OGH 10ObS122/93

OGH10ObS122/9313.7.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Helmut Szongott (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Franz Murmann (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Edith K*****, vertreten durch Dr.Heinrich Keller, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17.Februar 1993, GZ 31 Rs 166/92-27, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes St.Pölten als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 10.Juli 1992, GZ 7 Cgs 125/90-24, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 21.August 1990 lehnte die Beklagte den am 9.April 1990 eingebrachten Antrag der am 10.März 1952 geborenen Klägerin auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.

Die auf die abgelehnte Leistung ab Anfallstag gerichtete Klage stützt sich darauf, daß die Klägerin wegen mehrerer interner und neurologischer Leiden keiner geregelten Arbeit nachgehen könne.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Die in den letzten 15 Jahren vor dem Pensionsantrag als Hausbesorgerin und Hilfsarbeiterin in der Metallbranche tätig gewesene Klägerin könne während der üblichen Arbeitszeit noch alle Arbeiten verrichten, die keine besondere Geschicklichkeit der linken Hand voraussetzen, und daher zB noch als Hausbesorgerin, Büroaufräumerin, Regalbetreuerin und Garderobefrau tätig sein.

Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin ab 1.Mai 1990 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß und bis zur bescheidmäßigen Feststellung der Pensionshöhe eine vorläufige Zahlung von 5.000 S je Monat zu gewähren.

Nach den wesentlichen Feststellungen des Erstgerichtes war die Klägerin in den letzten 15 Jahren vor der Antragstellung überwiegend als Hausbesorgerin und Hilfsarbeiterin tätig. Mit dem seit dem Pensionsantrag bestehenden, im einzelnen festgestellten körperlichen und geistigen Zustand kann sie (grundsätzlich) noch mittelschwere Arbeiten während der üblichen Arbeitszeit mit den üblichen Pausen leisten. Dabei kann sie bis 15 kg heben und 10 bis 20 m tragen. Die linke Hand der Klägerin, einer Rechtshänderin, ist nur eingeschränkt als Hilfshand verwendbar. Verwertbare motorische Leistungen sind damit nicht zu erbringen. Beim Heben und Tragen von Lasten kann die linke Hand nur eine ausbalancierende Funktion übernehmen. Mit dieser Hand kann sie ein Blatt Papier tragen, jedoch keine wesentliche Arbeitsleistung, bei der auch eine Greiffunktion erforderlich wäre, erbringen, aber auch keine feineren Manipulationen vornehmen. Die Fingerfertigkeit der rechten Hand, mit der sie eine ausreichende Mengenleistung erbringen kann, reicht für Feinst- bis Grobmanipulationen. Arbeiten mit dauerndem, besonderem Zeitdruck, im Akkord sowie auf Leitern und Gerüsten sind nicht möglich. Die Klägerin ist unterweisbar, aber nicht anlern- oder umschulbar. Für Aufsichtstätigkeiten ist sie nur im Rahmen einfacher Hilfstätigkeiten geeignet, für den Portiersberuf nur dann, wenn keine sehr komplizierten Auskünfte zu erteilen sind. Der Anmarschweg ist nicht eingeschränkt. Insbesondere wegen der stark eingeschränkten Gebrauchsfähigkeit der linken Hand kann die Klägerin folgende Tätigkeiten nicht mehr ausüben: Produktionsarbeiten, wie Tisch-, Adjustier-, Montier-, Etikettier-, Sortier- und Verpackungsarbeiten; Kontrollarbeiten; Arbeit als Wäschelegerin; Reinigungsarbeiten, wie Raumpflegerin, Hausarbeiterin in Spitälern, Anstalten und Heimen, Hauswartin, Reinigungsarbeiterin in Lagern und Magazinen, Werkstättenaufräumerin; Bürobotin, Warenhausbotin, Botengängerin, Bürodienerin und Bürohilfskraft; Telefonistin; Kassierin in Selbstbedienungsrestaurants oder Selbstbedienungstankstellen. Wenn für die bisher angeführten Tätigkeiten auch in manchen Fällen Einarmige eingestellt werden, handelt es sich um ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers, um vor allem langjährige Mitarbeiter zu beschäftigen.

