OGH 10ObS76/93

OGH10ObS76/9311.5.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Mag.Margarethe Peters (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Friedrich Wienerroither (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Gudrun L*****, vertreten durch Dr.Heinrich Keller, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr.Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 30.November 1992, GZ 31 Rs 162/92-35, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes St.Pölten als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 21.Mai 1992, GZ 6 Cgs 67/90-32, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Revisionsbeantwortung sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 15.Dezember 1989 wies die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 4.September 1989 auf Berufsunfähigkeitspension mangels Berufsunfähigkeit ab.

Das auf diese Leistung ab Anfallstag gerichtete Begehren der fristgerechten Klage stützt sich darauf, daß die Klägerin, die nach zweijährigem Besuch des Kindergärtnerinnen-Kurses am M***** F*****seminar am 17.März 1961 die staatliche Abschlußprüfung bestanden habe und dadurch befähigt und berechtigt sei, als Kindergärtnerin und Hortnerin in Familien, Kindergärten, Horten, Heimen und sonstigen Einrichtungen der Kinder- und Jugendbetreuung tätig zu sein, wegen mehrerer Leiden ihre(n) bisher ausgeübten Beruf(e), nicht weiter ausüben bzw. keiner geregelten Arbeit nachgehen könne. Sie sei als Kindergärtnerin in Kindertagesheimstätten einer Stadtverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland vom 12.November 1962 bis 31.August 1967, als Kindergärtnerin in einem Kindergarten der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Venezuela vom 19.September 1967 bis 31. August 1975, als Kindergärtnerin im Kindergarten des C***** H***** in Venezuela vom 15.September 1975 bis 15.Februar 1982 und zuletzt vom 14.März 1984 bis 30.September 1985 als für den Einkauf, die Bankangelegenheiten und die täglichen und monatlichen Abrechnungen verantwortliche Angestellte in einer Tankstelle in Österreich tätig gewesen.

Die Beklagte gestand zu, daß die Klägerin als Kindergärtnerin und zuletzt als Bürokraft berufstätig war, bestritt aber, daß sie diese oder ähnliche Beschäftigungen wegen ihrer Leiden nicht mehr ausüben könne und beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht erkannte das Klagebegehren ab dem 1.Oktober 1989 als dem Grunde nach zu Recht bestehend und trug dem beklagten Versicherungsträger eine vorläufige Zahlung von monatlich 7.000 S auf.

Nach seinen wesentlichen Feststellungen hat die am 21.September 1940 geborene Klägerin den Beruf einer Kindergärtnerin erlernt und war von 1962 bis 1982 als Kindergärtnerin und von März 1984 bis August 1985 als Bürokraft in einer Tankstelle tätig. Dort war sie mit dem Wareneinkauf, dem Bankverkehr und den Abrechnungen beschäftigt und verdiente einschließlich der Sonderzahlungen 10.039,52 S monatlich. Dies entspricht einer Einstufung in die Beschäftigungsgruppe 2, höchstens 3 (des Kollektivvertrages).

Wegen des im einzelnen festgestellten Gesundheitszustandes kann die Klägerin nur mehr leichte Arbeiten für kurze Zeit im Sitzen und Stehen, nicht aber im Gehen in geschlossenen Räumen leisten. Arbeiten im Freien unter Einwirkung von Kälte, Nässe, Lärm, Staub und Abgasen, "Hand-über-Kopf-Arbeiten rechts", Arbeiten, bei denen der Kopf in stereotyper Form hin und her bewegt werden muß, Arbeiten mit häufigem Bücken, an exponierten Stellen, mit Treppensteigen, unter Zeitdruck und solche, bei denen ein längerer Gebrauch der Stimme nötig ist, sind nicht zumutbar. Anmarschwege sind nur bei gutem Wetter möglich.

Diese eingeschränkte Arbeitsfähigkeit reicht für eine Tätigkeit als Kindergärtnerin nicht mehr aus, wohl aber - abgesehen von der Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes - für die der (kollektivvertraglichen) Beschäftigungs- bzw. Verwendungsgruppe 2 zuzurechnenden Angestelltentätigkeiten einer Karteikraft oder Hilfskraft in der Buchhaltung.

Die Klägerin könne den Arbeitsplatz bei schlechten Witterungsverhältnissen nicht erreichen, weshalb sie vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen und berufsunfähig sei.

In der Berufung rügte die Beklagte Verfahrens- und Feststellungsmängel bezüglich des Leistungskalküls, und zwar hinsichtlich der Einschränkungen, daß leichte Arbeiten nur für kurze Zeit zumutbar und die Anmarschwege nur bei gutem Wetter möglich seien.

Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge.

Die den Anmarschweg betreffenden Ungereimtheiten in den verschiedenen Aussagen des Sachverständigen für HNO-Krankheiten seien zwar nicht aufgeklärt worden; der aufgezeigte Verfahrensmangel sei jedoch nicht wesentlich. Bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit sei vom zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübten Angestelltenberuf auszugehen. Bei der Klägerin sei dies der von 1962 bis 1982 ausgeübte Beruf einer Kindergärtnerin, nicht aber die nicht in dieselbe Berufsgruppe fallende, lediglich von März 1984 bis August 1985 ausgeübte Tätigkeit als Bürokraft. Weil eine Verweisung auf Bürotätigkeiten unzulässig, die Klägerin aber als Kindergärtnerin nicht mehr arbeitsfähig sei, sei sie berufsunfähig iS des § 273 Abs 1 ASVG.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, es durch Abweisung des Klagebegehrens abzuändern oder allenfalls aufzuheben.

Die Klägerin beantragt in der Revisionsbeantwortung, das angefochtene Urteil zu bestätigen.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg. cit. zulässige Revision ist iS des Eventualantrages berechtigt.

(Paragraphen ohne Gesetzesangabe sind solche des ASVG.)

War ein Arbeiter in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag, also überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig, dann gilt er nach § 255 Abs 1 nur dann als invalid, wenn seine Arbeitskraft in jedem dieser Berufe auf weniger als die Hälfte der eines entsprechenden gesunden Versicherten herabgesunken ist. Für die Berufsunfähigkeit eines Angestellten nach § 273 Abs 1 kommt es hingegen im allgemeinen nur auf das Herabsinken der Arbeitsfähigkeit im zuletzt ausgeübten Beruf an (SSV-NF 1/68 mwN; Teschner nunmehr auch in Tomandl, SV-System 5. ErgLfg 368 f und 374 f).

Der erkennende Senat hat aber schon in der auch vom Berufungsgericht zit E SSV-NF 2/73 ausgeführt, daß der zuletzt ausgeübte Angestelltenberuf nur dann für die Bestimmung des Verweisungsfeldes berücksichtigt werden kann, wenn er nicht nur vorübergehend ausgeübt wurde. An dieser Einschränkung wurde auch in SSV-NF 4/17, 101; zuletzt 6/53, 135 und 153) festgehalten. Sie ist deshalb sachgerecht, weil es nicht gerechtfertigt wäre, einem Angestellten den Berufsschutz einer Berufsgruppe zuzubilligen, der er nur während einer nach den Umständen des Einzelfalles nicht nennenswerten Zeit angehört hat.

Entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichtes hat die Klägerin bei Berücksichtigung aller Umstände ihren letzten Beruf als (angelernte) kaufmännische Angestellte in einer Tankstelle solange ausgeübt, daß diese und nicht die frühere Tätigkeit im (erlernten) Beruf als Kindergärtnerin zur Beurteilung des Verweisungsfeldes und der Berufsunfähigkeit heranzuziehen ist.

