OGH 10ObS175/93

OGH10ObS175/9328.10.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Peter Hübner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Friederike Grasmuk (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Othmar F*****, vertreten durch Dr.Gerhard Hiebler, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3.Juni 1993, GZ 8 Rs 3/93-35, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 8.Oktober 1992, GZ 23 Cgs 193/92-30, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie zu lauten haben:

"Das Klagebegehren, die Beklagte sei schuldig, dem Kläger ab 1.4.1990 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu zahlen, besteht dem Grunde nach zu Recht.

Der Beklagten wird aufgetragen, dem Kläger ab 1.4.1990 bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von 6.000 S monatlich zu erbringen, und zwar die bis zur Zustellung dieses Urteils an die Beklagte fälligen vorläufigen Zahlungen binnen vierzehn Tagen, die weiteren an jedem folgenden Monatsersten im vorhinein."

Die Beklagte hat dem Kläger binnen vierzehn Tagen die einschließlich 603,84 S Umsatzsteuer mit 3.623,04 S bestimmten Kosten der Revision zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 28.9.1990 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 22.3.1990 auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.

Die auf diese Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab 1.4.1990 gerichtete Klage stützt sich darauf, daß die Arbeitsfähigkeit des Klägers infolge seines im einzelnen dargestellten Gesundheitszustandes so weit herabgesunken sei, daß er dem seit 1970 in einem großen Industriebetrieb ausgeübten Beruf als Sattler - den Beruf des Tapezierers und Sattlers habe er erlernt - und Vulkaniseur nicht mehr nachgehen könne. Auch Sattler- und Riemertätigkeiten seien nicht mehr möglich, weil auch dabei schwere Arbeiten erforderlich wären.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens, weil der Kläger noch alle leichten, mittelschweren und schweren Arbeiten verrichten könne. Er genieße auch keinen Berufsschutz, weil er bis 1985 als Vulkaniseur nicht eigenverantwortlich tätig gewesen sei.

Im ersten Rechtsgang erkannte das Erstgericht das Klagebegehren ab 1.4.1990 als dem Grunde nach zu Recht bestehend. Der Kläger, der den Beruf eines Tapezierers erlernt habe, habe seit 1970 in der Sinteranlage eines großen Industriebetriebes zu 80 % Vulkaniseur- und zu 20 % Sattlertätigkeiten verrichtet, also überwiegend einen angelernten Beruf iS des § 255 Abs 2 ASVG ausgeübt. Da er die im Vulkaniseurberuf auftretenden schweren Arbeiten nicht mehr leisten könne, gelte er als invalid iS des Abs 1 dieser Gesetzesstelle. In Stattgebung der Berufung der Beklagten, die den dem Kläger zugebilligten Berufsschutz aks Vulkaniseur bekämpfte, hob das Berufungsgericht das erstgerichtliche Urteil auf und verwies die Rechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Aus den Feststellungen lasse sich nämlich nicht erkennen, ob der Kläger Tätigkeiten ausgeübt habe, für die es erforderlich gewesen sei, entweder seine Fähigkeiten im erlernten Beruf des Tapezierers (allenfalls Sattlers) einzusetzen oder durch praktische Arbeit als Vulkaniseur einem erlernten Beruf gleichzuhaltende Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben. Sollte der Kläger während der letzten fünfzehn Jahre vor dem Stichtag in mehreren erlernten/angelernten Berufen tätig gewesen sein, wäre auch zu prüfen, ob seine Arbeitsfähigkeit nicht nur im zuletzt oder überwiegend ausgeübten, sondern in jedem dieser Berufe auf weniger als die Hälfte derjenigen eines gesunden Versicherten und ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken sei. Dabei wäre auch zu erörtern, ob eine Verweisung auf Teiltätigkeiten, durch die der Berufsschutz erhalten bliebe, möglich sei. Obwohl das Berufungsgericht ausgesprochen hatte, daß der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei, blieb der Aufhebungsbeschluß unbekämpft.

Im zweiten Rechtsgang wies das Erstgericht das Klagebegehren ab.

