §§ 133 Abs 2, 154 Abs 1 ASVG heranzuziehen sind.

Nach § 133 Abs 2 ASVG muß die Krankenbehandlung ausreichend und

zweckmäßig sein; sie darf aber das Maß des Notwendigen nicht

überschreiten. Durch die Krankenbehandlung soll Gesundheit,

Arbeitsfähigkeit .................... nach Möglichkeit wieder

hergestellt, gefestigt oder gebessert werden. Nach § 154 Abs 1 ASVG

kann die Satzung bei körperlichen Gebrechen ............, die die

Gesundheit .............. wesentlich beeinträchtigen, Zuschüsse für

die notwendigen Hilfsmittel ................ vorsehen. Die

Hilfsmittel müssen geeignet sein, die Funktion fehlender oder unzulänglicher Körperteile zu übernehmen.

Aus diesen Bestimmungen ist der Standard des hier maßgeblichen Zahnersatzes abzuleiten.

Die Kriterien der dem Wirtschaftlichkeitsgebot unterliegenden Krankenbehandlung (Mazal, Krankheitsbegriff und Risikobegrenzung, 228) sind, daß die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet. Diese Bestimmung des § 133 Abs 2 ASVG korrespondiert weitgehend mit dem in Deutschland geltenden § 12 SGB V, sodaß auch die dortige Literatur bei Beurteilung und Auslegung der in § 133 Abs 2 leg cit genannten unbestimmten Rechtsbegriffe herangezogen werden kann (Heinze, Die neue Krankenversicherung 5.Buch SGB Kommentar § 12 S.2 ff; Höfler in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht I Rz 5 ff § 12 SGB V).

Daß die Krankenbehandlung ausreichend sein muß, bedeutet die Festlegung einer Minimalgrenze der Leistungsverpflichtung, die unter Zugrundelegung von gesicherten medizinischen Erkenntnissen und nach dem anerkannten Stand der Medizin nach Umfang und Qualität eine hinreichende Chance auf einen Heilungserfolg bieten muß.

Zweckmäßigkeit liegt vor, wenn die Behandlung in Verfolgung der Ziele der Krankenbehandlung erfolgt (Mazal aaO, 353), erfolgreich oder

zumindest erfolgversprechend war (SSV-NF 3/154; 10 Ob S 312/92 = DRdA

1993, 406 = SSV-NF 7/22 - in Druck). Darunter ist zu verstehen, daß

die Behandlung nach den Erfahrungssätzen der medizinischen Wissenschaft mit hinreichender Sicherheit objektiv geeignet ist, die beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Bei mehreren geeigneten Leistungen kommt primär diejenige in Betracht, mit der sich die Zweckbestimmung am besten erreichen läßt.

Das Maß des Notwendigen bestimmt sich aus dem Zweck der Leistung. Notwendig ist jene Maßnahme, die zur Erreichung des Zweckes unentbehrlich oder unvermeidbar ist. Es sollen mit dieser Bestimmung unnötige Maßnahmen vermieden und damit die finanzielle Belastung in Grenzen gehalten und andererseits die zur medizinisch notwendigen Versorgung erforderlichen Maßnahmen gewährleistet werden. Die Beschränkung des Leistungsumfanges auf das Maß des Notwendigen beinhaltet auch das Gebot der Wirtschaftlichkeit der Krankenbehandlung (Mazal aaO, 228, 334 f; 10 Ob S 312/92 = DRdA 1993, 406 = SSV-NF 7/22 - in Druck). Bei mehreren gleichermaßen zweckmäßigen Behandlungsmethoden ist jeweils diejenige zu wählen, die die geringsten Kosten verursacht, bzw. bei der die Relation der Kosten zum Nutzen (Heilerfolg) am günstigsten ist (Mazal aaO 335, 380; Heinze aaO, 3). Bei Beurteilung der Wirtschaftlichkeit kommt es aber auf die Gesamtbetrachtung einer zweckmäßigen Behandlung an, sodaß nicht immer auch die billigste Lösung dem Gebot der Zweckmäßigkeit entsprechen muß.

