OGH 10ObS110/93

OGH10ObS110/9324.8.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag.Kurt Resch (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag.Kurt Retzer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Eugen C*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Gerlinde Dellhorn, Rechtsanwältin in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19.März 1993, GZ 33 Rs 160/92-23, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 24.Juli 1992, GZ 4 Cgs 752/91-20, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.

Text

Begründung

Das Erstgericht erkannte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten schuldig, dem Kläger ab dem 1.April 1992 die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Der am 20.10.1941 geborene Kläger erlernte keinen Beruf. Bis zum Jahr 1976 arbeitete er bei der P***** Textilwerke AG, seit 1979 war er bei der Firma H*****, einer Ringspinnerei und Spulerei in T***** in der Spulerei tätig. Nach einer Anlernzeit von etwa einem Jahr, also im Jahr 1980, wurde er zum Spulereimeister bestellt. Ab diesem Zeitpunkt kam ihm die Stellung eines Spulerei- und Servicemeisters für Textilmaschinen zu. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Spulen zu bewegen, selbständig Textilmaschinen zu betreuen, zu reparieren und Serviceleistungen zu erbringen sowie Mitarbeiter zu beaufsichtigen; er mußte aber auch manuell mitarbeiten. Für die Ausführung der Arbeiten und die Qualität der Produktion war er allein verantwortlich. Er arbeitete mit Hilfskräften und war diesen gegenüber weisungsbefugt. Wegen gesundheitsbedingter Einschränkungen kann er nur mehr leichte Arbeiten verrichten, wobei Tätigkeiten ausscheiden, die mit gehäuftem Bücken verbunden sind. Aufgrund dieses Kalküls kann er die Tätigkeit eines Spulers (Meisters, Vorarbeiters) nicht mehr verrichten.

In rechtlicher Hinsicht folgerte das Erstgericht, es gebe keine verwandten oder ähnlichen Berufe, auf die der Kläger verwiesen werden könnte. Eine Verweisung auf Weber oder Spinnereivorarbeiter würde ebenfalls das medizinische Kalkül übersteigen. Der Kläger sei langjährig als Spuler tätig gewesen und habe im Lauf seiner Tätigkeit die Qualifikation des Spulereimeisters erworben. Für die Tätigkeit als Material- oder Fertigungsprüfer in anderen Branchen mangelten ihm die entsprechenden beruflichen und fachlichen Vorkenntnisse. Der Kläger sei daher berufsunfähig.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und wies das Klagebegehren ab. Der Anspruch des Klägers, der trotz seiner Versicherung als Angestellter Arbeitertätigkeiten verrichtet habe, sei nach dem Invaliditätsbegriff des § 255 ASVG zu beurteilen. Das Erstgericht habe festgestellt, daß ein Spuler innerbetrieblich angelernt werde, wobei die Anlernzeit einige Tage betrage. Seit 1979 sei der Kläger in der Spinnerei tätig gewesen und nach einer Anlernzeit von etwa einem Jahr, also im Jahr 1980 (unrichtig 1990) zum Spulereimeister bestellt worden. Entgegen der Ansicht des Erstgerichtes genieße der Kläger aber keinen Berufsschutz. Für die Tätigkeit als Spulerei- und Servicemeister sei der Kläger in etwa einem Jahr angelernt worden. Eine solche Zeit der Anlernung erreiche bei weitem nicht die durchschnittliche Lehrzeit von 3 Jahren für einen Lehrberuf. Darüber hinaus sei bei dem Tätigkeitsbereich des Klägers als Spulerei- und Servicemeister nicht zu erkennen, daß er über qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt habe, die vergleichsweise gelernte Arbeiter ganz allgemein beherrschten. Da der Kläger überwiegend ungelernte Arbeitertätigkeiten ausgeführt habe, sei er beispielsweise auf die Tätigkeiten eines Portiers oder Betriebswächters zu verweisen und demnach nicht als invalid im Sinn des § 255 Abs.3 ASVG anzusehen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist im Sinne des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrages berechtigt.

