OGH 3Ob521/93

OGH3Ob521/9312.5.1993

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Hofmann als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Klinger, Dr.Angst, Dr.Graf und Dr.Gerstenecker als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj.Harald S*****, und des mj.Markus S*****, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses des Vaters Rudolf S*****, vertreten durch Dr.Walter und Dr.Peter Mardetschläger, Rechtsanwälte in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Wien als Rekursgerichtes vom 27. Jänner 1993, GZ 43 R 883/92-78, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 6.November 1992, GZ 9 P 170/90-74, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Obsorge über die Kinder Harald und Markus S***** dem Vater Rudolf S***** allein zukommt.

Text

Begründung

Harald und Markus S***** entstammen der Ehe des Rudolf und der Ulrike S*****. Diese Ehe ist aufrecht, es ist aber zwischen den Eltern ein Scheidungsverfahren anhängig. Die eheliche Gemeinschaft ist seit Sommer 1991 aufgehoben. Seit dieser Zeit befinden sich die Kinder - mit einer zweiwöchigen Unterbrechung - bei ihrer Mutter. Dem Vater wurde ein Besuchsrecht eingeräumt.

Die Kinder wurden ursprünglich unbestrittenermaßen nach den röm.-kath. Glaubensbekenntnis erzogen (AS 66, ON 33). Ab Ende 1989 kam es zwischen den Eltern zu massiven Spannungen, da die Mutter zum Bekenntnis der Zeugen Jehovas übergetreten und der Vater damit absolut nicht einverstanden war. Auf Grund dieser Spannungen kam es auch bei den Kindern zu Auffälligkeiten und Verstörtheiten, sodaß der psychologische Dienst des Magistrats der Stadt Wien in einer Stellungnahme zu einer räumlichen Trennung der Eltern plädierte, erst nach einer Herausnahme aus dem Spannungsfeld könne eine "effiziente Entscheidung" über den endgültigen Weiterverbleib bei Mutter oder Vater getroffen werden. Im Sommer 1991 verließ die Mutter den ehelichen Haushalt gemeinsam mit den Kindern. Im Herbst 1991 zog sie von Wien in ein Haus in Kaibling in der Steiermark. Dieses Haus befindet sich äußerlich in eher desolatem Zustand, es sind aber Renovierungs- und Umbauarbeiten im Gange. Die Mutter ist aktive Zeugin Jehovas, die Kinder und auch der Vater gehören nicht diesem Bekenntnis an. Die Mutter nimmt die beiden Kinder zu Versammlungen der Zeugen Jehovas mit, nicht aber zu den einmal wöchentlich stattfindenden Predigten, die die Mutter selbst hält. Unter anderem auf Grund des Umstands, daß auch die mütterliche Großmutter - ebenfalls eine Zeugin Jehovas - im gemeinsamen Haushalt mit der Mutter und den Kindern lebt, ist die Wohnsituation beengt. Die Wohnung besteht aus einem Vorraum, einer Küche, einem Schlaf-Wohnraum, sowie aus Bad und WC.

Der Vater betreibt in W***** ein Friseurgeschäft. Er könnte die Betreuung der Kinder unter Inanspruchnahme seiner Eltern in der Zeit, in welcher er seinem Beruf nachgeht, durchführen. Der Vater bewohnt nach wie vor die ehemalige Ehewohnung.

Beide Elternteile sind in ihrer Erziehungsfähigkeit grundsätzlich nicht beeinträchtigt. Bei beiden Minderjährigen sind derzeit keine schweren psychischen Störungen feststellbar, die eine psychotherapeutische Behandlung erforderlich machten. Eine Beeinträchtigung der Kinder auf Grund ihres Zusammenlebens mit der Mutter ist, was Entwicklung, Förderung und Pflege der Kinder betrifft, prinzipiell nicht gegeben. Es besteht auch kein Hinweis darauf, daß die Mutter die Kinder sozial abkapsle und ihnen die altersgemäß benötigten allgemeinen Erfahrungen nicht zukommen ließe. Derzeit sind keine Hinweise darauf vorhanden, daß die von der Mutter den Kindern vermittelten religiösen Werte und Überzeugungen die Kinder in psychischer Hinsicht massiv beeinträchtigten, insbesondere Angstzustände hervorriefen. Die Mutter war bisher eindeutig für die Kinder die Hauptbezugsperson.