Dabei ging es im wesentlichen von folgenden Sachverhaltsfeststellungen aus: Infolge seines (seit dem Stichtag vorliegenden) im einzelnen beschriebenen körperlichen und geistigen Zustandes kann der am 17.3.1941 geborene Kläger alle leichten und mittelschweren Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen "zu den üblichen Bedingungen" (vollschichtig) mit den üblichen Pausen in offenen und geschlossenen Räumen leisten. Bück-, Hebe- und Überkopfarbeiten sind nur während zwei Drittel des Arbeitstages möglich. Nachtarbeit, Arbeiten an exponierten Stellen, wie auf Leitern und Gerüsten, Akkordarbeit und das Lenken eines Kraftfahrzeuges sind nicht mehr zumutbar. Der Kläger kann allerdings während der Hälfte der täglichen Arbeitszeit einem forcierten Arbeitstempo folgen. Er muß eine Magendiät einhalten können, wofür die üblichen Essenspausen ausreichen. Er kann auf alle bereits ausgeübten Tätigkeiten verwiesen und bei durchschnittlichen Anforderungen an die praktische Intelligenz auch umgeschult werden; völlig neue spezifische Kenntnisse kann er sich allerdings nicht mehr aneignen. Mit einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit sind jährlich Krankenstände von drei Wochen zu erwarten.

Der Kläger erlernte in den Jahren 1954 bis 1957 den Tapeziererberuf. Von Jänner 1971 bis März 1991 war er in einem großen Industriebetrieb ***** als Sattler und Vulkaniseur tätig. Dabei oblag ihm die Betreuung, dh Instandhaltung und Reparatur von 145 Förderbändern sowie die Berichterstattung darüber. Er hatte rissige Teile der einzelnen Förderbänder herauszuschneiden und die verbleibenden Teile oder auch neue Förderbänder mit Vulkanisierwärmeverfahren wieder zusammenzuschweißen. In diesen Tätigkeiten wurde er zunächst unterwiesen. Vom 20.2. bis 1.3.1985 absolvierte er mit gutem Erfolg einen Fachlehrgang für Fördergurtvulkaniseure im Städtischen Berufsbildungszentrum für Fahrzeug- und Maschinentechnik in M*****. Zulassungsvoraussetzung dafür war, daß der Teilnehmer bereits Grundkenntnisse mitbrachte und schon eine Zeit lang auf einem einschlägigen Arbeitsplatz gearbeitet hatte. Der Sinn des Kurses war, neue Werkstoffe, neue Bearbeitungsmethoden und das Vulkanisieren mit anderen Materialien kennenzulernen und die Fachkenntnisse soweit zu vertiefen, daß der Kläger in der Folge allein und eigenverantwortlich in diesem Bereich arbeiten konnte. Im Rahmen seiner Vulkaniseurtätigkeit, die rund 80 % seiner Betätigung ausmachte, hatte er mit Reifen bzw Reifenbearbeitung nichts zu tun. Beim Reparieren bzw Austauschen der Förderbänder waren jeweils Stützrollen zu demontieren. Dabei handelte es sich um Schlosserarbeiten, die allerdings (nur) ein geringes Maß (der Tätigkeit des Klägers) ausmachte. Etwa 10 bis 20 % seiner Tätigkeit bestand in Sattlerarbeiten. Dabei hatte er Gossen (Rutschen) und Abstürze zu belegen und Werkzeug- bzw Gerätetaschen herzustellen. Auch diese Arbeiten lernte er sich an. Hin und wieder führte er kleinere Tapeziererarbeiten, wie das Polstern von Sesseln und Kransesseln, aus.