Bildet die Berufstätigkeit des Versicherten, die er während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausübte, einen Teil eines Lehrberufes, so ist zur Lösung der Frage des Berufsschutzes dieser Lehrberuf zum Vergleich heranzuziehen. Trifft dies aber nicht zu, weil kein Lehrberuf vorhanden ist, der die Berufstätigkeit des Versicherten einschließt, so muß auf jenen Lehrberuf zurückgegriffen werden, der mit ihr am ehesten verwandt ist. Dabei ist wieder auf die auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten dieses Lehrberufes Bedacht zu nehmen und jene Variante zum Vergleich heranzuziehen, die der vom Versicherten ausgeübten Berufstätigkeit am nächsten kommt. Hiefür wird etwa maßgebend sein, ob das be- oder verarbeitete Material das gleiche oder ähnliche ist, ob ähnliche Maschinen oder Werkzeuge verwendet werden, ob ähnliche Arbeitsgänge vorkommen etc. Dabei ist es durchaus denkbar, daß sich die Tätigkeit eines Versicherten als Mischtätigkeit von Teiltätigkeiten mehrerer Lehrberufe darstellt und der Versicherte aus jedem Lehrberuf zwar nur einzelne Teiltätigkeiten beherrscht, die Summe dieser Teiltätigkeiten jedoch ein Maß erreicht, das die Annahme des Vorliegens von einem Lehrberuf vergleichbaren Kenntnissen und Fähigkeiten rechtfertigt (SSV-NF 5/76, 4/111 ua).

Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, daß es den Lehrberuf des Spulers nicht (mehr) gibt. Bereits in der Lehrberufsliste 1969 waren allerdings die Lehrberufe "Textilmechaniker in der Spinnerei" und "Textilmechaniker in der Weberei" enthalten. In der Lehrberufsliste 1975 findet sich nur mehr der Lehrberuf "Textilmechaniker", für den mit Verordnung vom 27.6.1975 BGBl. 1975/347, geändert durch BGBl. 1983/435, Ausbildungsvorschriften erlassen wurden. Das Berufsbild des Textilmechanikers wurde dort wie folgt umschrieben: Handhaben und Instandhalten der zu verwendenden Werkzeuge, Maschinen, Vorrichtungen, Einrichtungen und Arbeitsbehelfe; Kenntnis der Werk- und Hilfsstoffe für die Metallbearbeitung, ihrer Eigenschaften, Verarbeitbarkeit und Verwendungsmöglichkeiten; Kenntnis der textilen Rohstoffe, ihrer Eigenschaften, Verarbeitbarkeit und Verwendungsmöglichkeiten; Messen, Anreißen, Feilen, Sägen, Bohren, Scharfschleifen, Gewindeschneiden, Weichlöten, Drehen; Einstellen und Inbetriebsetzen der Textilmaschinen; Durchführen technischer Kontrollen an Maschinen; Anfertigen von einfachen Ersatzteilen; Aus-, Ein- und Zusammenbauen von Maschinenelementen und Maschinen; Kenntnis der Bindungstechniken; Kenntnis des Dekomponierens; Kenntnis der Numerierungssysteme; Erkennen von Fehlern am textilen Produkt;

Feststellen von Fehlerursachen an den Maschinen sowie Behebung der Fehler; einschlägige Vorbereitungsarbeiten für die textile Fertigung;

Grundkenntnisse der in der Textilfertigung vorkommenden Elektrotechnik, Elektronik und Pneumatik; Lesen von Werkzeichnungen und einfachen Schaltplänen; Anfertigen einfacher Skizzen und Kenntnis der einschlägigen Sicherheitsvorschriften usw (vgl SSV-NF 4/158).

Die Feststellungen der Vorinstanzen reichen nicht aus, um nach diesen Grundsätzen beurteilen zu können, ob der Kläger während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend in einem angelernten Beruf im Sinne des § 255 Abs.1 und 2 ASVG tätig war. Hiefür ist in erster Linie zu klären, welcher Lehrberuf mit der Tätigkeit eines "Spulerei- und Servicemeisters" am ehesten verwandt ist, welche auf dem Arbeitsmarkt gefragte Variante dieses Lehrberufes der Tätigkeit des Klägers am nächsten kommt und welche Kenntnisse und Fähigkeiten von einem Arbeiter in dieser Variante üblicherweise verlangt werden. Dem werden dann die gleichen oder gleichartigen oder gleichwertigen - ebenfalls noch näher festzustellenden - Kenntnisse und Fähigkeiten gegenüberzustellen sein, die der Kläger in der während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausgeübten Berufstätigkeit anwendete. Daß die von den Vorinstanzen festgestellte Anlernzeit nur ein Jahr umfaßte, sagt nichts darüber aus, wielange die Ausbildung zum "Spulerei- und Servicemeister" einschließlich des Erwerbes der erforderlichen praktischen Fertigkeiten und Kenntnisse tatsächlich dauerte. Insbesondere wird auch zu prüfen sein, an welchen Maschinen der Kläger eingesetzt und welche Ausbildung und Qualifikation für die Bedienung, Wartung und Reparatur dieser Maschinen erforderlich war.

Erst wenn hiezu genaue Feststellungen vorliegen, wird beurteilt werden können, ob der Kläger einen angelernten Beruf ausübte und daher Berufsschutz nach § 255 Abs.1 und 2 ASVG genießt. Da es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war die Sozialrechtssache unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs.1 ZPO iVm § 2 Abs.1 ASGG.

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