Der Beruf eines Tagportiers umfaßt folgende Tätigkeiten: Überwachen der ein- und ausgehenden Besucher von einer Portierloge aus, Auskunftserteilung, Telefonvermittlungen, Entgegennahme, Hinterlegung und Aushändigung verschiedener Gegenstände, insbesondere Geschäftspost, Aufbewahrung von Schlüsseln, rasche Verständigung bei besonderen Vorkommnissen, persönliche Hilfsmaßnahmen bei behinderten oder älteren Personen. "In diesem Beruf werden Arbeitsplätze vorwiegend an Männer vergeben, so daß für Frauen kein allgemeiner Arbeitsmarkt besteht." Anläßlich der Volkszählung 1981 gaben zwar 622 Frauen die Berufsbezeichnung "Gebäudeaufseherin, Portierin" an. Dabei handelte es sich aber nur um persönliche Angaben, wobei aus der Statistik nicht ersichtlich ist, ob diese Frauen tatsächlich nur die erwähnten Tätigkeiten des Tagportiers ausübten. Die meisten Frauen, die auf portiersähnlichen Posten eingesetzt sind, haben nämlich auch andere kaufmännische Arbeiten, zB Telefondienst, Sortieren und Abfertigen der Post, Bedienen eines Telefaxgerätes, Schreibmaschinschreiben, zu verrichten, wofür die Klägerin wegen der Einschränkung der linken Hand und auf Grund ihrer intellektuellen Situation nicht geeignet wäre, oder Reinigungsarbeiten auszuüben. Obwohl natürlich alle Portiersposten geschlechtsneutral ausgeschrieben werden, werden sie tatsächlich praktisch nur an Männer vergeben. Es gibt in ganz Österreich nicht mehr als 20 Frauen, die auf Portiersposten mit reiner Arbeitstätigkeit sitzen. Museums- und Dorotheumsaufseherinnen müssen beim Transport und bei der Plazierung der Exponate mit diesen und Vitrinen hantieren, wozu die Einsetzbarkeit der linken Hand zumindest als uneingeschränkte Hilfshand erforderlich ist.

Unter diesen Umständen erachtete das Erstgericht die Klägerin als invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger Beweiswürdigung, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der Beklagten Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil im klageabweisenden Sinn ab, weil es die Rechtsrüge als berechtigt ansah.

Daß alle Portiersposten geschlechtsneutral ausgeschrieben werden, bedeute, daß der gesamte Arbeitsmarkt für Portiere grundsätzlich Männern und Frauen offenstehe. Ob die Klägerin auf diesem Arbeitsmarkt tatsächlich einen Portiersposten finden werde, sei bei der Beurteilung ihrer Invalidität nicht wesentlich. Die fehlende Nachfrage nach Arbeit gehöre nicht zum Risikobereich der Pensionsversicherung, sondern in den der Arbeitslosenversicherung. Deshalb komme es auch nicht darauf an, wieviele Portiersposten tatsächlich an Frauen vergeben werden. Dazu käme noch, daß nach den Ergebnissen der Volkszählung 1981 622 Frauen den Beruf einer Gebäudeaufseherin oder Portierin ausübten. Stünden aber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in einem Beruf deutlich mehr als 100 zugängliche Stellen zur Verfügung, dann könne nicht gesagt werden, daß diese Stellen bei der Prüfung der Verweisungsmöglichkeiten außer Betracht zu bleiben hätten. Wegen der Verweisbarkeit als Portierin sei die Klägerin nicht invalid.

Gegen das Berufungsurteil richtet sich die nicht beantwortete Revision der Klägerin aus dem benannten Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit den Anträgen, das angefochtene Urteil durch Wiederherstellung der klagestattgebenden erstinstanzlichen Entscheidung abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige Revision ist nicht berechtigt.

Die Klägerin wirft dem Berufungsgericht vor, ohne eigenes Beweisverfahren und ohne Begründung von den erstgerichtlichen Feststellungen abgegangen zu sein. Damit führt sie nicht die benannte Rechtsrüge, aber inhaltlich den im § 503 Z 2 ZPO bezeichneten Revisionsgrund aus, daß das Berufungsverfahren an einem Mangel leide, der eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Streitsache zu hindern geeignet war (vgl. SSV-NF 6/10).

