OGH 10ObS204/93

OGH10ObS204/9314.10.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Fritz Stejskal (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr.Peter Fischer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Sabine N*****, vertreten durch Dr.Julius Brändle und Dr.Karl Schelling, Rechtsanwälte in Dornbirn, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung und Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15.Juni 1993, GZ 5 Rs 34/93-21, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 29.April 1992, GZ 35 Cgs 75/91-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

1. Der Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Revisionsverhandlung wird abgewiesen.

2. Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die in Bregenz wohnende und im dortigen Bezirksbüro einer Grazer Versicherung als Außendienstangestellte beschäftigte Klägerin erlitt am 14.4.1991 (einem Sonntag) um etwa 21.30 Uhr als Lenkerin ihres Pkw bei der Fahrt von Neunkirchen nach Graz auf der Südautobahn (A 2) (in der Nähe der Autobahnausfahrt K***** im Gemeindegebiet T*****) einen Verkehrsunfall, bei dem sie verletzt wurde. Sie nahm damals im Auftrag ihres Dienstgebers an einer vom 8.4. (Montag) bis 19.4. (Freitag) 1991 dauernden Außendienstschulung im Grazer *****-G*****haus teil. Vom 12.4. (Freitag) mittag bis 15.5. (Montag) früh fand keine Schulungstätigkeit statt. Die Klägerin, die mit ihrem Pkw von ihrem Wohnort Bregenz zum Schulungsort Graz angereist war, verbrachte das zwischen den beiden Schulungsblöcken gelegene Wochenende bei einer Schulungskollegin in Neunkirchen (in Niederösterreich). Dort lernten sie miteinander für die Schulung. Die Klägerin hätte möglicherweise am 15.4. im Rahmen der Schulung einen Test absolvieren müssen, für dessen Bewältigung das Lernen mit dieser Kollegin vorteilhaft gewesen wäre. Sie fuhr aber während des freien Wochenendes auch deshalb nicht von Graz in ihre Wohnung nach Bregenz zurück, weil sie dafür mit dem Pkw etwa acht, mit der Bahn etwa elf Stunden gebraucht hätte, während für die Fahrt von Graz nach Neunkirchen lediglich zwei Stunden erforderlich waren. Die Klägerin hatte keine Anweisung ihres Dienstgebers oder der Schulungsleitung, sich zu ihrer Kollegin nach Neunkirchen zu begeben; es war ihr aber auch nicht untersagt. Ein Kostenersatz für die damit verbundenen Fahrten wurde ihr weder zugesagt noch geleistet. Für die Fahrt von Bregenz nach Graz und zurück erhielt sie 650 S (Eisenbahnfahrkarte 2. Klasse). Ob andere Schulungsteilnehmer während des schulungsfreien Wochenendes im Grazer *****-G*****haus blieben und ob dort während dieser Zeit für die Klägerin eine Übernachtungsmöglichkeit bestand, konnte nicht geklärt werden. Nach den Anweisungen des Dienstgebers hatten alle Schulungsteilnehmer am 14.4. bis 22.00 Uhr wieder im Gästehaus zu sein. Die dortigen Übernachtungskosten wurden vom Dienstgeber getragen.

Mit Bescheid vom 2.7.1991 anerkannte die Beklagte den Unfall der Klägerin vom 14.4.1991 nicht als Arbeitsunfall iS des § 175 Abs 2 Z 1 iVm § 176 Abs 1 Z 5 ASVG, weil sie den Weg zur Arbeits- bzw Kursstätte nicht von ihrer Wohnung, sondern von der Wohnung einer Arbeitskollegin in Neunkirchen angetreten habe.

In der auf Anerkennung dieses Unfalles als Arbeitsunfall und Leistung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß ab 14.4.1991 gerichteten Klage behauptet die Klägerin, daß der Unfall ein Arbeitsunfall iS der genannten Gesetzesstelle sei. Sie hätte während des kursfreien Wochenendes nicht im geschlossenen Grazer *****-G*****haus übernachten können. Dort hätten sich während dieser Zeit auch keine anderen Kursteilnehmer aufgehalten.

Die Beklagte bestritt dies, wendete ein, daß sich die Klägerin aus privaten Gründen bei ihrer Arbeitskollegin in Neunkirchen aufgehalten habe und beantragte die Abweisung der Klagebegehren.

