OGH 10ObS125/93

OGH10ObS125/9313.7.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Helmut Szongott (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Franz Murmann (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ing.Johann V*****, vertreten durch Dr.Willibald und Dr.Manfred Rath, Rechtsanwälte in Graz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr.Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Feststellung von Versicherungszeiten, infolge Rekurses der klagenden Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. Oktober 1992, GZ 7 Rs 63/92-27, womit das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 30. März 1992, GZ 33 Cgs 13/91-23, teilweise aufgehoben wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Rekurskosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 20.12.1990 stellte die Beklagte auf Grund des Antrages des Klägers vom 8.11.1990 bis zum Ermittlungsstichtag 1.12.1990 in der österreichischen Pensionsversicherung folgende Versicherungszeiten fest:

Jän 56 bis Nov 56 11 Monate Einkaufszeit PV Ang

Dez 56 bis Jun 57 7 Monate Pflichtvers PV Arb

Jul 57 bis Jän 82 295 Monate Pflichtvers PV Ang

Feb 82 bis Nov 90 106 Monate Pflichtvers PV Ang,

insgsamt 419 Versicherungsmonate.

Das Begehren der rechtzeitigen Klage richtet sich darauf, neben den im genannten Bescheid festgestellten 419 Versicherungsmonaten für die Zeit von Jänner 1950 bis Dezember 1955 72 weitere Versicherungsmonate festzustellen. Es stützt sich darauf, daß der Kläger vor dem 27.11.1961 in Ungarn Versicherungszeiten erworben bzw Beschäftigungszeiten und sonstige Zeiten zurückgelegt habe. Am genannten Stichtag habe er sich im Gebiet der Republik Österreich nicht nur vorübergehend aufgehalten. Er sei schon seit der Geburt durch Abstammung und nicht erst infolge Verleihung seit 20.4.1962 österreichischer Staatsangehöriger, jedenfalls aber als Volksdeutscher anzusehen. Deshalb falle er unter den persönlichen Geltungsbereich des § 2 Auslandsrenten-Übernahmegesetz (ARÜG).

Die Beklagte bestritt dies, weil der Kläger an den Stichtagen der genannten Gesetzesstelle ungarischer Staatsangehöriger gewesen sei, und beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Der Kläger replizierte, er habe die ungarische Staatsangehörigkeit durch seine Flucht aus Ungarn im Jahre 1956 verloren. Jedenfalls sei seine Staatsangehörigkeit unsicher, weshalb er als staatenlos zu betrachten sei.

Das Erstgericht stellte fest, daß neben den im Bescheid vom 20.12.1990 festgestellten 419 Versicherungsmonaten vom 1.1.1956 bis 30.11. 1990 "auch die Zeit von Jänner 1950 bis einschließlich Dezember 1955 weitere Versicherungsmonate sind".

Es ging von folgenden Tatsachenfeststellungen aus:

Der Kläger wurde am 19.6.1932 in Budapest als (ehelicher) Sohn des Johann (Janos) und der Stephania P***** geboren. Sein Vater und dessen Vater waren österreichische Staatsangehörige. Der Kläger besuchte in Budapest die deutsche Volksschule und das Reichsdeutsche Gymnasium, verließ dieses aber im Zuge der Kriegswirren. Zwischen 1944 und 1946 hielt er sich mit seinen Eltern in Österreich auf, kehrte aber dann zum Wiederaufbau des von seinen Vorfahren aufgebauten P*****-Werkes nach Budapest zurück. 1950 starb sein Vater. Der Kläger hatte während der Schulzeit den Mechanikerberuf erlernt und maturierte 1950. Dann war er bis Herbst 1951 in der (Budapester) Reparaturwerkstätte Nr.4 tätig. Anschließend wurde er mit seiner Mutter und seiner Schwester wegen seiner Deutschstämmigkeit an die russische Grenze deportiert. Dort erlernte er den Beruf des Maschinenschlossers und arbeitete in einer landwirtschaftlichen Maschinenstation. Nach zwei Jahren durfte er wieder (nach Budapest) zurückkehren, wo er weiterhin in der staatlichen Reparaturwerkstätte arbeitete. Von 1953 bis 1955 war er als technischer Angestellter im "Militärdienst", einem etwa dem Zivildienst entsprechenden Arbeitsdienst des ungarischen Staates, in einer Unterwasserpumpenfabrik eingeteilt, in der er nach der Entlassung (aus dem "Militärdienst") weiterarbeitete. Am 28.11.1956 flüchtete er im Zuge der Revolutionswirren nach Österreich. Da er wegen der Flucht keine Papiere vorweisen konnte, suchte er um die österreichische Staatsbürgerschaft an, die ihm am 20.4.1962 verliehen wurde.

Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes sei der Kläger als Volksdeutscher iS des ARÜG anzusehen. Daß er ungarischer Staatsangehöriger gewesen sei oder noch sei, ändere daran ebensowenig wie die spätere Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft, die er möglicherweise schon seit seiner Geburt habe. Daher sei das ARÜG anzuwenden, "so daß die Pensionszeiten, die der Kläger aufgrund seiner Arbeitstätigkeit in Ungarn zwischen 1950 und 1955 zurückgelegt hat, zu den österreichischen Versicherungszeiten hinzuzurechnen seien".

Das Berufungsgericht gab der inhaltlich nur gegen die Feststellung der Zeit von Jänner 1950 bis Dezember 1955 als weitere Versicherungsmonate gerichteten Berufung der Beklagten, in der Verfahrensmängel, unrichtige Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung sowie unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht wurden, Folge, hob das erstgerichtliche Urteil im Umfang der Anfechtung auf und verwies die Rechtssache insoweit an das Erstgericht zur Verhandlung und Entscheidung zurück. Dabei sprach es aus, daß der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei.

Das Erstgericht habe aus den unbestrittenen Feststellungen, daß sich der Kläger am 1.1. und 27.11.1961 in Österreich nicht nur vorübergehend aufgehalten hat und daß sein Vater und väterlicher Großvater österreichische Staatsangehörige waren, den Schluß gezogen, daß der Kläger von Geburt an und auch an den für ihn maßgeblichen Stichtagen (des ARÜG) österreichischer Staatsbürger gewesen sei. Dieser Schluß lasse sich jedoch nach dem zur Zeit der Geburt des Klägers geltenden österreichischen Staatsbürgerschaftsrecht bis zum Ausschluß einer ungarischen Staatsangehörigkeit des Klägers nicht verläßlich ziehen. Sollte der Kläger nicht den Beweis erbringen, daß er an einem der für ihn in Betracht kommenden (ARÜG-)Stichtagen österreichischer Staatsbürger war, wäre zu prüfen, ob er als Volksdeutscher anzusehen sei. Dies werde vom Berufungsgericht bejaht. Daß dem (deutschen) Familiennamen des Klägers P***** der (ungarische) Geburtsname der väterlichen Großmutter, V*****, vorangestellt wurde, könne daran nichts ändern, weil der Kläger diesen Doppelnamen von seinem Vater übernommen habe und ihm wegen seines damals jugendlichen Alters und wegen der damaligen politischen Verhältnisse in Ungarn nicht angelastet werden könne, daß er den ungarisch klingenden Namen nicht in einen deutsch klingenden zurückverwandelt habe. Sollte die österreichische Staatsbürgerschaft des Klägers an den maßgeblichen (ARÜG-)Stichtagen nicht erweislich sein, bleibe neben der bereits bejahten Volksdeutscheneigenschaft noch zu prüfen, ob er ohne Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft als staatenlos oder als Person mit ungeklärter Staatsangehörigkeit anzusehen wäre. Sollte die ungarische Staatsangehörigkeit noch aufrecht sein, wäre mit dem Kläger zu erörtern, ob und welche konkreten Schritte er zur Zurücklegung dieser Staatsbürgerschaft unternommen hat. Sollte er vergeblich versucht haben, aus dem ungarischen Staatsverband auszuscheiden, könnte der Verlust der Staatsangehörigkeit nach Völkerrecht auch ohne die vom Heimatrecht vorgeschriebene Entlassung eingetreten sein. Ob der Kläger in der Zeit von Jänner 1950 bis Dezember 1955 Beiträge entrichtet und Versicherungszeiten iS des § 1 (Abs 1) Z 1 lit a ARÜG erworben habe, sei noch nicht geklärt. Unter solchen Versicherungszeiten seien Zeiten zu verstehen, die nach den die betreffende fremdstaatliche Versicherung regelnden Vorschriften durch Beiträge erworben wurden. Im Hinblick auf den Militärarbeitsdienst werde gegebenenfalls noch zu prüfen sein, ob diese Zeit als Ersatzzeit iS des § 6 ARÜG in Betracht kommt. Hiezu seien nähere Feststellungen erforderlich, ob der Kläger in der ungarischen Rentenversicherung hiefür Rentenansprüche und Versicherungszeiten erworben hat (§ 1 Abs 1 lit a ARÜG) oder eine Beschäftigung iS des § 1 Abs 1 lit b iVm § 6 Abs 2 leg cit ausgeübt hat. Dazu biete sich die Einholung einer Auskunft des ungarischen Sozialversicherungsträgers an.