Dieser Vorwurf trifft aber nur hinsichtlich der im vorletzten Absatz der angefochtenen Entscheidung enthaltenen Hilfsbegründung zu, in der das Berufungsgericht davon ausgeht, daß nach den Ergebnissen der Volkszählung 1981 622 Frauen den Beruf einer Gebäudeaufseherin oder Portierin ausüb(t)en, und offensichtlich unterstellt, daß es sich dabei um Tätigkeiten handelt, die der Arbeitsfähigkeit der Klägerin entsprechen. Damit wich die zweite Instanz tatsächlich von den erstgerichtlichen Feststellungen ab. Nach diesen gaben nämlich anläßlich dieser Volkszählung zwar 622 Frauen als Beruf die Bezeichnung "Gebäudeaufseherin, Portierin" an, doch handelte es sich dabei nur um die persönlichen Angaben der befragten Personen. Aus dieser Statistik ist aber nicht ersichtlich, ob diese Frauen tatsächlich nur die - der Klägerin zumutbare - Tätigkeit des Tagportiers ausüb(t)en. Die meisten Frauen, die auf portiersähnlichen Posten eingesetzt sind, haben nämlich auch andere kaufmännische Arbeiten oder Reinigungsarbeiten zu leisten, die die Leistungsfähigkeit der Klägerin überschreiten. Dieses teilweise Abweichen des Berufungsgerichtes von den erstgerichtlichen Feststellungen ohne eigenes Beweisverfahren stellt jedoch keine wesentliche Mangelhaftigkeit dar, weil es auf die abweichenden Feststellungen nicht ankommt.

In der im drittletzten Absatz der angefochtenen Entscheidung enthaltenen Hauptbegründung ging das Berufungsgericht nämlich entgegen der Meinung der Revisionswerberin von den erstgerichtlichen Feststellungen nicht ab. Anders als in dem in SSV-NF 6/10 entschiedenen Fall handelt es sich bei den bezogenen Ausführungen im nunmehrigen Berufungsurteil um Rechtsausführungen. Die Beurteilung der Frage, ob für eine mögliche Verweisungstätigkeit (hier: als Tagesportier/in) eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist, gehört nämlich zur rechtlichen Beurteilung (SSV-NF 5/38 mwN; 6/149).

Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senates ist die konkrete Arbeitsmarktsituation, nämlich die Frage, ob der (die) Versicherte tatsächlich einen Dienstposten finden wird, für die Beurteilung der Invalidität ohne Bedeutung. Dabei sind nur Verweisungstätigkeiten ausgeschlossen, die auf dem Arbeitsmarkt praktisch nicht mehr vorkommen, weil es sie im Wirtschaftsleben nicht mehr gibt, oder die speziell dem (der) Versicherten nicht offenstehen, weil sie ausschließlich Angehörigen des jeweils anderen Geschlechtes vorbehalten sind. Tätigkeiten, die der (die) Versicherte - abstrakt gesehen - ausüben könnte, die ihm (ihr) aber schon deshalb kein Erwerbseinkommen verschaffen könnten, weil es keine oder nur wenige Arbeitsplätze gibt, haben bei der Beurteilung der geminderten Arbeitsfähigkeit außer Betracht zu bleiben. Der Berücksichtigung der konkreten Arbeitsmarktsituation in diesem Zusammenhang steht hingegen die exklusive gesetzliche Festlegung der Kompetenzbereiche der Pensionsversicherung einerseits und der Arbeitslosenversicherung anderseits entgegen. Die fehlende Nachfrage nach Arbeit fällt nur in den Risikobereich der letztgenannten Versicherung (zuletzt SSV-NF 6/56 mwN der Vorentscheidungen und der Lehre).

Daß es auf dem österreichischen Arbeitsmarkt eine ausreichende Zahl von Tagportiersstellen gibt, für die die Leistungsfähigkeit der Klägerin ausreicht, ist offenkundig. Daß auch solche Portiersposten geschlechtsneutral ausgeschrieben werden und nicht ausschließlich mit Männern besetzt sind, wurde vom Erstgericht festgestellt.

Unter diesen Umständen kann die Tatsache, daß für diese Portierstätigkeiten in der Regel männliche Arbeitnehmer aufgenommen werden, nur auf Gründe zurückgeführt werden, die bei der Lösung der Frage, ob ein (eine) Versicherte(r) vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus gesundheitlichen Gründen ausgeschlossen ist, so daß ein Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit eingetreten ist, außer Betracht zu bleiben haben. Weibliche Bewerberinnen um einen derartigen Arbeitsplatz, denen trotz ausreichender Arbeitsfähigkeit männliche Mitbewerber vorgezogen werden, befinden sich auf dem Arbeitsmarkt in einer ähnlich schlechten Wettbewerbssituation wie Personen, die nur wegen ihres fortgeschrittenen Alters oder wegen der Bevorzugung von Betriebsangehörigen nicht aufgenommen werden. Auch diese Umstände begründen keinen Anspruch auf eine Leistung der Pensionsversicherung aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit, sondern allenfalls einen Anspruch aus der Arbeitslosenversicherung (SSV-NF 4/140; zuletzt 6/150).

Die rechtliche Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes im angefochtenen Urteil ist daher insoweit richtig, weshalb auch die Rechtsrüge nicht berechtigt ist.

Der Revision war somit nicht Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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