Das Erstgericht wies die Klgebegehren ab. Es komme nicht darauf an, daß die Fahrt von Graz nach Neunkirchen und zurück wesentlich kürzer gewesen sei als eine Fahrt von Graz nach Bregenz und zurück, weil die Klägerin bei der tatsächlich unternommenen Fahrt vom maßgeblichen Weg (von Graz zu ihrem Wohnort in Bregenz) deutlich abgewichen sei. Insoweit sei der Fall der Klägerin dem zu SSV-NF 4/67 ähnlich. Das gemeinsame Lernen mit ihrer Kollegin in Neunkirchen wäre nur entscheidend, wenn dies vom Dienstgeber oder von der Schulungsleitung angeordnet worden wäre. Dafür, daß der Klägerin eine Fahrt von Graz nach Bregenz und zurück nicht zumutbar gewesen wäre, gebe es keine ausreichenden Anhaltspunkte.

Das Berufungsgericht gab der mit unrichter rechtlicher Beurteilung begründeten Begründung der Klägerin nicht Folge.

Selbst wenn man der Rechtsansicht der Berufungswerberin folgte, daß es ihr wegen der weiten Entfernung des Kursortes von ihrem Wohnort nicht zumutbar gewesen wäre, während des schulungsfreien Wochenendes nach Hause zu fahren, und für sie während dieser Zeit im Grazer *****-G*****haus keine Unterkunftsmöglichkeit bestanden hätte, wäre sie auf der Fahrt nach Neunkirchen (und zurück) nicht unter Unfallversicherungsschutz gestanden. Sie hätte sich nämlich in Graz eine Unterkunft nehmen und so ein mit der Fahrt nach Neunkirchen verbundenes Risiko vermeiden können. Zwar sei gerade bei Fortbildungsveranstaltungen eine scharfe Trennung zwischen dienst- und privatwirtschaftlicher Tätigkeit oft schwierig. Ein so weites Wegfahren vom Kursort in Graz nach Neunkirchen könne aber auch bei großzügiger Auslegung des örtlichen Zusammenhanges mit der die Versicherung begründenden Tätigkeit nicht mehr als vom Versicherungsschutz umfaßt angesehen werden.

In der Revision macht die Klägerin unrichtige rechtliche Beurteilung (der Sache) geltend und beantragt, eine mündliche Revisionsverhandlung anzuberaumen und die Urteile der Vorinstanzen im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder sie allenfalls aufzuheben.

Die Beklagte beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Da dem Revisionsgericht die von der Revisionswerberin beantragte Anordnung einer mündlichen Revisionsverhandlung nicht erforderlich erschien (§ 509 Abs 2 ZPO), war dieser Antrag abzuweisen und über die Revision nach der Regel des Abs 1 leg cit in nichtöffentlicher Sitzung ohne vorhergehende mündliche Verhandlung zu entscheiden.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist berechtigt.

Der erkennende Senat hat sich in der von der Revisionsgegnerin zit E 30.3.1993, 10 Ob S 60/93 nach Darstellung der vergleichbaren geltenden Rechtslagen in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich, ihrer historischen Entwicklungen und ihrer Auslegung durch die deutsche und österreichische Lehre und Rechtsprechung eingehend mit dem Unfallversicherungsschutz auf solchen Wegen zur und von der Arbeits(ausbildungs)stätte auseinandergesetzt, die nicht von oder nach dem ständigen Aufenthaltsort angetreten wurden, und dazu zusammenfassend ausgeführt:

"Tomandl leitet in Tomandl, Grenzen der Leistungspflicht 149 aus den zur Einführung des § 545a Abs 2 RVO durch das 5. UV-Änderungsgesetz RGBl 1939 I S 267 führenden Motiven zutreffend ab, diese Sondernorm mache deutlich, daß der Gesetzgeber schon bei der Wahl der Endpunkte Zumutbarkeitsgesichtspunkte eingeführt habe. Die Unfallversicherung habe für Unfälle auf Arbeitswegen von und zu allen Orten einzustehen, die gewählt wurden, weil der Versicherte seine Wohnung nicht benutzen konnte, oder weil ihm deren Benutzung nicht zumutbar war (so auch Tomandl, Leistungsrecht der Unfallversicherung 41). IS der in SSV-NF 6/144 dargestellten österreichischen Lehre und Rechtsprechung müssen allerdings objektive Gründe vorliegen, die den Versicherten veranlassen, seine Wohnfunktionen an einem anderen Orte als der 'ständigen' Wohnung auszuüben. Diese sind jedenfalls dann beachtlich, wenn ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Beschäftigung besteht (sa Gitter, Sozialrecht3, 128)."