Gegen den Beschluß des Berufungsgerichtes richtet sich der Rekurs des Kläges wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit den Anträgen, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und in der Sache selbst im klagestattgebenden Sinn zu entscheiden, allenfalls dem Berufungsgericht eine neuerliche Verhandlung und Entscheidung aufzutragen.

Die Beklagte beantragt in der Rekursbeantwortung, den Aufhebungsbeschluß des Berufungsgerichtes zu bestätigen.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist nach § 519 Abs 1 Z 2 und Abs 2 ZPO iVm § 45 Abs 4 und § 47 Abs 2 ASGG zulässig. Auch bei einer Rechtsstreitigkeit über den Bestand von Versicherungszeiten der Pensionsversicherung (§ 247 ASVG) gemäß § 65 Abs 1 Z 4 ASGG handelt es sich nämlich um ein Verfahren über wiederkehrende Leistungen in Sozialrechtssachen (SSV-NF 1/18), in dem nach § 47 Abs 2 ASGG ein Rekurs an den Obersten Gerichtshof auch bei Fehlen der Voraussetzungen des § 46 Abs 1 leg cit zulässig ist.

Der Rekurs ist im Ergebnis nicht berechtigt, weil die Streitsache entgegen der Meinung des Rekurswerbers noch nicht zur Entscheidung reif ist.

Dem Rekurswerber ist allerdings insoweit zuzustimmen, daß seine Zugehörigkeit zum persönlichen Geltungsbereich des ARÜG bereits ausreichend geklärt ist.

Nach § 2 Abs 1 lit a leg cit gilt die (den sachlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes betreffende) Regelung nach § 1, soweit nichts anderes bestimmt ist, für Personen, die sich ua am 1.1 oder am 27.11.1961 im Gebiet der Republik Österreich nicht nur vorübergehend aufgehalten haben und an dem danach in Betracht kommenden Tag entweder österreichische oder deutsche Staatsangehörige waren oder als Volksdeutsche (Personen deutscher Sprachzugehörigkeit, die staatenlos sind oder deren Staatsangehörigkeit ungeklärt ist) anzusehen sind.

Unbestritten ist, daß sich der Kläger an den beiden Stichtagen des Jahres 1961 im Gebiet der Republik Österreich nicht nur vorübergehend aufgehalten hat.

Strittig ist nach wie vor, ob er an einem dieser beiden Stichtage österreichischer Staatsangehöriger oder staatenloser Volksdeutscher oder Volksdeutscher mit ungeklärter Staatsangehörigkeit war. Daß der Kläger Volksdeutscher war, worunter nach stRsp des erkennenden Senates Personen zu verstehen sind, die in ihrer Heimat nach bestimmten Merkmalen, wie Abstammung, Erziehung, Sprache und Kultur, zur deutschen Volksgruppe gerechnet wurden (zuletzt SSV-NF 6/64 mwN), ist hingegen nicht mehr strittig. Daß er zu den maßgeblichen Zeitpunkten deutscher Staatsangehöriger gewesen wäre, wurde im Verfahren nie behauptet. Der Kläger würde also dann in den persönlichen Geltungsbereich des ARÜG fallen, wenn er an den maßgeblichen Stichtagen des Jahres 1961 entweder österreichischer Staatsangehöriger oder staatenloser Volksdeutscher bzw. Volksdeutscher mit ungeklärter Staatsangehörigkeit gewesen wäre.

