Spruch:
Durch den Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz vom 26.April 1993, AZ 10 Ns 40/93 (= GZ 19 Vr 1123/92-81) wurde Dragica N***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Dieser Beschluß wird aufgehoben.
Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 8.000 S zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.
Text
Gründe:
Der Beschuldigte Dragica N***** releviert in seiner beim Obersten Gerichtshof eingebrachten Grundrechtsbeschwerde allein den Umstand, daß das Oberlandesgericht Graz mit dem bekämpften Beschluß erst nach Ablauf der im § 193 Abs. 3 StPO bestimmten sechsmonatigen Höchstdauer der Haft über den Antrag des Untersuchungsrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Graz auf Verlängerung der zulässigen Dauer der Untersuchungshaft entschied.
Aus den vom Oberlandesgericht Graz und vom Landesgericht für Strafsachen Graz vorgelegten Ablichtungen jener Aktenteile, die zur Entscheidung über die Grundrechtsbeschwerde von Bedeutung sein könnten, ergibt sich:
Beim Landesgericht für Strafsachen Graz ist gegen den kroatischen Staatsangehörigen Dragica N*****, der zuletzt ständig in Bulgarien, teilweise aber auch in Moskau wohnhaft war, eine Voruntersuchung wegen des Verdachtes der Verbrechen des schweren Betruges nach §§ 146, 147 Abs. 3 StGB und der Veruntreuung nach § 133 Abs. 1, Abs. 2 zweiter Fall StGB sowie des Vergehens nach § 114 Abs. 1 ASVG anhängig.
Rechtliche Beurteilung
Über den auf Grund eines Steckbriefes in Zürich festgenommenen Beschuldigten wurde mit dem am 15.Oktober 1992 verkündeten (ON 51), mit dem Datum 16.Oktober 1992 ausgefertigten (ON 48) Beschluß des Untersuchungsrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Graz die Untersuchungshaft nach § 180 Abs. 1, Abs. 2 Z 1, 2 und 3 lit. b StPO verhängt.
Die sechsmonatige Untersuchungshaftfrist des § 193 Abs. 3 StPO lief damit bis 15.April 1993.
Durchaus zeitgerecht, nämlich am 16.März 1993, beantragte der Untersuchungsrichter gemäß § 193 Abs. 4 StPO, das Oberlandesgericht Graz möge aussprechen, daß die Haft bis zu neun Monate dauern dürfe (ON 80). Die Akten langten am 17.März 1993 beim Oberlandesgericht Graz ein (ON 80), wurden auf Grund einer Verfügung des Oberlandesgerichtes Graz von diesem Tag der Oberstaatsanwaltschaft Graz zugemittelt, wo sie am 18.März 1993 einlangten, und wurden am 19. März 1993 mit einer Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft Graz vom 18.März 1993 dem Oberlandesgericht Graz zurückgestellt (Inhalt des "Hausformulars" Nr. 2 a im Akt 10 Ns 40/93 des Oberlandesgerichtes Graz).
Erst am 26.April 1993 sprach das Oberlandesgericht Graz mit dem bekämpften Beschluß aus, daß die über Dragica N***** aus den Haftgründen der Flucht und der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs. 1 (gemeint wohl: Abs. 2) Z 1 und Z 3 lit. b StPO verhängte Untersuchungshaft "bei Fortbestehen des dringenden Tatverdachtes" bis zu zehn Monate dauern dürfe.
Dieser Beschluß langte (mit den Akten) am 29.April 1993 beim Landesgericht für Strafsachen Graz ein (ON 81); er konnte demnach frühestens am selben Tag zugestellt worden sein. Die an den Obersten Gerichtshof gerichtete Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten N***** wurde am 11.Mai 1993 zur Post gegeben und langte hier am 13.Mai 1993 ein.
Die Beschwerde ist demnach jedenfalls rechtzeitig.