Vulkaniseur ist die Bezeichnung für in zweijähriger Lehrzeit ausgebildete Arbeitskräfte. Der Aufgaben- und Tätigkeitsbereich des Vulkaniseurs umfaßt die Reparatur von Reifen und anderen Gummiartikeln, die Herstellung runderneuerter Reifen, das Einstellen des Radrundlaufes, der Prüfung der Radstellung und die Anfertigung von Gummi-Metallverbindungen. Bei Reifenschäden ist die Ursache des Schadens zu prüfen und die Reparaturfähigkeit zu beurteilen. Bei der Runderneuerung wird entweder die Lauffläche erneuert oder es werden an der Seitenwand des Reifens neue Gummischichten angebracht. Auch hier ist die Erneuerungsfähigkeit zu beurteilen. Sowohl bei der Reparatur als auch bei der Runderneuerung werden Heiß- und Kaltvulkanisation angewendet. Der Vulkaniseur stellt bei Heinzvorrichtungen und Anlagen die Temparatur ein und überwacht den Vulkanisationsvorgang. Bei der Demontage entfernt er mit Montiergeräten den Reifen von der Felge, bei der Montage setzt er beide wieder zum Rad zusammen. Durch das Auswuchten sorgt er durch Befestigen von Ausgleichsgewichten an der Felge für einen einwandfreien Rundlauf des Rades. Er prüft auch die richtige Spur- und Sturzeinstellung der Räder. Auch bei der Kundenberatung kommt ihm eine wichtige Funktion zu. Er klärt den Kunden über Richtlinien der Bereifung und über falsches Fahrverhalten auf. Ein weiteres Aufgabengebiet des Vulkaniseurs ist die Instandhaltung von Gummiartikeln und die Herstellung von Gummi-Metallverbindungen. Technische Gummiartikel, wie Förderbänder, verschleißen schnell. Nach Art und Größe der Schadstelle führt der Vulkaniseur die entsprechenden Reparaturarbeiten durch. Bei der Beschichtung von Maschinenteilen, wie Walzen und Trommeln, vulkanisiert er Gummi auf Metall. Da die Herstellung von Gummiartikeln weitgehend mechanisiert und auch vielfach schon automatisiert ist, werden dabei meist nur Hilfskräfte und angelernte Maschinenarbeiter beschäftigt. Die gelernten Vulkaniseure sind überwiegend im Bereich des Reifenservice sowie bei der Runderneuerung und Reparatur von Reifen tätig. Die Tätigkeit des Vulkaniseurs wird überwiegend im Stehen, unterbrochen durch kurzfristiges Gehen, sehr häufig in gebückter Körperhaltung verrichtet und ist mit leichter bis schwerer körperlicher Arbeit verbunden.

Sattler- und Riemer ist die Bezeichnung für in dreijähriger Lehrzeit ausgebildete Arbeitskräfte. Ihr Aufgabenbereich ist die handwerkliche Verarbeitung von Leder zu Groblederwaren und die Reparatur händisch gefertigter Lederwaren. Sie erzeugen insbesondere Sportartikel, Produkte der Geschirrsattelei und gröbere Taschenartikel, fertigen aber zum Teil auch Fahrzeugausrüstungen an. Sie haben das zu verarbeitende Material auszuwählen, das Leder nach Vorlage zuzuschneiden, die einzelnen Lederstücke zu pressen, deren Räder abzuschleifen und die Kanten zu kerben, die Einzelteile durch Nähen, Nageln, Nieten oder Kleben zu verbinden, Zierstriche anzubringen und Beschläge aufzubringen. Zusätzliche Aufgaben sind das Entwerfen von Mustern für Einzelanfertigungen und das Reparieren schadhafter Stellen. Sattler und Riemer werden vor allem in kleinen Gewerbebetrieben, vereinzelt auch in der lederverarbeitenden Industrie beschäftigt. In Gewerbebetrieben hat der Sattler und Riemer das Produkt regelmäßig vom Zuschnitt bis zur Ausfertigung selbständig und alleine herzustellen. Er übt seine Tätigkeit überwiegend im Stehen aus. Die Arbeit ist mit einer leichten bis mittelschweren körperlichen Belastung verbunden.

Tapezierer sind in dreijähriger Lehrzeit ausgebildete Arbeitskräfte. Der Aufgabenbereich der Tapezierer und Bettwarenerzeuger umfaßt die Herstellung und Reparatur von Polstermöbeln, die Erzeugung von Matratzen, Pölstern, Steppdecken und anderen Bettwaren und einen Großteil der bei der wohnlichen Gestaltung von Wänden, Decken und Böden anfallenden Arbeiten. Eine der wichtigsten Aufgaben im Bereich der Innenausstattung ist das Verlegen von Tapeten. Der Tapezierer übt seine Tätigkeit im Sitzen und Stehen, unterbrochen von kurzfristigem Gehen aus. Die Arbeiten sind leicht bis mittelschwer, doch sind schwere Arbeiten und Tätigkeiten an exponierten Stellen nicht auszuschließen. Bück- und Hebearbeiten erreichen nicht zwei Drittel der täglichen Arbeitszeit.

