Spruch:
Anton L***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit dadurch verletzt, daß der zuständige Richter es unterließ, seine Enthaftung zu verfügen, obwohl die Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Wien mit Beschluß vom 9. Dezember 1992, GZ 1 c Vr 12791/92-23a, in Stattgebung des Enthaftungsantrages des Anton L***** die über ihn verhängte Untersuchungshaft aufgehoben hatte.
Im übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 8.000 S zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.
Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.
Text
Gründe:
Der am 30. Mai 1971 geborene Anton L***** wurde am 24. Oktober 1992, 02.20 Uhr nach Verübung eines Einbruchsdiebstahls von den einschreitenden Sicherheitsorganen gemäß § 175 Abs 1 Z 1, 3 und 4 StPO in vorläufige Verwahrung genommen. Nach Einlieferung in das zuständige gerichtliche Gefangenenhaus wurde über ihn am 26. Oktober 1992 (allein) aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO die Untersuchungshaft verhängt. (Die Erstausfertigung dieses Beschlusses ist insofern fehlerhaft abgefaßt, als darin wegen irriger Unterlassung der Streichung von Vordrucken im verwendeten internen Formular auch Bezug auf die Haftgründe nach § 180 Abs 2 Z 3 lit c sowie Abs 7 StPO genommen wird.) Da bereits in der Anzeige darauf hingewiesen worden war, daß Anton L***** (wegen Entfernung beider Nieren) dreimal wöchentlich einer Dialysebehandlung in einem Spital zu unterziehen sei, wurde er in der Sonderkrankenanstalt des Gefangenenhauses des LG für Strafsachen Wien untergebracht. Am 6. November 1992 langte bei diesem Gericht die gegen Klaus V***** (den Diebsgenossen) und Anton L***** erhobene Anklage wegen des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 129 Z 1, 130 zweiter Fall und 15 StGB (acht vollendete Einbruchsdiebstähle mit einem Gesamtschaden von rund 28.000 S und ein versuchter Einbruchsdiebstahl) sowie des Vergehens der dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs 1 StGB ein. Aus Anlaß der Anklagekundmachung zog Anton L***** einen am 29. Oktober 1992 eingebrachten Enthaftungsantrag zurück. Am 12. November 1992 wurde vom Vorsitzenden des Schöffengerichtes die Hauptverhandlung für den 11. Jänner 1993 anberaumt. Am 26. November 1992 langte ein (neuerlicher) Enthaftungsantrag des Anton L***** bei Gericht ein, dem - nach ablehnender Stellungnahme der Staatsanwaltschaft - die Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Wien mit Beschluß vom 9. Dezember 1992 dahin Folge gab, daß sie die Untersuchungshaft gegen Anwendung der gelinderen Mittel nach § 180 Abs 5 Z 1 und 2 StPO aufhob. Infolge eines Versehens unterließ es der zuständige Richter, Anton L***** in Vollziehung des Ratskammerbeschlusses sogleich zu enthaften, sondern verfügte (am 10. Dezember 1992) lediglich die Wiedervorlage des Aktes zum (Verhandlungs-)Termin. Nachdem der Vorsitzende am 8. Jänner 1993 seinen Irrtum bemerkt hatte, wurde Anton L***** auf seine Anordnung um 12 Uhr 15 des genannten Tages enthaftet. Mit Urteil vom 11. Jänner 1993 wurde er anklagekonform (rechtskräftig) schuldig erkannt und gemäß §§ 28, 130 zweiter Strafsatz, 43 StGB zu einer für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt.
Rechtliche Beurteilung
Aus Anlaß der die Freiheitsbeschränkung beendenden Entscheidung erhob Anton L***** Grundrechtsbeschwerde beim Obersten Gerichtshof (§ 2 Abs 2 GRBG) mit der Begründung, nicht nur durch das Unterlassen der sofortigen Anordnung seiner Enthaftung auf Grund des Ratskammerbeschlusses vom 9. Dezember 1992 sondern überhaupt durch seine Anhaltung in Untersuchungshaft in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt worden zu sein.
In Ansehung des erstangeführten Punktes ist die Beschwerde ersichtlich im Recht, weil die unter Nichtbeachtung der die Untersuchungshaft aufhebenden Ratskammerentscheidung vom 9. Dezember 1992 erst am 8. Jänner 1993 verfügte Enthaftung zu spät erfolgte (§ 2 Abs 2 GRBG). Die dadurch bewirkte Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit war mithin in Stattgebung der Beschwerde gemäß § 7 Abs 1 GRBG festzustellen.