Diese Voraussetzungen wurden in der zit E bejaht. Die damalige Klägerin schlief in der Nacht vor dem Unfallstag nur deshalb in der Wohnung ihrer Tochter, weil sie an diesem Tag ausnahmsweise nicht mit dem firmeneigenen Bus zur Arbeit fahren konnte. Während sie für die Fahrt von ihrer Wohnung zur Arbeitsstätte vier Massenverkehrsmittel hätte benützen müssen, mit denen sie 1 1/4 bis 1 1/2 Stunden unterwegs gewesen wäre, hätte sie für die Fahrt von der Wohnung ihrer Tochter zur Arbeitsstätte mit nur zwei Massenverkehrsmitteln lediglich 20 bis 30 Minuten gebraucht. Unter diesen Umständen erachtete der erkennende Senat den Antritt des Weges zur Arbeitsstätte von der Wohnung der Tochter und nicht von der "ständigen" Wohnung der Versicherten als objektiv begründet und mit der vesicherten Beschäftigung auch in einem inneren Zusammenhang stehend. Es sei auch anzunehmen, daß der nach Kilometern und Zeit erheblich längere Weg von der "ständigen" Wohnung auch mit einem höheren Unfallsrisiko verbunden gewesen wäre als der tatsächlich begonnene.

Diese Überlegungen treffen auch auf den nunmehr zu entscheidenden Fall zu:

Die Klägerin verbrachte das freie Wochenende zwischen dem ersten und zweiten Block der vom Dienstgeber angeordneten Außendienstschulung, zu der sie von ihrer "ständigen" Wohnung in Bregenz nach Graz fahren mußte, deshalb bei einer in Neunkirchen wohnenden Schulungskollegin, weil sie miteinander für die Schulung lernten, aber auch deshalb, weil sei für die Fahrt von Graz nach Bregenz und zurück jeweils mit dem Pkw etwa acht Stunden, mit der Bahn etwa elf Stunden benötigt hätte, für die Fahrt von Graz nach Neunkirchen und zurück hingegen jeweils lediglich etwa zwei Stunden.

Daß die Klägerin am 14.4.1991 die Fahrt zu ihrer damaligen vorübergehenden Arbeitsstätte in Graz nicht von ihrer "ständigen" Wohnung in dem rund 600 km entfernten Bregenz, sondern von dem nur rund 150 km entfernten Neunkirchen antrat, wo sie mit einer Schulungskollegin für die vom Dienstgeber angeordnete Schulung gelernt hatte, war daher durch die genannten Umstände objektiv begründet und stand mit der versicherten Beschäftigung auch in einem inneren Zusammenhang.

Aus dem 2. Halbsatz des § 175 Abs 2 Z 1 ASVG ergibt sich - entgegen der Meinung der Revisionsgegnerin -, daß die Versicherung des Weges von oder nach dem ständigen Aufenthaltsort der Klägerin auch dann nicht ausgeschlossen worden wäre, wenn die Klägerin wegen der Entfernung ihres ständigen Aufenthaltsortes von der vorübergehenden Arbeits(Ausbildungs)stätte in Graz auf dieser oder in ihrer Nähe eine Unterkunft gehabt hätte. Daß die Klägerin das arbeits(ausbildungs)freie Wochenende zwischen den beiden Schulungsblöcken nicht in Graz oder in einem näheren Umkreis als Neunkirchen verbrachte, kann die erwähnten objektiven und in einem inneren Zusammenahng mit der versicherten Beschäftigung stehenden Gründe für den Antritt der Fahrt zur Arbeits(ausbildungs)stätte von Neunkirchen nicht aufheben.

Der Unfall der Klägerin vom 14.4.1991 ist daher als Arbeitsunfall iS des § 175 Abs 2 Z 1 ASVG zu beurteilen.

Dennoch ist die Rechtssache noch nicht zur Entscheidung reif.

Einerseits erscheint das auf "Anerkennung des Unfalles vom 14.4.1991 als Arbeitsunfall" gerichtete Begehren erörterungsbedürftig. Nach § 65 Abs 2 ASGG gilt als Feststellung eines Rechtsverhältnisses oder Rechts auch diejenige, daß eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeits(Dienst)unfalls ... ist (§ 367 Abs 1 ASVG). In einem solchen Begehren wären daher die Gesundheitsstörungen zu nennen; dabei ist es allerdings nicht erforderlich, einen bestimmten Grad derselben anzuführen (§ 82 Abs 3 Z 2 ASGG).

Andererseits werden hinsichtlich des auf eine Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß gerichteten Leistungsbegehrens die für den Anfall und die Bemessung dieser Leistung wesentlichen Voraussetzungen zu erörtern und festzustellen sein.

Die Urteile der Vorinstanzen waren daher aufzuheben; die Rechtssache war zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (§§ 496, 499, 503 Z 4, 510, 511 und 513 ZPO).

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten des Berufungsverfahrens und der Revision beruht auf dem nach § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte