OGH 7Ob21/93

OGH7Ob21/931.9.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Warta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter, Dr.Graf Dr. Schalich und Dr. I. Huber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Walter S*****, vertreten durch Dr.Werner Schmid, Rechtsanwalt in Braunau am Inn, gegen die beklagte Partei W***** Versicherungsanstalt, ***** vertreten durch Zamponi-Weichselbaum und Partner, Rechtsanwälte in Linz, wegen S 89.540 sA, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz vom 16. März 1993, GZ 4 R 200/92-35, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz vom 3. Juli 1992, GZ 7 Cg 45/90-29, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie zu lauten haben:

"Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei S 89.540,- samt 4 % Zinsen seit 8.9.1988 zu zahlen, wird abgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit insgesamt S 58.411,80 (darin S 6.183,30 Umsatzsteuer und S 21.309,- Barauslagen) bestimmten Kosten dieses Rechtsstreits binnen 14 Tagen zu ersetzen."

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger erlitt bei einem von ihm als Lenker eines PKWs verursachten Unfall am 3. März 1988 unter anderem eine Verletzung der Brustwirbelsäule, die eine bleibende Invalidität von 20 % zur Folge hatte. Er war zum Unfallszeitpunkt bei der beklagten Partei unfallversichert. Der Versicherung lagen die Allgemeinen Bedingungen für die Unfall- und Fluggastunfallversicherung (U/Flug 1975) zugrunde, deren Art. 5 lautet: "Nicht versicherungsfähige Personen:

Versicherungsunfähig und trotz Prämienzahlung nicht versichert sind

a) Personen, die von Epilepsie oder schweren Nervenleiden befallen sind, ferner Geisteskranke, Blinde, Taube, Gelähmte und solche Personen, die nach den Bestimmungen des Art 10 mehr als 70 % dauernd invalid sind, b) Kinder bis zur Vollendung des 2. Lebensjahres."

Der Kläger begehrte (zuletzt) eine Invaliditätentschädigung von S

89.540.

Die beklagte Partei beantragte Klagsabweisung, weil der Kläger seit 1979 an Epilepsie leide, so daß er gemäß Art 5 der Versicherungsbedingungen versicherungsunfähig sei.

Das Erstgericht gab der Klage statt. Es traf zusammengefaßt folgende weitere Feststellungen:

Im Sommer 1979 erlitt der Kläger zwei epileptische (generalisiert tonisch-klonische) Anfälle. Bei der anschließenden Untersuchung wurde ein Falxmeningion festgestellt, das am 30. August 1979 operativ entfernt wurde. Im Dezember 1979 trat beim Kläger nach reichlichem Alkoholkonsum wieder ein epileptischer Anfall auf.

Am 24. September 1988 - also nach dem Verkehrsunfall vom 3. März 1988 - stürzte der Kläger aus ca. 1,5 m Höhe von einem Zwetschkenbaum, wobei er sich eine Schädelfraktur rechts zuzog. Am 18. Jänner 1991 erlitt er neuerlich einen epileptischen Anfall, nachdem er am Vortag bei einer Feier relativ große Mengen Alkohol zu sich genommen und kaum geschlafen hatte. Er wurde deshalb vom 18. Jänner bis 23. Jänner 1991 stationär behandelt.

Nach der Tumoroperation erhielt der Kläger für die Dauer etwa eines Jahres drei Epilan-Tabletten pro Tag und anschließend bis etwa Mitte 1987 eine Tablette pro Tag verschrieben. Er nahm dann bis zu seinem Autounfall am 3. März 1988 nur mehr fallweise, insbesondere bei einem Wetterumschwung, ein Epilan-Tablette. Seither wurden ihm diese Tabletten weder verschrieben noch nahm er sie ein. Lediglich während seiner Spitalsbehandlung anläßlich des letzten Anfalles vom 18. Jänner 1991 erhielt er wieder dieses Medikament.

Nach einer Hirntumoroperation - die beim Kläger durch cerebrale Komplikationen behaftet war (Halbseitenschwäche links) - bleiben meistens intracerebrale Narben, die, wenn auch nicht sehr häufig (in 10 bis 20 % der Fälle) epileptische Anfälle auslösen können. Aus diesem Grund wird in der Regel prophylaktisch jedem Hirntumor-Operierten ein anti-epileptisches Medikament für ein bis zwei Jahre verordnet.

