OGH 10ObS72/93

OGH10ObS72/9327.4.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Fritz Stejskal (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Ingrid Schwarzinger (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maria H*****, ohne Beschäftigung, *****vertreten durch Dr. Günther Clemens Musil, Rechtsanwalt in Linz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 2. Dezember 1992, GZ 13 Rs 108/92-21, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 23. Juni 1992 , GZ 14 Cgs 1121/91-17 , abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 8. August 1942 geborene Klägerin besuchte die Volksschule und die AHS, die sie 1962 mit der Matura abschloß. Sie war von 1962 bis 1966 als Bankangestellte sowie von 1972 bis 1978 und zuletzt von 1980 bis Dezember 1990 als Büroangestellte bei einer Fahrschule tätig.

Ihre Aufgabe bestand in der Führung des Kundenbüros: Annahme von Anmeldungen, Beratung von Kunden, Beantwortung von Anfragen, Telefondienst, Mahnwesen, Vorbereitung für Lohnverrechnung, Karteiführung und Kontrolle der Kartei. Sie war halbtägig beschäftigt. Seit Oktober 1990 befindet sie sich im Krankenstand, mit Ende 1990 wurde das Dienstverhältnis aufgelöst.

Mit Bescheid vom 27. Juni 1991 wies die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten den Antrag der Klägerin vom 3. Dezember 1990 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab.

Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage statt und erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin ab 1. Jänner 1991 die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren und (ab 23. Juni 1992) eine vorläufige Zahlung von S 4.200,-- monatlich zu erbringen. Auf Grund von ärztlichen Sachverständigengutachten stellte das Erstgericht folgendes medizinische Leistungskalkül fest:

Die Klägerin kann alle leichten Arbeiten im Gehen, Stehen oder Sitzen ohne Arbeitspausen, die über das physiologische Ausmaß hinausgehen, verrichten. Ein ununterbrochenes Arbeiten im Stehen und Sitzen sollte jeweils 30 Minuten nicht überschreiten. Günstig wäre ein häufiger Wechsel der Körperhaltung, wobei ein kurzfristiges Arbeiten im Gehen für jeweils 5 bis 10 Minuten genügt. Eine strenge Einhaltung dieser Zeitvorgabe ist nicht notwendig, wenn die Klägerin während dieses Zeitraumes von 30 Minuten auch Gelegenheit hat, während einer sitzenden Tätigkeit kurzfristig aufzustehen. Tätigkeiten in hockender oder kniender Haltung und Arbeiten, die mit einer Wärmeexposition verbunden sind, sind nicht möglich. Zu vermeiden sind auch Arbeiten, die mit dem Heben oder Tragen von Lasten über 12 kg verbunden sind, sowie solche, bei denen die Klägerin unter erhöhtem psychischem Druck steht, wie Schichtarbeit, Nachtarbeit, Akkordarbeit oder sonstige Arbeiten unter Zeitdruck. Das Tragen von Kompressionsstrümpfen ist zur Vermeidung einer Verschlimmerung des Krampfadernleidens unbedingt notwendig. Die Klägerin ist umschulbar, anlernbar und unterweisbar. Im Bereich der funktionalen psychischen Leistungsfähigkeit ergeben sich keine Einschränkungen; die Konzentrationsfähigkeit ist zufriedenstellend, die Orientierungsgeschwindigkeit sogar sehr gut ausgeprägt. Auf Grund der Einschränkungen im Persönlichkeitsbereich sind Arbeiten mit einer hochgradigen psychischen Belastung nicht zumutbar.

Auf Grund eines berufskundlichen Gutachtens stellte das Erstgericht weiter fest, daß die Klägerin pro Tag die Möglichkeit haben müsse, während ihrer Arbeit 70 bis 120 Minuten zu gehen bzw. teilweise Arbeiten im Gehen durchzuführen. Ein Wechsel zwischen Sitzen und kurzfristigem Stehen sei bei Büroberufen möglich, nicht aber ein Gehen im beschriebenen Umfang. Es gebe Bürotätigkeiten, die häufiges Gehen erforderten und die daher von der Klägerin durchgeführt werden könnten, doch handle es sich dabei um Hilfstätigkeiten wie z.B. Bürodiener im Verwaltungsdienst, Botengänger, unter Umständen auch Archiv- und Registraturtätigkeiten.