Daß das ARÜG von Staatsangehörigkeit und nicht von Staatsbürgerschaft spricht, weist darauf hin, daß es die völkerrechtliche Seite der Beziehung eines Menschen zu seinem Heimatstaat im Auge hat. Das Völkerrecht unterscheidet nämlich gelegentlich zwischen Staatsangehörigkeit (nationality) und Staatsbürgerschaft (citizenship), wobei der erste Begriff die völkerrechtliche, der zweite die innerstaatliche Seite der erwähnten Beziehung meint (sa Fischer-Köck, Allgemeines Völkerrecht2 93).

Der erkennende Senat hat bereits in SSV-NF 6/64 unter Berufung auf österreichische Völkerrechtsliteratur ausgeführt, daß der Verlust der Staatsangehörigkeit nach Völkerrecht auch ohne die vom Heimatrecht vorgeschriebene Entlassung dann eintreten kann, wenn ein Bürger wegen politischer Verfolgung ins Ausland flüchtet und sich einseitig von seinem Heimatstaat lossagt, wenn er also durch Flucht einen gesinnungsmäßigen Bruch mit seiner Heimat vollzogen hat. Aus den Bestimmungen der Genfer Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951 BGBl 1955/55 idF BGBl 1974/78 wurde in der zit E in Übereinstimmung mit der darin zit österreichischen Völkerrechtslehre abgeleitet, daß vor Verfolgung ins Ausland Geflüchtete, die den Schutz ihres Heimatlandes nicht in Anspruch nehmen können oder wollen, als quasi-staatenlose Flüchtlinge zu behandeln sind. Es handelt sich um de facto-Staatenlose, bei denen zwar die Staatsangehörigkeit zu einem bestimmten Staat de iure fortbesteht, die aber aus gewissen (zumeist politischen) Gründen von dieser Staatsangehörigkeit keinen Gebrauch machen wollen (Fischer-Köck, Allgemeines Völkerrecht2, 94 f).

IS der E SSV-NF 6/64 = DRdA 1993, 53 und insbesondere unter Bedachtnahme auf die auch von Albert in seiner vorbehaltlos zustimmenden Besprechung dieser E aaO 55 f hervorgehobene Zielsetzung des ARÜG besteht daher schon nach den bisherigen Feststellungen kein Anlaß, dem Kläger für den Fall, daß er nicht schon an den ARÜG-Stichtagen des Jahres 1961 österreichischer Staatsangehöriger war, die Rechtsstellung eines staatenlosen Volksdeutschen oder eines Volksdeutschen ungeklärter Staatsangehörigkeit zu versagen, weil er sich durch die Flucht und den noch vor dem letzten ARÜG-Stichtag gestellten Antrag auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft einseitig von seinem allfälligen Heimatstaat losgesagt hat.

Dennoch ist die Streitsache noch nicht zur Entscheidung reif, weil bisher weder ausreichend erörtert noch festgestellt wurde, ob und in welchen Zeiträumen vom Kläger bis Ende 1955 Versicherungszeiten nach § 1 Abs 1 Z 1 lit a ARÜG erworben und nicht als solche Versicherungszeiten geltende Zeiten einer Beschäftigung oder sonstige Zeiten (lit b leg cit) zurückgelegt wurden. Daher kann noch nicht verläßlich beurteilt werden, ob und inwieweit solche Zeiten nach § 1 Z 1 und § 6 ARÜG in der österreichischen Pensionsversicherung zu berücksichtigen und daher nach § 247 ASVG festzustellen sind.

Der insoweit nach § 496 ZPO gerechtfertigte Aufhebungs- und Zurückverweisungsbeschluß des Berufungsgerichtes war daher zu bestätigen.

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Rekurskosten beruht auf dem gemäß § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.

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