OGH 10ObS163/93

OGH10ObS163/9321.9.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Ilona Gälzer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Franz Riepl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Eleonore F*****, Kellnerin, ***** vertreten durch Dr.Werner Posch, Rechtsanwalt in Gloggnitz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr.Anton Rosicky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18.Februar 1993, GZ 33 Rs 144/92-29, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 10. Juli 1992, GZ 3 Cgs 208/91-25, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.

Text

Begründung

Die am 8.2.1944 geborene Klägerin hat im gastwirtschaftlichen Betrieb ihrer Mutter von 1961 bis 1965 die Koch- und Kellnerlehre absolviert, jedoch keine Gesellenprüfung abgelegt. Von 1969 bis 1974 und von 1978 bis Ende 1990 war sie weiterhin im mütterlichen Betrieb als Kellnerin tätig. Es handelte sich um ein Landgasthaus. Die Klägerin verrichtete dort alle dem Berufsbild der Kellnerin entsprechenden Arbeiten und erwarb die Kenntnisse und Fähigkeiten einer gelernten Kellnerin. Aufgrund gesundheitsbedingter Einschränkungen kann sie nur mehr leichte, drittelzeitig gleichmäßig auf den Arbeitstag verteilt auch mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen verrichten. Arbeiten, die dauernd im Stehen und Sitzen zu verrichten sind, scheiden aus; bei Verrichtung einer stehenden und/oder sitzenden Tätigkeit muß sie die Möglichkeit haben, nach etwa einer Stunde Ausgleichsbewegungen (Bewegung der Beine durch Gehen) für etwa 5 Minuten zu machen. Während dieser Zeit kann sie auch Arbeiten durchführen. Ausgeschlossen sind Arbeiten, die mit erhöhtem Verletzungsrisiko einhergehen wie etwa auf höheren Leitern und Gerüsten, an ungeschützten laufenden Maschinen sowie Arbeiten, bei denen es ständig zu starker Hitzeentwicklung kommt. Das Betreten einer Küche bei Servier- und Kellnertätigkeit ist möglich.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.März 1991 gerichtete Klagebegehren ab. Es ging davon aus, daß die Klägerin zwar den Beruf der Kellnerin angelernt habe und Berufsschutz genieße, verneinte aber das Vorliegen der Invalidität, weil sie auf Kellnertätigkeiten insbesondere in Kaffeehäusern, Konditoreien und Bars verweisbar sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und änderte das angefochtene Urteil dahin ab, daß es die Beklagte schuldig erkannte, der Klägerin ab 1.3.1991 die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren und eine vorläufige Zahlung von monatlich 3.000,-- S zu erbringen. Die Klägerin habe den Beruf der Kellnerin angelernt. Deren Aufgabenbereich umfasse das Servieren von Speisen und Getränken, die dazu notwendigen Vorbereitungsarbeiten und die Beratung und Betreuung der Gäste. Das Erstgericht habe sie jedoch auf Tätigkeiten verwiesen, durch die ihr bisheriger Berufsschutz verlorenginge. In Kaffeehäusern, Konditoreien und ähnlichen Betrieben würden vorwiegend angelernte Kräfte beschäftigt, weil dort wesentlich geringere Anforderungen als in einem Restaurant gestellt würden. Allein die Zahl der angebotenen Speisen unterscheide sich erheblich von jenen in einem Restaurant und es handle sich häufig um sogenannte Imbisse. Die Einschulung für diese Serviertätigkeit dauere höchstens drei bis sechs Monate. Das bloße Servieren stelle eine Teiltätigkeit des Berufsbildes des Kellners dar, dem von der Gesamtheit des Tätigkeitsbereiches des Kellners keine weit überwiegende Bedeutung zukomme. Da die Kenntnisse der Klägerin als angelernte Kellnerin bei einer Serviertätigkeit in Kaffeehäusern usw. nicht verwertet werden müsse, bestünde bei Ausübung dieser Tätigkeit kein Berufsschutz mehr. Aufgrund ihres Leidenszustandes sei die Klägerin nicht mehr in der Lage, den angelernten Beruf als Kellnerin weiterhin auszuüben, weil sie nur in einem Drittel der Arbeitszeit mittelschwere Arbeiten verrichten könne; beim Kellnerberuf würden aber in mehr als einem Drittel der Arbeitszeit mittelschwere Arbeiten in Form von Serviertätigkeiten vorkommen, die der Klägerin nicht mehr zugemutet werden könnten.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der beklagten Partei aus den Revisionsgründen der Nichtigkeit und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache mit dem Antrag auf Abänderung dahin, daß das erstgerichtliche Urteil wiederhergestellt werde, hilfsweise auf Aufhebung und Zurückverweisung der Sache.

Die Klägerin beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Die geltend gemachte Nichtigkeit liegt allerdings nicht vor. Die Beklagte rügt unter diesem Revisionsgrund, daß das Erstgericht nach der ihr zugegangenen Protokollsabschrift die Verhandlung nicht geschlossen, sondern "kurzfristig" erstreckt habe. Welchen Inhalt die der Beklagten zugekommene Protokollsabschrift hatte, braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. Die im Gerichtsakt erliegende maßgebende Urschrift des Verhandlungsprotokolls vom 10.Juli 1992 (ON 23) hält fest, daß im Anschluß an die "kurzfristige Erstreckung" der Vorsitzende den in nichtöffentlicher Beratung gefaßten Beschluß verkündete, daß die Verhandlung geschlossen werde und die Entscheidung schriftlich ergehe. Soweit nicht ein ausdrücklicher Widerspruch einer Partei vorliegt, liefert das in Gemäßheit der §§ 207 ff ZPO errichtete Protokoll über den Verlauf und Inhalt der Verhandlung vollen Beweis (§ 215 Abs 1 ZPO). Nach dem Inhalt dieses Protokolls ist also davon auszugehen, daß das Erstgericht die Verhandlung geschlossen und das Urteil der schriftlichen Ausfertigung vorbehalten hat.

In ihrer Rechtsrüge steht die Beklagte zunächst zu Unrecht auf dem Standpunkt, die Klägerin genieße keinen Berufsschutz als angelernte Kellnerin. Dem stehen die unangefochten gebliebenen erstgerichtlichen Feststellungen entgegen, wonach die Klägerin nicht nur die Kellnerlehre absolviert, sondern in den letzten 15 Jahren vor Antragstellung alle Tätigkeiten ausübte, die die Haupttätigkeit eines gelernten Kellners darstellen. Weiters wurde festgestellt, daß die Klägerin alle Kenntnisse und Fähigkeiten einer gelernten Kellnerin erworben hat.

Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (SSV-NF 3/29 = SZ 62/37 ua) kann ein Versicherter, der überwiegend in einem erlernten oder angelernten Beruf tätig war, nicht auf Teiltätigkeiten dieses Berufes verwiesen werden, bei denen er den Berufsschutz verlieren würde. Die Tätigkeit, auf die der Versicherte verwiesen wird, muß daher eine Tätigkeit in einem erlernten (angelernten) Beruf im Sinne des § 255 Abs 1 und 2 ASVG sein. Aber auch hier ist nur der Inhalt, die Qualifikation der erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung der Teiltätigkeit für die Beurteilung maßgeblich (SSV-NF 4/2).

Das Erstgericht stellte fest, daß die Klägerin noch als Kellnerin tätig sein könne, dies "insbesondere" in Kaffeehäusern, Konditoreien und Bars. Es folgte dabei dem berufskundlichen Sachverständigengutachten und führte dazu in seiner Beweiswürdigung aus, es sei einleuchtend, daß insbesondere in Kaffeehäusern, Konditoreien und Bars, wo neben Getränken "grundsätzlich" nur kleine Speisen serviert werden, nur fallweise mittelschwere Hebe- und Trageleistung verlangt würden. Das Berufungsgericht hingegen war der Auffassung, daß es sich bei den in Kaffeehäusern und Konditoreien verlangten Serviertätigkeiten nicht um qualifizierte Tätigkeiten handle, weshalb dadurch der Berufsschutz einer gelernten oder angelernten Kellnerin verlorenginge. Es verwies dabei in seiner rechtlichen Beurteilung auf Anforderungen, die an Kellnerinnen und Serviererinnen gestellt würden, für die sich aber keine Feststellungsgrundlagen finden. Im vorliegenden Fall geht es auch nicht darum, ob die Klägerin durch qualifizierte Tätigkeiten Berufsschutz als angelernte Kellnerin erlangte, woran nach den obigen Darlegungen nicht mehr zu zweifeln ist, sondern ob sie diesen Berufsschutz bei einer Verweisung auf andere Tätigkeiten verlieren würde. Nach der Entscheidung SSV-NF 4/166 wurde einer Versicherten, die im Beobachtungszeitraum überwiegend als Serviererin in einer Imbißstube beschäftigt war, in der Würstl, Pommes frites, Grillkoteletts und gegrillte Hühner angeboten wurden, der Berufsschutz als angelernte Kellnerin versagt, weil dabei keine Kenntnisse und Fähigkeiten in jenem Ausmaß zum Tragen gekommen seien, das hiefür üblicherweise von gelernten Arbeitern dieser Berufsgruppe erwartet werde. Die sich aus dem medizinischen Leistungskalkül der Klägerin ergebenden Einschränkungen wirken sich aber gerade auf den Umfang der noch zumutbaren Serviertätigkeit aus, während die Klägerin zu anderen Teiltätigkeiten des Kellnerinnenberufes durchaus noch befähigt ist. Es fehlen aber Feststellungen darüber, ob es auf dem österreichischen Arbeitsmarkt eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen gibt, auf denen die Klägerin trotz der eingeschränkten Hebe- und Trageleistung den Beruf einer Kellnerin noch ausüben könnte, etwa auch in Kaffeehäusern, Konditoreien und Bars, wo möglicherweise - namentlich in gehobeneren Betrieben - Kellner(innen) beschäftigt werden, von denen man erwartet, daß sie die angebotenen Speisen und ihre Zubereitung sowie alle Getränke kennen und die Gäste beraten. Daß die Klägerin nur mehr zu Serviertätigkeiten unqualifizierter Art befähigt wäre, wie das Berufungsgericht anzunehmen scheint, wurde nämlich vom Erstgericht nicht festgestellt. Daß in Kaffeehäusern möglicherweise vorwiegend "angelernte" Kräfte verwendet werden, wie das Berufungsgericht ausführt, sagt nichts darüber aus, wieviele Arbeitsplätze vorhanden sind, auf denen die Klägerin trotz ihrer Einschärnkungen im Hebe- und Tragebereich noch als Kellnerin arbeiten könnte.

Die Sache ist aber auch aus einem anderen Grund nicht spruchreif. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senates kann nämlich eine angelernte Kellnerin grundsätzlich auf die Tätigkeiten einer Küchenkassierin verwiesen werden (SSV-NF 2/128; vgl auch SSV-NF 6/4). Ob dies auch im Fall der Klägerin möglich ist, wurde bisher nicht erörtert. Insbesondere steht nicht fest, welche Anforderungen derzeit an Küchenkassierinnen gestellt werden und wieviel Arbeitsplätze auf dem österreichischen Arbeitsmarkt in diesem Beruf zur Verfügung stehen. In dem der Entscheidung SSV-NF 2/128 zugrundeliegenden Fall war festgestellt worden, daß im Bundesgebiet eine 100 übersteigende, aber 200 nicht erreichende Zahl von derartigen Arbeitsplätzen vorhanden sei. Wohl betraf diese Entscheidung den Beruf der Küchenkassierin, doch kann hieraus für den vorliegenden Fall nichts abgeleitet werden: Solange eine Tatsache nicht aufgrund einer Mehrzahl gleichartiger Entscheidungen offenkundig ist, hier also die Zahl der Arbeitsplätze für Küchenkassierinnen, muß sie in jedem Verfahren von den Tatsacheninstanzen geprüft und neuerlich festgestellt werden, wobei Vorentscheidungen nur im Rahmen der Würdigung von Beweisen zum Tragen kommen können (SSV-NF 6/4 = DRdA 1992, 367 [Harrer]).

Der Revision war daher Folge zu geben. Da es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Sache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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