OGH 10ObS154/93

OGH10ObS154/9328.10.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber Dr.Peter Hübner und Dr.Raimund Zimmermann, in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Lucia K*****, vertreten durch Dr.Roland Reichl, Rechtsanwalt in Salzburg, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, wegen Erwerbsunfähigkeitspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26.April 1993, GZ 31 Rs 17/93-11, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 21.September 1992, GZ 17 Cgs 551/91-8, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Das Urteil des Berufungsgerichtes wird aufgehoben. Die Rechtsache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Die Kosten der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 22.10.1991 lehnte die Beklagte den am 10.12.1990 gestellten Antrag der Kläger auf Erwerbsunfähigkeitspension ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei.

Daß diese allgemeine Leistungsvoraussetzung nach § 120 Abs 3 Z 1 lit b, Abs 4 Z 1 und Abs 6 GSVG iVm Art II Abs 11 und 12 der 9. GSVGNov BGBl 1984/485 am Stichtag, dem 1.1.1991, nicht erfüllt war, weil innerhalb der letzten 336 nicht neutralen Kalendermonate vor dem Stichtag statt mindestens 168 nur 108 Versicherungsmonate vorliegen und insgesamt statt 180 nur 129 Beitragsmonate erworben wurden, wird in der Revision nicht bekämpft. Daß die am 4.8.1922 geborene Klägerin am 31.5.1985 einen Arbeitsunfall erlitt und seit dem Stichtag dauernd erwerbsunfähig iS des § 133 Abs 2 GSVG ist, wurde von der Beklagten in der Klagebeantwortung bzw in der Berufung ausdrücklich zugestanden.

Strittig blieb, ob die Wartezeit nach § 120 Abs 2 lit a GSVG entfällt, weil der Versicherungsfall die Folge des erwähnten Arbeitsunfalles ist.

Das Erstgericht verurteilte die Beklagte, der Klägerin ab 1.1.1991 eine Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren und ihr eine vorläufige Zahlung von 2.000 S monatlich zu erbringen.

Nach den erstgerichtlichen Feststellungen rutschte die Klägerin am 31.5.1985 auf einer abschüssigen Wiese aus und fiel auf den Rücken. Wegen akuter Schmerzen im Bereich der unteren und mittleren Brustwirbelsäule und des Verdachtes einer Brustwirbelfraktur mußte sie in das Unfallkrankenhaus S***** aufgenommen werden. Die Diagnose lautete Contusio vertebralis thoracalis bei vorliegender Spondylosis deformans der Brustwirbelsäule. Seit diesem Arbeitsunfall war die Klägerin nie mehr vollkommen beschwerdefrei. Sie leidet an einem osteoporotischen Keilwirbel (8. Brustwirbelkörper) und 5. Brustwirbelkörper mit deutlicher Kyphosierung der mittleren Brustwirbelsäule, an einer höhergradig deformierenden Spondylose und S-förmigen Skoliose der Brustwirbelsäule, an einer allgemeinen Osteoporose der Wirbelsäule und an Lumbosacralalgie. Die hochgradige Osteoporose der Wirbelsäule bestand schon vor dem Arbeitsunfall. Die Beschwerden, an denen die Klägerin zur Zeit des Stichtages litt, bestanden im wesentlichen erst seit dem Arbeitsunfall. Vorher war die Intensität der Rückenschmerzen wesentlich geringer. Der Arbeitsunfall "war Auslöser für eine Zunahme dieser Beschwerden". Ohne eine bereits vorliegende Osteoporose wären die Rückenschmerzen nach dem Arbeitsunfall erfahrungsgemäß nach mehreren Wochen abgeklungen. Wäre der Unfall nicht passiert, "so könnten möglicherweise im Lauf der Zeit ähnliche Beschwerden auftreten, allerdings beträgt die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einem ähnlichen Krankheitsbild kommt, nur 10 %. Es ist nicht vorstellbar, daß die nunmehrigen Einschränkungen durch ein anderes alltägliches Ereignis hätten entstehen können". Die Klägerin konnte seit dem Arbeitsunfall überhaupt nichts mehr arbeiten, weil sie nur mehr imstande war, sitzend zu schlafen.

In der Beweiswürdigung führte das Erstgericht ua aus, der chirurgische Sachverständige habe dargelegt, daß der Arbeitsunfall wesentliche Bedingung der nunmehrigen Beschwerden sei und daß sich das Krankheitsbild ohne diesen Unfall mit einer Wahrscheinlichkeit von höchstens 10 % bis zu den derzeitigen Einschränkungen verschlimmert hätte, die ein anderes alltäglich vorkommendes Ereignis nicht hätte verursachen können.

Daraus zog das Erstgericht den rechtlichen Schluß, daß dem Arbeitsunfall als Verursachungskomponente eine so überragende Bedeutung zukomme, daß die nunmehrige Arbeitseinschränkung als Folge dieses Unfalls zu betrachten sei. Deshalb entfalle nach § 120 Abs 2 lit a GSVG die Wartezeit für die eingeklagte Leistung. Die Beklagte hätte behaupten und beweisen müssen, daß die Beschwerden der Klägerin mit mehr als 90%-iger Wahrscheinlichkeit auch im Laufe der Zeit eingetreten wären, bzw auch durch ein alltägliches Ereignis hätten verursacht werden können. Dieser Beweis sei ihr nicht gelungen.

In der wegen unrichtiger Sachverhaltsfeststellung infolge unrichtiger Beweiswürdigung, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung bekämpfte die Beklagte die Feststellungen, daß die zum Stichtag vorgelegenen Beschwerden der Klägerin im wesentlichen erst seit dem Arbeitsunfall bestehen, daß ohne diesen Unfall die Wahrscheinlichkeit eines ähnlichen Krankheitsbildes nur 10 % beträgt und es nicht vorstellbar ist, daß die nunmehrigen Einschränkungen durch ein anderes alltägliches Ereignis hätten entstehen können. Bei richtiger Beweiswürdigung wäre festzustellen gewesen, daß die nunmehrigen Beschwerden in keinem kausalen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall stünden. In diesem Fall könnte die Wartezeit nicht entfallen. Bei der Aufnahme des Sachverständigenbeweises sei dem Erstgericht ein Verfahrensmangel unterlaufen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung Folg und änderte das erstgerichtliche Urteil durch Abweisung des Klagebegehrens ab.

Die zweite Instanz vermeinte, auf die Beweisrüge und die Mängelrüge nicht näher eingehen zu müssen, weil das Klagebegehren auch auf der Grundlage der erstgerichtlichen Feststellungen abzuweisen sei. Von diesen sei entscheidungswesentlich, daß ohne Osteoporose die Rückenschmerzen nach dem Arbeitsunfall erfahrungsgemäß nach mehreren Wochen abgeklungen wären. Gehe man davon aus, dann erweise sich die erstgerichtliche Beurteilung, dem Unfallereignis komme als Verursachungskomponente überragende Bedeutung zu, als irrig. Das Erstgericht habe vor allem übersehen, daß das Unfallereignis nur eine Gelegenheitsursache darstelle. Ein Sturz auf den Rücken und das damit verbundene Trauma könnten auch durch jedes andere alltägliche Ereignis veranlaßt werden, etwa durch Ausgleiten beim Gehen auf vereisten Gehwegen oder durch einen Verkehrsunfall, an dem die Versicherte als Passantin beteiligt sei. Ein Sturz auf den Rücken müsse als alltägliches Ereignis betrachtet werden. Ein Unfallereignis sei dann nicht wesentliche Bedingung der Schädigung, wenn ein anlagebedingtes Leiden so leicht ansprechbar gewesen sei, daß es zur Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer äußerer Einwirkungen bedufte, sondern jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zur selben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte. Im Vordergrund stehe hier das anlagebedingte Leiden Osteoporose. Ohne dieses wären die Rückenbeschwerde nach mehreren Wochen abgeklungen. Der Sturz auf den Rücken könne daher nicht als kausal für die nunmehrigen Beschwerden angesehen werden.