Auf den Zahnersatz bezogen ist Zweckmäßigkeit gegeben, wenn die gesetzten Maßnahmen nach dem anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft zum Zeitpunkt der Maßnahme objektiv geeignet waren, die durch das Fehlen von Zähnen oder Zahnstücken bzw. durch schadhafte Zähne beeinträchtigten Funktionen des Kauens, Beißens oder Sprechens wiederherzustellen. Dabei setzt die Wiederherstellung der beeinträchtigten Funktionen voraus, daß die Maßnahme hinreichend wirksam sein, d.h. nach Umfang und Qualität auch den Erfolg auf eine bestimmte Zeit gewährleisten muß, um dem Mindeststandard der ausreichenden Leistung zu entsprechen. Hiezu sieht die Satzung in § 36 Abs 4 vor, daß die Kosten der Neuherstellung eines Zahnersatzstückes nach vier Jahren, einer Metallgerüstprothese nach sechs (nach deren Anbringung) vom Krankenversicherungsträger wieder zu übernehmen sind, wenn sie dieser schon einmal übernommen hat. Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß bei üblichem Gebrauch ohne Veränderungen im Mund ein Zahnersatzstück seine Funktion in der angeführten Dauer gewährleisten muß.

Da es zur Beurteilung der Zweckmäßigkeit auf den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft ankommt, ist der technisch medizinische ortsübliche Standard eines bestimmten Landes und dessen Anforderungen an die Haltbarkeit von Zahnersatzstücken nicht entscheidend. Dies führt aber dazu, daß unabhängig davon, wo die medizinischen Maßnahmen gesetzt wurden, grundsätzlich ein Kostenersatzanspruch nach Maßgabe der österreichischen Rechtsvorschriften gegeben sein kann und daher insofern Art 36 der Satzung keine Einschränkung der Ersatzpflicht der Beklagten auf österreichische Leistungen nach österreichischem Standard enthält. Daher braucht auf die von der Revisionswerberin geltend gemachten verfassungsmäßigen Bedenken gegen Art 36 der Satzung nicht eingegangen zu werden.

Die Notwendigkeit der Vornahme der Zahnbehandlung mit der Herstellung von Zahnersatzstücken in der Türkei wurde von der Beklagten in erster Instanz nicht bestritten, sondern die Ablehnung des Ersatzanspruches darauf gestützt, daß die Arbeiten nicht den Voraussetzungen des § 36 Abs 1 der Satzung entsprechen.

Ob die Maßnahmen des türkischen Zahnarztes zweckmäßig waren, kann jedoch auf Grund des bisher vorliegenden Sachverhaltes noch nicht abschließend beurteilt werden:

Das Erstgericht zeigt zwar in seinen Feststellungen gravierende Mängel des Zahnersatzes auf, wie beispielsweise, daß die Klammern und Auflieger der Oberkieferstahlskelettprothese infolge der ungenügenden Paßgenauigkeit keine Funktion haben und die Pfeilerzähne schädigen, das Kaurelief ungenügend ist, Kariesgefahr besteht, jedoch fehlt insgesamt eine Aussage des Sachverständigen zur Zweckmäßigkeit des Zahnersatzes im aufgezeigten Sinne hinsichtlich der einzelnen der Beklagten gegenüber verrechneten Zahnersatzstücke. Die allgemein gehaltenen Mängelbeschreibungen lassen sich nur teilweise einzelnen Ersatzstücken zuordnen. Es ist noch nicht präzise festgestellt, welche technischen Arbeiten laut Rechnung des türkischen Zahnarztes überhaupt im einzelnen durchgeführt wurden. Der gerichtliche Sachverständige zeigte infolge des mangelhaften Zustandes der Arbeit Zweifel auf, ob überhaupt die Brückenkonstruktion im Unterkiefer von der mit 5.8.1992 datierten Rechnung umfaßt ist.

Es wird daher bei allen der Beklagten gegenüber geltend gemachten Kostenersatzansprüchen für die in der Rechnung des türkischen Zahnarztes aufscheinenden Zahnersatzstücke ergänzend festzustellen sein, inwieweit diese im einzelnen den aufgezeigten Kriterien der Zweckmäßigkeit entsprachen, ob durch diese Maßnahmen die vor der Behandlung beeinträchtigt gewesenen Funktionen des Kauens, Beißens oder Sprechens nach dem Stand der allgemeinen medizinischen Wissenschaft wiederhergestellt wurden, welche Haltbarkeitsdauer den Zahnersatzstücken zuzuschreiben ist und, soferne dem Grunde nach ein Ersatzanspruch besteht, welche Kosten die Satzung hiefür vorsieht.

Zur Beseitigung der aufgezeigten Feststellungsmängel war spruchgemäß zu entscheiden.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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