Dafür ist zunächst entscheidend, daß die genannte letzte Berufstätigkeit vor dem Pensionsantrag immerhin 18 Monate, also 1 1/2 Jahre ausgeübt wurde, daß dadurch - wie sich aus dem Vorbringen der Klägerin und dem Pensionsakt ergibt - die einzigen österreichischen Beitragsmonate der Pflichtversicherung erworben wurden, der nur mehr Beitragsmonate der freiwilligen Versicherung folgen, und daß die Klägerin ihren erlernten Beruf als Kindergärtnerin, den sie immer nur im Ausland ausgeübt hat, bereits im Februar 1982, also etwa 7 1/2 Jahre vor dem Pensionsantrag und zwei Jahre vor Aufnahme ihrer Büroangestelltentätigkeit in Österreich offenbar endgültig aufgegeben hat.

Selbst wenn die Klägerin den Berufswechsel nur deshalb vorgenommen hätte, weil sie schon damals als Kindergärtnerin nicht mehr arbeitsfähig gewesen wäre, könnte dies an der dargelegten Beurteilung nichts ändern, weil die Prüfung, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit vorliegen, nach den Verhältnissen am Stichtag vorzunehmen ist, der durch die dem Eintritt des Versicherungsfalles nachfolgenden Pensionsantrag ausgelöst wird (SSV-NF 3/27, 89; zuletzt 6/153). In diesem Zusammenhang sei noch einmal darauf hingewiesen, daß die Klägerin vor Aufnahme ihrer Büroangestelltentätigkeit im März 1984 keine österreichischen Versicherungszeiten erworben hatte.

Entgegen den Ausführungen der Revisionsbeantwortung ist aus der E SSV-NF 2/73 für die Klägerin nichts zu gewinnen. Der damals entschiedene Fall unterscheidet sich nämlich u.a. dadurch wesentlich von ihrem, daß es sich bei der Bürotätigkeit der damaligen Klägerin nicht um deren zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit gehandelt hat, bei der nunmehrigen Klägerin jedoch schon. Auch im damaligen Fall wurde das Verweisungsfeld nach dem zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübten Beruf bestimmt.

Die Klägerin, die das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, gilt daher nicht schon deshalb als berufsunfähig iS des § 273 Abs 1, weil ihre Arbeitsfähigkeit infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen einer gesunden Kindergärtnerin herabgesunken ist, sondern erst dann, wenn ihre Arbeitsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte der einer gesunden (ungelernten) Büroangestellten betrüge.

Das kann noch nicht verläßlich beurteilt werden, weil die Feststellungen über die Arbeitsfähigkeit der Klägerin, also das sog. Leistungskalkül, mangelhaft sind.

Zunächst ist überhaupt nicht festgestellt, ab welchem Zeitpunkt die Arbeitsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen gemindert ist, und ob und unter welchen Bedingungen mit einer Besserung der Arbeitsfähigkeit zu rechnen ist. Dies wäre für den Beginn des Anspruches und für die Beurteilung wesentlich, ob es sich um eine dauernde oder vorübergehende Berufsunfähigkeit handelt und ob eine zeitlich begrenzte Berufsunfähigkeitspension zuerkannt werden kann (§ 271 Abs 1 und Abs 3 iVm § 256).

Weiters wird zu klären sein, ob die Klägerin auch leichte Arbeiten nur für kurze Zeit (so die zusammenfassende Feststellung) oder während der normalen Arbeitszeit (so ausdrücklich die Feststellung zum internen medizinischen Fachgebiet) leisten kann und ob sich die Feststellung, "aus laryngologischer Sicht sind leichte Arbeiten, Heben und Tragen von Lasten bis maximal 5 kg kurzzeitig möglich" nur auf solche Hebe- und Tragearbeiten bezieht.

Schließlich wird die sowohl zum laryngologischen Fachgebiet als auch in der Zusammenfassung getroffene Feststellung "Anmarschwege sind nur bei gutem Wetter möglich", die nach Ansicht des Berufungsgerichtes auf einem mangelhaften Verfahren beruht, dahin zu klären sein, unter welchen Umständen und in welcher Weise die Klägerin bei den Wegen zur und von der Arbeitsstätte behindert ist.

Zur Behebung dieser Mängel waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Revisionsbeantwortung beruht auf dem nach § 2 Abs 1 ASGG anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.

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