Hingegen kann der Beschwerde in ihrer weiteren Behauptung, unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit hätten die Voraussetzungen für die Verhängung der Untersuchungshaft deshalb von vornherein gemangelt, weil dem Beschuldigten im Falle seiner Verurteilung "nur" eine bedingt nachzusehende Bestrafung drohte, nicht gefolgt werden. Bedarf es doch keiner weitwendigen Erörterungen, um darzutun, daß die bloß hypothetische Möglichkeit einer bedingten Strafnachsicht vorliegend nicht geeignet war, die durch die Serientäterschaft massiv indizierte Tatbegehungsgefahr aufzuwiegen.
Wenn sich die Beschwerde zur Stützung ihrer These auf den Inhalt des Ratskammerbeschlusses vom 9. Dezember 1992 beruft, ist ihr zu erwidern, daß in dieser Entscheidung die Frage der Verhältnismäßigkeit der Haft nicht einmal andeutungsweise berührt und nirgends "festgestellt" wird, daß die Voraussetzungen für die Verhängung der Untersuchungshaft von vornherein fehlten; vielmehr wird die Anwendbarkeit gelinderer Mittel trotz der gewerbsmäßigen Begehungsweise der Einbruchsdiebstähle schwergewichtig damit begründet, daß durch die Kündigung des bisherigen Dienstverhältnisses die dem Beschuldigten bisher gebotene günstige Gelegenheit zur Begehung von Einbruchsdiebstählen - insbesondere durch widerrechtlich erlangte Schlüssel - weggefallen sei.
Da angesichts der Zahl und des Gewichtes der dem Beschuldigten zur Last fallenden Verfehlungen und des anzuwendenden, von einem bis zu zehn Jahren reichenden Strafsatzes ersichtlich auch davon keine Rede sein kann, daß die Dauer der Haft bis zum Zeitpunkt der Fassung des Ratskammerbeschlusses - und nur darauf, nicht aber auf die in der Beschwerde als unangemessen bemängelte Zeitspanne zwischen Rechtskraft der Anklage und Hauptverhandlungstermin ist angesichts der konstatierten Grundrechtsverletzung bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung abzustellen - bereits unverhältnismäßig geworden sei, mußte sonach in Ansehung dieses Zeitraumes der Beschwerde ein Erfolg versagt bleiben.
Soweit sich die Beschwerde gegen Maßnahmen der Staatsanwaltschaft wendet und Verletzungen des Beschuldigten in den Grundrechten auf Leben und darauf, keiner unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung unterzogen zu werden (Art 2 und 3 MRK), behauptet, ist ihr zu erwidern, daß § 1 Abs 1 GRBG allein auf die Verletzung des Grundrechtes der persönlichen Freiheit durch eine strafgerichtliche Entscheidung oder Verfügung abstellt. Die in der Beschwerde gegen diese Beschränkung durch den Gesetzgeber aus dem Titel der Gleichheitswidrigkeit vorgebrachten Argumente vermögen beim Obersten Gerichtshof keine Bedenken in dieser Richtung zu erwecken, zumal es sich bei den Grundrechten auf persönliche Freiheit, auf Leben und auf Schutz gegen unmenschliche Behandlung um verschiedene Tatbestände handelt. Sind aber solche von der Untätigkeit des Gesetzgebers betroffen, dann scheidet die Anwendung des Gleichheitssatzes von Anfang an aus (Klecatsky-Morscher, Bundesverfassungsrecht3 Art 7 E 49).
Die Kostenentscheidung stützt sich dem Grunde nach auf § 8 GRBG, der Höhe nach auf die Verordnung des Bundesministers für Justiz, BGBl 1993/35, woraus sich auch die Abweisung des über die dort bestimmten Kosten hinausgehenden Begehrens ergibt. Da der Beschwerdeführer jedenfalls mit seinem Antrag, eine Grundrechtsverletzung festzustellen, durchgedrungen ist und ein stattgebendes Erkenntnis zu fällen war, kommt eine Teilung des Kostenanspruches wegen seines über die Grundrechtsfeststellung hinausgehenden Begehrens nicht in Betracht.
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