Diesen Sachverhalt beurteilte das Erstgericht rechtlich dahin, daß die Klägerin qualifizierte Bürotätigkeit geleistet habe und ihre Berufsunfähigkeit daher nach § 273 ASVG zu beurteilen sei. Bei der Klägerin liege eine Vielzahl von Einschränkungen vor, die es ihr nicht ermöglichten, Bürotätigkeiten zu verrichten. Bürotätigkeiten würden im Sitzen durchgeführt; Gehen sei nur im geringen Umfang möglich, z.B. wenn Arbeitsunterlagen herbeigeholt oder weggeschafft werden müßten, wenn ein Gespräch mit einem Vorgesetzten oder Mitarbeiter in anderen Büros notwendig sei oder wenn zu Besprechungen gegangen werden müsse. Das festgestellte Erfordernis des Gehens während der Arbeitszeit bedeute einen Ausschluß von qualifizierten Bürotätigkeiten unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. In einem solchen Fall wäre ein besonderes Entgegenkommen des Arbeitgebers erforderlich. Die Klägerin sei daher berufsunfähig nach § 273 Abs 1 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Urteil im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens ab. Der berufskundliche Sachverständige habe das medizinische Leistungskalkül unrichtig dahin aufgefaßt, daß die Klägerin während eines 8-Stunden-Arbeitstages 70 bis 120 Minuten im Gehen arbeiten müsse. Dies wäre aber nur dann erforderlich, wenn während der eine halbe Stunde lang möglichen Arbeit in sitzender Körperhaltung zwischendurch ein kurzfristiges Aufstehen überhaupt nicht möglich wäre. Diese unrichtige Wiedergabe des medizinischen Leistungskalküls durch den berufskundlichen Sachverständigen, die das Erstgericht nach dem Aufbau seines Urteiles in den Feststellungen übernommen habe, stelle inhaltlich keine Sachverhaltsfeststellung dar, sondern nur eine Zusammenfassung der Gehbelastungen durch den berufskundlichen Sachverständigen auf Grund einer unrichtigen Auslegung des medizinischen Leistungskalküls. Aus dem Urteil sei aber klar erkennbar, daß mit der Aufnahme der unrichtigen Zusammenfassung eines Teiles des medizinischen Leistungskalküls durch den berufskundlichen Sachverständigen in das Urteil vom Erstgericht keine eigenen - mit dem medizinischen Leistungskalkül im Widerspruch stehenden - Feststellungen getroffen werden sollten, weshalb diese unzutreffenden und überflüssigen Ausführungen unbeachtet bleiben könnten. Es entspreche der Judikatur des Obersten Gerichtshofes (SSV-NF 2/59 ua) und der Lebenserfahrung, daß bei einfachen Bürotätigkeiten ein häufiger Wechsel der Körperhaltung möglich sei, weil zwischen den grundsätzlich in sitzender Körperhaltung durchzuführenden Büroarbeiten immer wieder Gelegenheit bestehe aufzustehen und/oder einige Schritte zu gehen. Somit überstiegen einfache Bürotätigkeiten das medizinische Leistungskalkül der Klägerin nicht. Selbst wenn man die Klägerin auf Grund der von ihr in den letzten Jahren überwiegend ausgeübten Tätigkeiten zur Gruppe der Angestellten zähle, die auf Anweisung schwierige Arbeiten selbständig erledigen, müßte sie sich auf Angestelltenberufe mit einfacher kaufmännischer Tätigkeit verweisen lassen, ohne daß damit ein unzumutbarer sozialer Abstieg verbunden wäre. Nach dem Kollektivvertrag für die Angestellten in den Kraftfahrschulen Österreichs gebe es für die Büroangestellten nur zwei Gruppen, nämlich eine für Angestellte mit einfacher kaufmännischer Tätigkeit und eine für Büroangestellte, die auf Anweisung schwierige Arbeiten selbständig erledigen. Auch unter Berücksichtigung anderer für Büroangestellte gültigen Kollektivverträge wäre die Klägerin auf die Tätigkeiten von Fakturisten mit einfacher Verrechnung, qualifizierten Hilfskräften im Büro, Lager und Versand, in der Kartei, Lohn- oder Gehaltsverrechnung, Registratur und Statistik verweisbar. Bei all diesen Tätigkeiten sei der nach dem medizinischen Leistungskalkül für die Klägerin geforderte Haltungswechsel möglich. Die Klägerin sei daher innerhalb ihrer Berufsgruppe ohne unzumutbaren sozialen Abstieg verweisbar und damit nicht berufsunfähig im Sinn des § 273 Abs 1 ASVG.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Klägerin ist nicht berechtigt.

Unter dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wird geltend gemacht, daß das Berufungsgericht ohne Beweiswiederholung von den erstgerichtlichen Feststellungen über die Anforderungen in den Bürotätigkeiten abgewichen sei. Unter dem Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit wird im Zusammenhang damit die Annahme des Berufungsgerichtes gerügt, das Erstgericht habe auf Grund des berufskundlichen Sachverständigengutachtens gar keine Feststellungen über das Erfordernis des Gehens während der Arbeitszeit treffen wollen; das Berufungsgericht habe den Inhalt des Ersturteils aktenwidrig dargestellt und versucht, unbequeme Teile der das Berufungsgericht bindenden Tatsachenfeststellungen gewissermaßen für nicht existent zu erklären.

Im Ergebnis liegt weder der gerügte Verfahrensmangel noch die geltend gemachte Aktenwidrigkeit vor. Zunächst einmal trifft es nicht zu, daß die erstgerichtlichen Feststellungen unbekämpft geblieben seien. Wenngleich die Beklagte nur den Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung nannte, wurde inhaltlich doch die Feststellung bekämpft, daß die Klägerin in einem erheblichen Ausmaß gehen müsse, und zwar zwischen 70 und 120 Minuten während eines 8-Stunden-Tages (S 3 der Berufung ON 19). Es ist auch richtig, daß das Berufungsgericht von ihm bedenklich erscheinenden erstgerichtlichen Feststellungen nur auf Grund einer Beweiswiederholung oder Beweisergänzung abweichen durfte (SSV-NF 5/113 ua). Zur Vorgangsweise des Berufungsgerichtes braucht jedoch nicht weiter Stellung genommen zu werden, weil - wie weiter unten zu zeigen sein wird - auch von den erstgerichtlichen Feststellungen ausgehend das Klagebegehren nicht gerechtfertigt ist.

Danach ist ein Wechsel zwischen Sitzen und kurzfristigem Stehen bei Büroberufen möglich; weiters gibt es Bürotätigkeiten, die häufiges Gehen erfordern und die daher von der Klägerin auch unter Beachtung des medizinischen Leistungskalküls durchgeführt werden könnten. Dabei handelt es sich um Hilfstätigkeiten wie z.B. Bürodiener im Verwaltungsdienst und Botengänger, unter Umständen aber auch Archiv- und Registraturtätigkeiten. Während nun die Verweisung eines Angestellten auf die Tätigkeit eines Büroboten ausscheidet, kann die Tätigkeit einer Bürohilfskraft durchaus eine Angestelltentätigkeit sein, nämlich dann, wenn dabei Kanzleiarbeiten auszuführen sind (SSV-NF 3/123). In der Entscheidung SSV-NF 6/53 wurde eingehend begründet, daß die Leiterin einer Mietwagenstation, die nach der Art ihrer Tätigkeit in die Beschäftigungsgruppe 3 des Kollektivvertrages für die Handelsangestellten Österreichs einzustufen und damit durchaus mit der Klägerin vergleichbar wäre, auf einfache schematische Büroarbeiten in der Beschäftigungsgruppe 2 verwiesen werden kann. Zu den dort genannten Angestellten mit einfacher Tätigkeit zählen auch Lagerangestellte, Expeditangestellte, Angestellte in der Buchhaltung, Kalkulation, Kartei, Lohn- und/oder Gehaltsverrechnung, Registratur und Statistik soweit sie nicht in eine höhere Beschäftigungsgruppe einzustufen sind, aber auch Telefonisten (dazu SSV-NF 5/132). Die Klägerin muß sich auf solche einfachen schematischen Büroarbeiten verweisen lassen, weil damit kein unzumutbarer sozialer Abstieg verbunden ist. Da solche Tätigkeiten den verlangten Haltungswechsel erlauben und im allgemeinen auch häufiges, kurzfristiges Gehen ermöglichen, ist die Klägerin auf Grund ihres Leistungskalküls nicht von diesen Tätigkeiten ausgeschlossen. Welchen Einfluß es auf die Verweisbarkeit der Klägerin haben könnte, daß sie zuletzt eine Halbtagsbeschäftigung ausübte (vgl. SSV-NF 5/136), braucht im vorliegenden Fall nicht untersucht zu werden. Damit erweist sich auch die Rechtsrüge der Klägerin als unberechtigt.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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