Ihr kann aber auch Berechtigung nicht versagt werden.
Den vorgelegten Aktenablichtungen läßt sich nämlich kein Umstand entnehmen, der das Untätigbleiben des Oberlandesgerichtes Graz vom 19. März 1993 bis 26.April 1993, also durch mehr als fünf Wochen, erklären könnte.
Es ist daher vorliegend gar nicht erforderlich, auf die divergierenden Standpunkte in der Judikatur des Obersten Gerichtshofes zur Frage eines nicht zeitgerecht gefaßten Verlängerungsbeschlusses - RZ 1993/40 einerseits und RZ 1993/41 sowie dem folgend 12 Os 19, 20/93 (im Verfahren AZ 19 Vr 426/92 des Landesgerichtes für Strafsachen Graz bzw. AZ 9 Bs 482/92 und AZ 11 Ns 162/92 des Oberlandesgerichtes Graz) andererseits - einzugehen. Denn selbst nach dem weniger stringenten Standpunkt der letztbezeichneten Entscheidungen ist die Möglichkeit einer Entscheidung des Oberlandesgerichtes über die Verlängerung der zulässigen Haftdauer nach Ablauf der Haftfrist unter Berücksichtigung der Gegebenheiten des konkreten Falles zeitlich eng begrenzt; sie hat vor allem zur Voraussetzung, daß unvorhergesehene und unvermeidbare Zwischenfälle auftreten, die es selbst bei gewissenhafter und expeditiver Sachbearbeitung unmöglich machen, noch vor Ablauf der Haftfrist eine Entscheidung des Gerichtshofes zweiter Instanz herbeizuführen.
Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Seit dem Rücklangen der (aus 2 Bänden samt Beilagen bestehenden) Akten von der Oberstaatsanwaltschaft am 19.März 1993 stand dem Oberlandesgericht Graz ein Zeitraum von nahezu vier Wochen bis zum Ablauf der Haftfrist am 15.April 1993 zur Verfügung, in welchem es ebenso untätig blieb wie in den darauffolgenden zehn Tagen. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, daß es dem Oberlandesgericht im vorliegenden Fall infolge unvorhergesehener und unvermeidbarer Zwischenfälle unmöglich gewesen wäre, noch vor Ablauf der Haftfrist über den (vier Wochen vor Ablauf der Haftfrist vorgelegten) Haftverlängerungsantrag zu entscheiden, sind den Akten, insbesondere auch den Ablichtungen des Aktes des Oberlandesgerichtes, nicht zu entnehmen. Daß sich der Vr-Akt während des ganzen Zeitraumes beim Oberlandesgericht befand, ergibt sich auch aus der Folge der Ordnungsnummern (Vorlagebericht des Untersuchungsrichters: ON 80; Entscheidung des Oberlandesgerichtes:
ON 81). Angesichts all dessen kann von einer gerade in Haftsachen gebotenen gewissenhaften und expeditiven Sachbearbeitung durch das Oberlandesgericht (vgl. § 193 Abs. 1 StPO) keine Rede sein.
Die aufgezeigte, sachlich unvertretbare Säumnis des Oberlandesgerichtes Graz verletzt somit (jedenfalls seit dem 16.April 1993) den Beschwerdeführer im Grundrecht auf persönliche Freiheit (§ 2 Abs. 1 GRBG).
Deshalb war - übereinstimmend mit der Stellungnahme der Generalprokuratur - wie aus dem Spruch ersichtlich zu erkennen, woran nichts ändert, daß der Antrag des Untersuchungsrichters sachgerecht war.
Die Untergerichte sind nunmehr verpflichtet, mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Obersten Gerichtshof entsprechenden Rechtszustand herzustellen (§ 7 Abs. 2 GRBG).
Die Kostenentscheidung beruht dem Grunde nach auf § 8 GRBG, der Höhe nach auf der Verordnung des Bundesministers für Justiz BGBl. 35/93.
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