Mehrere EEG-Untersuchungen ergaben beim Kläger eine herdförmige Störung rechts frontal und parietal, wobei diese Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit als Folge der Hirntumoroperation anzusehen ist. Eindeutige Hinweise auf eine vermehrte cerebrale Anfallsbereitschaft wurden jedoch nie beschrieben. Eine solche lag auch nie vor. Der neurologische Befund beim Kläger ist völlig unauffällig. Auch der psychiatrische Status zeigt keine pathologischen Auffälligkeiten. Der Kläger hat jedoch mehrere prädisponierende Faktoren, die einen situationsbedingten Gelegenheitsanfall auslösen können (Narbe nach Hirntumoroperation, chronischer Alkoholismus, Schlafentzug, EEG-Herd). Solche Gelegenheitsanfälle sind von der anlagebedingten (genuinen) Epilepsie zu unterscheiden. Letztere kann beim Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind die Unfälle vom 3. März 1988 und 24. September 1988 nicht durch einen anlage bedingten (genuinen) epileptischen Anfall ausgelöst worden, sondern handelte es sich dabei jeweils um einen situationsbedingten Gelegenheitsanfall, der keine Epilepsie im medizinischen Sinn darstellt.

Im Rahmen seiner Beweiswürdigung führt das Erstgericht unter anderem aus: "Auf Grund der Ausführungen des Sachverständigen Prof.Dr.Dieter Klingler in seinem Gutachten hat das Erstgericht als erwiesen angenommen, daß der Unfall vom 3.März 1988 mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf eine tatsächliche Epilepsie im medizinischen Sinn (nämlich eine genuine, anlagebedingte Epilepsie) zurückzuführen ist, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit nur ein sogenannter situationsbedingter Gelegenheitsanfall vorlag........ Die drei bekannten Anfälle seit der Operation im Jahre 1979 (nämlich am 3. März 1988 und am 24.September 1988 bei Unfällen, sowie am 18.Jänner 1991) sind jedesmal nach einem vorangegangenen größeren Alkoholkonsum entstanden."

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Ansicht, daß der Kläger zum Unfallszeitpunkt nicht an einer anlagebedingten, echten Epilepsie gelitten habe, sondern daß nur ein situationsbedingter Gelegenheitsanfall vorgelegen sei, der nicht als Epilepsie im medizinischen und juristischen Sprachgebrauch zu bezeichnen sei.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und sprach aus, daß die ordentliche Revision zulässig sei. Art. 5 der U/Flug 1975 sei dahin auszulegen, daß unter dem dort erwähnten Begriff der Epilepsie nur die Epilepsie im engeren Sinn, nicht aber das Auftreten von Gelegenheitskrämpfen als Symptom einer anderen Erkrankung des Gesamtorganismus oder des Gehirnes selbst zu verstehen sei.

Die dagegen von der beklagten Partei erhobene Revision ist begründet.

Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist jedoch aus folgenden rechtlichen Erwägungen berechtigt:

Die Epilepsie wird bei der Aufzählung der Fälle der Versicherungsunfähigkeit in den Versicherungsbedingungen U/Flug 1975 besonders genannt, weil sie im medizinischen Sinne nicht ohne weiteres als schweres Nervenleiden anzusehen ist (Wussow, AUB3, 119). Ein schweres Nervenleiden liegt nach herrschender Auffassung vor, wenn es progredient und unbeeinflußbar, also bis zum Tod fortschreitet, oder wenn es schubweise auftritt und die einzelnen Schübe einen lebensbedrohenden Zustand oder ein Siechtum herbeiführen können (Wussow aaO; Grimm, AUB, 108, Rz 4 zu § 5 AUB; Prölss/Martin VVG25, 2.087).

Der Argumentation des Berufungsgerichtes, daß wegen der Aufzählung der Epilepsie gemeinsam mit schweren Nervenleiden usw. nur ein ebenso gravierendes Leiden und daher nur die Epilepsie im engeren Sinn (chronisch redizivierende Anfälle) zu verstehen sei, kann daher nicht gefolgt werden.

Bei der Auslegung von derartigen Klauseln in Versicherungsbedingungen ist grundsätzlich von ihrem Sinn und Zweck auszugehen. Es kommt nicht auf die fachwissenschaftliche Terminologie der ärztlichen Wissenschaft, sondern auf den allgemeinen Lebenssprachgebrauch an. Maßgebend ist, was der nicht ärztlich gebildete Versicherungsnehmer unter dem Ausdruck verstehen darf (Wagner in ZVersW 1975, 622 f; Grimm, AUB, Rz 2 zu § 3 AUB; Prölss/Martin, VVG25, S 29, 31 ff). Allgemeine Versicherungsbedingungen, die nach objektiven Gesichtspunkten als unklar aufzufassen sind, müssen so ausgelegt werden, wie sie der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer verstehen mußte. Es ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck der Bestimmung zu berücksichtigen (VersE 1472; VR 1990/182 u. a.).

Die unter anderem in U/Flug 1975 enthaltene, im vorliegenden Fall strittige Regelung sollte die betroffenen Personen wegen der bei ihnen bestehenden außergewöhnlich hohen Unfallgefahr von der Versicherung ausschließen (Wussow, AUB6, 141). Es sollte nur das gleichsam normale Unfallrisiko gedeckt werden (Wagner in ZVersW 1975, 638).

Diese außergewöhnliche Unfallgefahr ist bei einem epileptischen Anfall unabhängig davon gegeben, ob der Anfall auf eine anlagebedingte Epilepsie zurückzuführen ist, oder ob es sich dabei um einen Gelegenheitsanfall handelt.

Ungeachtet dessen, daß die Bestimmung über nicht versicherbare Personen in den Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung im Lauf der Zeit ihren Charakter grundlegend geändert hat und insbesondere auch der Tatbestand der Epilepsie bei der Versicherungsunfähigkeit überhaupt eliminiert wurde (vgl. hiezu Wussow, AUB6, 141 f sowie Grimm, AUB, 86, Rz 30 zu § 3 AUB), kann daher in der hier anzuwendenden Bestimmung eine zu Lasten des Versicherers führende Unklarheit nicht erblickt werden. Die aufgezeigten Auslegungskriterien führen dazu, daß eine an epileptischen Anfällen leidende Person vom Unfallversicherungsschutz ausgenommen sein soll, und zwar unabhängig davon, welche Ursachen die Anfälle haben und unter welche Kategorie der medizinischen Terminologie die Anfälle einzureihen sind.

Aus den insoweit auch vom Kläger selbst unbekämpft gebliebenen und vom Berufungsgericht in ihrer Gesamtheit übernommenen Feststellungen ergibt sich, daß der Kläger insgesamt 6 (bekannt gewordene) epileptische Anfälle erlitten hat, wovon 2 Anfälle vor seiner Tumoroperation und 4 Anfälle danach, nämlich Ende 1979, am 3.3.1988, am 24.9.1988 und am 18.1.1991 aufgetreten sind; daß die beiden Anfälle vom 3.3. und 24.9.1988 auch jeweils die Ursache der an diesen Tagen erlittenen Unfälle waren, und daß es sich bei den 4 zeitlich nach der Tumoroperation liegenden Anfällen nicht um solche, die auf eine anlagebedingte Epilepsie zurückzuführen sind, sondern um eine Anfallsform, die die medizinische Wissenschaft als situationsbedingten Gelegenheitsanfall bezeichnet.

Der Kläger hat demnach nach seiner Hirntumoroperation vier weitere, sich in der fraglichen Zeit häufende epileptische Anfälle erlitten.

Im Zusammenhang mit der Tatsache, daß beim Beklagten mehrere Risikofaktoren für das Auftreten epileptischer Anfälle zutrafen (Zustand nach Gehirntumoroperation, ungeachtet dessen fortdauernder Alkoholabusus), ist er daher nach dem allgemeinen Sprachgebrauch im Unfallszeitpunkt als Epileptiker und als solcher nach den oben aufgezeigten Auslegungskriterien als jener Risikoträger anzusehen, der in den hier maßgeblichen Versicherungsbedingungen als nicht versicherungsfähig bezeichnet wird.

Das Klagebegehren erweist sich damit als nicht berechtigt, sodaß der Revision Folge zu geben und die Entscheidungen der Vorinstanzen abzuändern waren.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

Hinsichtlich der Kosten erster Instanz war die Kostennote der beklagten Partei insoweit zu kürzen, als von den beiden kurz aufeinanderfolgenden Schriftsätzen mit Urkundenvorlage vom 14.8. und 4.9.1990 nur einer als zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung zu honorieren war, für den Schriftsatz vom 20.11.1990 (Antrag auf Bestellung eines weiteren Gutachters) nur Tp 2 anstatt Tp 3 RAT zusteht und für den Schriftsatz vom 9.1.1992 kein Kostenersatz zuzuerkennen war, weil dem darin enthaltenen Antrag auf Bestellung eines weiteren psychiatrischen Sachverständigen nicht entsprochen wurde und das übrige Vorbringen auch in einem vorangegangenen Schriftsatz oder einer der Tagsatzungen zur mündlichen Streitverhandlung vorgebracht hätte werden können. Weiters war das Ersatzbegehren für den am 10.9.1991 zu PG 2063/91 erlegten Kostenvorschuß in Höhe von S 4.000,- abzuweisen, weil dieser Betrag zur Gänze als nicht verbraucht zurücküberwiesen wurde. Da die für die Anfertigung von Fotokopien verzeichneten Barauslagen von einmal S 1.387,20 und einmal S 489,60 weder belegt wurden noch der Höhe nach nachvollziehbar sind, wurde der hiefür angemessen erscheinende Betrag von insgesamt S 500,- zuerkannt.

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