Fahrzeugtapezierer sind in dreijähriger Lehrzeit ausgebildete Arbeitskräfte, die mit der Herstellung und Reparatur der Innenausstattung von Fahrzeugen befaßt sind. Sie stellen auch Sonderausstattungen für moderne und historische Fahrzeuge her und führen Restaurierungen an älteren Fahrzeugen durch. Sie fertigen flexible Dächer aus Leder und Kunststoff sowie Schiebedächer aus Glas und Blech für Personenkraftwagen an und stellen Planen für LKW-Aufbauten, Zelte ect her. Bei der Herstellung und Montage von Dichtungen in Fahrzeugtüren- und fenstern führt der Fahrzeugtapezierer manchmal auch die Verglasung der Fenster durch und montiert Tür- und Kofferraumschlösser. Dabei arbeitet er mit Spenglern und Lackierern zusammen. Er stellt auch Massagebetten, Zahnarztstühle und die Ausstattung von Rettungsautos her, fertigt und repariert Motorradsitze, Schonbezüge für Autositze, Polstermöbel und Reitzubehör. Er repariert auch Taschen und Sportartikel. In Industriebetrieben werden Sitze, Seitenverkleidungen, Dächer, Fußbodenbeläge etc serienmäßig hergestellt. Die Tätigkeit des Fahrzeugtapezierers wird im Sitzen und Stehen verrichtet und ist mit einer leichten bis schweren körperlichen Belastung verbunden.

Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes könne der Kläger nicht als angelernter Vulkaniseur bezeichnet werden, weil er auf dessen Hauptgebiet, der Reifenbearbeitung, keine praktischen Erfahrungen habe gewinnen können. Seinen erlernten Beruf als Tapezierer habe er seit Jänner 1971 nur äußerst selten und in geringem Umfang ausgeübt, so daß von einer überwiegenden Tätigkeit im erlernten Beruf nicht gesprochen werden könne. Die gelegentlichen Tapezierertätigkeiten umfaßten zeitlich auch nicht annähernd die Hälfte der Beitragsmonate während der letzten fünfzehn Jahre vor dem Stichtag und könnten daher als Gelegenheitsarbeiten den Berufsschutz nicht wahren. Auch die Sattlertätigkeiten seien bei weitem nicht überwiegend ausgeübt worden. Infolge des geringen Umfanges dieser Tätigkeiten im Vergleich zum Anforderungsprofil an einen (gelernten) Sattler liege auch diesbezüglich kein angelernter Beruf vor. Deshalb sei die Invalidität des Klägers nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen und wegen Verweisungsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verneinen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge.

Es verneinte die behaupteten Verfahrensmängel, hatte keine Bedenken gegen die erstgerichtliche Beweiswürdigung und erachtete auch die Rechtsrüge als nicht berechtigt.

Die vom Kläger durch seine Vulkaniseurtätigkeit an Förderbändern erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten seien denen eines gelernten Vulkaniseurs an Qualität und Umfang nicht gleichwertig, weil dessen Schwergewicht überwiegend im Bereich des Reifenservice, bei der Runderneuerung und Reparatur von Reifen und in der Kundenberatung liege. Die vom Kläger vorgenommenen Förderbandreparaturen könnten aber auch nicht mit den Tätigkeiten eines Vulkaniseurs bei der Beschichtung von Maschinenteilen durch Vulkanisierung von Gummi auf Metall verglichen werden. Die weiteren Arbeiten, nämlich geringfügige Schlosserarbeiten bei Reparatur bzw Austasch der Förderbänder durch Demontage von Stützrollen, Sattlerarbeiten im Umfang von 10 bis 20 % seiner Tätigkeit durch Belegen von Gossen und Abstützen bzw Herstellen von Werkzeug- und Gerätetaschen und fallweise Tapeziererarbeiten, wie das Polstern von Sesseln und Kransesseln, seien ihrem Umfang nach auch bei Zusammenfassung nur derart geringfügig gewesen, daß sie bei der Beurteilung der Gesamttätigkeit nicht maßgeblich ins Gewicht fielen. Der Kläger habe daher insgesamt keine Tätigkeiten verrichtet, die jenen eines gelernten Arbeiters gleichzuhalten wären. Deshalb sei seine Invalidität nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen und wegen der Arbeitsfähigkeit in zumutbaren Verweisungstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verneinen.