Aus der Äußerung der Mutter vom 24.9.1991 (GZ 9 P 170/90-33) geht hervor, daß sie einer allenfalls nötigen Bluttransfusion, die an ihren Kindern vorzunehmen wäre, die Zustimmung versagen würde (AS 76).

Beide Elternteile stellten den Antrag, ihnen jeweils alleine die Obsorge für die beiden Kinder zu übertragen.

Das Erstgericht übertrug die Obsorge über Harald und Markus S***** an die Mutter. Es vertrat die Auffassung, daß diese Regelung dem Wohl der Kinder entspreche, weil der im Verfahren beigezogene Sachverständige den Beziehungsabbruch zur Mutter als Nachteil empfunden habe und es keine Hinweise dafür gebe, daß die religiöse Überzeugung der Mutter die Kinder in deren Wohl beeinträchtigen würde.

Das Rekursgericht gab mit dem angefochtenen Beschluß dem vom Vater erhobenen Rekurs gegen die Entscheidung des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien nicht Folge und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu. Eine Entscheidung über die Zuteilung der Elternrechte sei vor allem von den persönlichen Fähigkeiten der Eltern zur Erziehung und Betreuung der Kinder abhängig. Materielle Aspekte würden in den Hintergrund treten. Die Wohnverhältnisse wären zwar beim Vater besser, es ergebe sich aber aus der bei der Mutter vorliegenden, beengten Wohnsituation keine Beeinträchtigung der Kinder. Sie würden auch durch die religiöse Einstellung der Mutter nicht irritiert werden. Die Mutter sei die primäre Bezugsperson für die Kinder, und spiele die Kontinuität der Bezugsperson eine maßgebliche Rolle. Die Tatsache der religiösen Überzeugung der Mutter alleine rechtfertige nicht die Annahme, ihre Einstellung werde sich negativ auf die Entwicklung der Kinder auswirken. Abstrakte Befürchtungen könnten auf die Entscheidung über die Zuteilung der Elternrechte keinerlei Einfluß haben. Die allfällige Weigerung der Mutter zur Vornahme einer Bluttransfusion bei den Kindern sei nicht maßgeblich, weil die Zustimmung der Obsorgeberechtigten durch einen Gerichtsbeschluß ersetzt werden könnte. Bei Gefahr in Verzug bestünde die Möglichkeit, vorläufige Maßnahmen zu ergreifen, und könne ein Arzt lebenserhaltende Maßnahmen auch ohne Einwilligung des Obsorgeberechtigten vornehmen.

Gegen diesen Beschluß richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters. Er beantragt, ihm in Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen die alleinige Obsorge für die Kinder Harald und Markus zu übertragen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.

Gemäß § 177 Abs 2 ABGB hat im Fall der nicht bloß vorübergehenden Trennung der Eltern auf Antrag eines Elternteils das Gericht zu entscheiden, welchem Elternteil die Obsorge für das Kind künftig allein zukommt. Dabei sollen die bei den Elternteilen bestehenden Umstände in ihrer Gesamtheit gegenübergestellt werden. Neben dem materiellen Interesse und der Möglichkeit guter Verpflegung sowie guter Unterbringung der Kinder ist auch das Interesse an möglichst guter Erziehung, möglichst sorgfältiger Beaufsichtigung und an möglichst günstigen Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen seelisch-geistigen Entwicklung zu berücksichtigen. Dabei ist ausschließlich auf das Wohl der Kinder abzustellen (EFSlg 43.353, 43.356, 56.813 f, 4 Ob 523/88, 7 Ob 632/91 uva). Grundsätzlich soll zwar jede Maßnahme, die einen Wechsel des Pflegeplatzes bedeutet und das Kind aus seiner gewohnten Umgebung reißt, nach Tunlichkeit vermieden werden (ÖAV 1990, 132; 6 Ob 583/83; EvBl 1991/168), dies kann aber bei einer erstmals zu treffenden Entscheidung, welchem Elternteil die Obsorge künftig allein zustehen soll, nicht ausschlaggebend sein (1 Ob 736/82).