In der unbeantwortet gebliebenen Revision macht die Klägerin Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben oder es allenfalls im klagestattgebenden Sinn abzuändern.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige Revision ist berechtigt.

Die Revisionswerberin weist zutreffend darauf hin, daß das Berufungsgericht - entgegen seiner Behauptung - nicht von allen erstgerichtlichen Tatsachenfeststellungen ausging. Es ließ unberücksichtigt, daß die Feststellungen über die Auswirkungen des Arbeitsunfalles vom 31.5.1985 auf die Erwerbsunfähigkeit der Klägerin in ihrer Gesamtheit betrachtet werden müssen. Das Berufungsgericht durfte daher nicht nur davon ausgehen, daß ohne eine bereits vorliegende Osteoporose die Rückenschmerzen nach dem Arbeitsunfall erfahrungsgemäß nach mehreren Wochen abgeklungen wären. Es hätte sich auch mit den Feststellungen auseinandersetzen müssen, daß die Beschwerden, an denen die Klägerin (auch) zur Zeit des Stichtages litt, im wesentlichen erst seit dem Arbeitsunfall bestanden, daß die Intensität der Rückenschmerzen vorher wesentlich geringer war, vor allem aber, daß die Wahrscheinlichkeit, es wäre ohne Unfall im Laufe der Zeit zu einem ähnlichen Krankheitsbild gekommen, nur 10 % beträgt und es nicht vorstellbar ist, daß die nunmehrigen Einschränkungen durch ein anderes alltägliches Ereignis hätten entstehen können. Diese Feststellungen relativieren nämlich die vom Berufungsgericht isoliert betrachtete Feststellung und sind daher - entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichtes - ebenfalls entscheidungswesentlich.

Da fast alle im letzten Satz genannten erstgerichtlichen Feststellungen in der Berufung der Beklagten bekämpft wurden, hätte sich das Berufungsgericht sowohl mit der Beweisrüge als auch mit der diesbezüglichen Mängelrüge inhaltlich auseinandersetzen müssen, also die Beweiswürdigung des Erstgerichtes prüfen und bei allfälligen Bedenken iS des § 488 ZPO vorgehen müssen. Allenfalls wäre auch die mit der Beweisaufnahme im Zusammenhang stehende Mängelrüge sachlich zu erledigen gewesen.

Nach Inhalt der Prozeßakten wurden somit dem Revisionsgericht erheblich scheinende Tatsachen vom Berufungsgericht nicht erörtert bzw festgestellt. Zur Behebung dieser wesentlichen Feststellungsmängel war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung, die allenfalls nach mündlicher Verhandlung zu ergehen haben wird, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§§ 496, 499, 503 Z 4, 510, 511 und 513 ZPO).

Bei der neuerlichen rechtlichen Beurteilung wird iS der neueren Rechtsprechung des erkennenden Senates (insb SSV-NF 6/30 mwN) zu berücksichtigen sein, daß nach der sog Theorie der wesentlichen Bedingung die Kausalität jedenfalls dann fehlt, wenn der Unfall auf eine innere Ursache zurückzuführen ist. Eine solche liegt vor, wenn ein anlagebedingtes Leiden so leicht ansprechbar ist, daß es zur Auslösung akuter Erscheinungen keiner besonderen äußeren Einwirkungen bedurfte, sondern jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis etwa zur selben Zeit die Erscheinungen ausglöst hätte. Der Arbeitsunfall vom 31.5.1985, bei dem die Klägerin auf den Rücken stürzte und wegen akuter Schmerzen im Bereich der Brustwirbelsäule und wegen Verdachtes einer Brustwirbelfraktur in ein Unfallkrankenhaus eingewiesen werden mußte, ist - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes - nicht als alltäglich vorkommendes Ereignis im genannten Sinn einzustufen.

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Revision beruht auf dem nach § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.

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