Rechtliche Beurteilung

In der nicht beantworteten Revision macht der Kläger inhaltlich nur unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es, allenfalls auch das erstinstanzliche Urteil aufzuheben.

Das nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 dieser Gesetzesstelle zulässige Rechtsmittel ist berechtigt.

Der Revisionswerber führt in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senates zu § 255 Abs 2 Satz 1 ASVG (zB SSV-NF 6/69) zutreffend aus, daß die durch praktische Arbeit erworbenen qualifizierten Kenntnisse (oder Fähigkeiten) nicht die eines bestimmten Lehrberufes sein müssen, allerdings denen in einem erlernten Beruf erworbenen besonderen Kenntnisse oder Fähigkeiten an Umfang und Qualifikation zu entsprechen haben. Der Oberste Gerichtshof hob ua in der zit E hervor, daß nicht alle Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich sind, die nach den Ausbildungsvorschriften zum Berufsbild eines (bestimmten) Lehrberufes zählen und daher einem Lehrling (dieses Lehrberufes) während der Lehrzeit zu vermitteln sind. Es kommt vielmehr darauf an, daß ein angelernten Arbeiter über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen (bestimmten) Berufes in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten (Berufsgruppe) unter Berücksichtigung einer betriebsüblichen Einschulungszeit verlangt werden. Hingegen reicht es nicht aus, wenn sich die Kenntnisse und Fähigkeiten auf ein oder mehrere Teilgebeite eines (bestimmten) Berufes erstrecken, der von ausgelernten Facharbeitern allgemein in einem viel weiteren Umfang beherrscht wird.

In folgerichtiger Weiterentwicklung dieser Rechtsprechung liegt ein angelernter Beruf iS des § 255 Abs 2 Satz 1 ASVG auch dann vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, die sich auf ein oder mehrere Teilgebiete verschiedener Lehrberufe erstrecken und in ihrer Gesamtheit jenen eines ausgelernten Facharbeiters gleichzuhalten sind. In einem solchen Fall können die Berufserfahrungen des angelernten Arbeiters hinter denen eines ausgelernten Facharbeiters in jedem einzelnen der zum Vergleich der Facharbeiterqualifikation herangezogenen Lehrberufe zurückbleiben, wenn sie insgesamt dem üblicherweise von einem Facharbeiter verlangten Ausmaß entsprechen.

Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall aus folgenden Gründen zu bejahen:

Nach den rechtlich zu beurteilenden Feststellungen verfügte der Kläger bereits bei Aufnahme seiner Tätigkeit als Vulkaniseur und Sattler im Jänner 1971 über eine abgeschlossene dreijährige Lehrausbildung als Tapezierer. Diese Lehrzeit wird auf die gleichlange Lehrzeit in den verwandten Lehrberufen des Fahrzeugtapezierers (Fahrzeugsattlers) und des Sattlers und Riemers voll angerechnet. Daraus kann der Schluß gezogen werden, daß gelernte Tapezierer, Fahrzeugtapezierer sowie Sattler und Riemer im wesentlichen über ähnliche Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen werden. Da der Kläger während der letzten fünfzehn Jahre vor dem Stichtag, also in der Zeit vom 1.4.1975 bis 31.3.1990, neben der noch zu erörternden Tätigkeit im Zusammenhang mit der Betreuung der 145 Förderbänder Tapezierer-, Fahrzeugtapezierer- und Sattlerarbeiten verrichtete, welche Tätigkeiten bis 20 % seiner Gesamttätigkeit ausmachten, verrichtete er in diesem Umfang qualifizierte Teiltätigkeiten seines erlernten Berufes.