Im vorliegenden Fall spricht für eine Zuteilung der Obsorge an die Mutter der Umstand, daß diese die Kinder aus dem elterlichen Spannungsfeld entfernte und sie seit Sommer 1991 in ihrer Obhut hat; sie kann auch die Betreuung der Kinder vorwiegend persönlich ausüben. Trotz dieser Erwägungen ist aber dem Vater die Obsorge über die Kinder Harald und Markus anzuvertrauen:

Beide Elternteile sind aus psychiatrischer Sicht in ihrer Erziehungsfähigkeit "prinzipiell" nicht beeinträchtig (AS 164, 131). Die Mutter erzieht die Kinder gegen den Willen des Vaters nach den Grundsätzen der Zeugen Jehovas. Durch diese Erziehungsform hat die Mutter einen Verstoß gegen die Bestimmung des § 2 Abs 2 RelKEG 1985 gesetzt, denn die Kinder gehören ebenso wie der Vater nicht den Zeugen Jehovas an. Die Mißachtung der genannten gesetzlichen Bestimmung ist zweifelsohne beachtlich (SZ 59/160) und läßt erkennen, daß die Mutter - offensichtlich aus Glaubensgründen - nicht gewillt ist, bei der Erziehung der Kinder gesetzeskonform vorzugehen. Der Mutter ist kein Vorwurf daraus zu machen, daß sie der Sekte der Zeugen Jehovas angehört (eine anerkannte Religionsgesellschaft liegt nicht vor: vgl. SZ 59/144 mwN), denn die Wahl ihres Bekenntnisses steht ihr auf Grund der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 14 StGG) natürlich frei. Sie selbst mag nach den Grundsätzen dieser Sekte leben, doch steht es ihr nicht frei, auch die der Ehe entstammenden Kinder eigenmächtig nach der von ihr gewählten religiösen Überzeugung zu erziehen (§ 2 Abs 2 und 3 RelKEG). Es kann dahingestellt bleiben, ob die Weigerung der Mutter, einer allenfalls notwendigen Bluttransfusion an die Kinder zuzustimmen (siehe ihre eigenen Ausführungen in GZ 9 P 170/90-33, insbesondere AS 76), eine Gefährdung des Kindeswohls nach sich zieht und ob die Kinder bei Erziehung nach dem Glaubensgebot der Zeugen Jehovas in eine gesellschaftliche Außenseiterstellung gedrängt werden (so SZ 59/144). Ganz entscheidend ist aber, daß sich die Mutter selbstherrlich über eine gesetzliche Bestimmung (§ 2 RelKEG) hinwegsetzt, und ist aus dieser Vorgangsweise zu erschließen, daß für die Mutter nicht das Wohl der Kinder Vorrang hat, sondern das Glaubensgebot, nach dem sie lebt. Bedenkt man nun, daß die Wohnsituation in der vom Vater bewohnten vormaligen Ehewohnung wesentlich günstiger ist als die zuvor beschriebene als beengt zu bezeichnende Wohnmöglichkeit bei der Mutter, und daß auch die finanziellen Verhältnisse des Vaters, der aus seiner Berufstätigkeit Einkommen erzielt, wesentlich günstiger sind als die der Mutter, die dem Akteninhalt nach derzeit nicht berufstätig ist und Notstandshilfe bezieht (AS 79), dann ist bei einer Gesamtschau der für die Obsorgezuteilung maßgeblichen Umstände dem Vater der Vorzug zu geben.

Die mit dem Wechsel des Erziehungsberechtigten verbundene, voraussichtlich ohnehin nur vorübergehende Belastung der Kinder muß im Interesse der Kinder in Kauf genommen werden (SZ 59/144 mwH). Für die Annahme, daß der Wechsel des Erziehungsberechtigten mit hoher Wahrscheinlichkeit mit schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigungen der Kinder verbunden wäre, fehlt eine aktenmäßige Grundlage.

Unter Abwägung aller für die Obsorgezuteilung maßgeblichen Kriterien ist dem Revisionsrekurs des Vaters Folge zu geben und ihm die Obsorge über die beiden Minderjährigen aufzuerlegen. Da der Vater in Wien wohnhaft ist, ist die Pflegschaftssache vom Bezirksgericht Innere Stadt Wien weiterzuführen.

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