Das Hauptgewicht seiner Tätigkeit lag allerdings in der Betreuung der 145 Förderbänder eines großen Industriebetriebes. Dabei oblagen ihm insbesondere die Instandhaltung und Reparatur dieser (aus Metallrollen um Gummigurten bestehenden) Transportanlagen. Er hatte rissige Teile der einzelnen Förderbänder herauszuschneiden und die verbleibenden Teile oder auch neue Förderbänder mit Vulkanisierwärmeverfahren wieder zusammenzuschweißen. Die Reparatur von Reifen und anderen technischen Gummiartikeln (zB Förderbändern) stellt eine wesentliche Aufgabe des zweijährigen Lehrberufes "Vulkaniseur" dar. Dabei reinigen und trocknen die Vulkaniseure das Werkstück, stellen das Ausmaß des Schadens fest, trennen schadhafte Stellen ab bzw rauhen sie auf, belegen die Werkstücke neu und unterziehen sie dann der Vulkanisation. Bei der Heißvulkanisation kommen die Werkstücke in eine Heizform oder auf eine Heizplatte, wobei die Vulkaniseure die Heizdauer und die Temperatur bestimmen. Sie überwachen den Vulkanisierungsvorgang und prüfen die vulkanisierten Werkstücke. Dabei unterscheiden sich Reparaturarbeiten an Reifen nicht wesentlich von solchen an technischen Gummiartikeln, zB an Förderbändern (vgl auch den Artikel Vulkaniseur/Vulkaniseurin im vom österreichischen Institut für Berufsbildungsforschung erstellten, vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen Berufslexikon 1 (Lehrberufe) (Stand Juli 1990), 375). Daß der Kläger nichts mit Reifen zu tun hatte, so daß er solche weder runderneuerte, noch montierte, noch auswuchte, noch diesbezügliche Kundenberatungen durchführte, welche Aufgaben weitere wichtige Tätigkeiten des Vulkaniseurs darstellen (vgl auch das genannte Berufslexikon), ändert nichts daran, daß er den Beruf eines Vulkaniseurs in der Spezialisierung der Wartung von Förderbändern in einem industriellen Großbetrieb ausübte. Daß er durch diese Tätigkeit nicht alle wesentlichen Kenntnisse und Fähigkeiten erwarb, die allgemein von ausgelernten Vulkaniseuren erwartet werden, insbesondere nicht im Zusammenhang mit Autoreifen, könnte die Qualifikation seiner Tätigkeit als angelernter Beruf iS des § 255 Abs 2 Satz 1 ASVG nur bei isolierter Betrachtung der Vulkaniseurarbeiten beenträchtigen. Berücksichtigt man aber, daß er neben diesen Arbeiten auch seinem erlernten Beruf als Tapezierer entsprechende Fahrzeugtapezierer(Autosattler)-Arbeiten und im Zuge der Förderbandreparaturen auch die Stützrollen zu demontieren, also Schlosserarbeiten vorzunehmen hatte, dann benötigte er für diese zu mehreren verschiedenen Lehrberufen zählenden qualifizierten Teiltätigkeiten insgesamt solche Kenntnisse und Fähigkeiten, die jenen in einem erlernten Beruf gleichzusetzen sind.

Der Kläger war daher - entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen - überwiegend in einem angelernten Beruf tätig. Da seine Arbeitsfähigkeit seit dem Stichtag infolge seines körperlichen und geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist, gilt er seither als invalid iS des § 255 Abs 1 ASVG.

Da im übrigen die Erfüllung der Wartezeit nicht bestritten wurde, ist der Anspruch des Klägers auf die begehrte Invaliditätspension nach § 254 Abs 1 leg cit als dem Grunde nach zu Recht bestehend zu erkennen. Demgemäß war dem Versicherungsträger aufzutragen, dem Kläger bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung zu erbringen, deren Ausmaß unter sinngemäßer Anwendung des § 273 Abs 1 ZPO festzusetzen ist (§ 89 Abs 2 ASGG).

Die Urteile der Vorinstanzen sind daher wie aus dem Spruch ersichtlich abzuändern.

Die Kostenentscheiudng beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG.

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