OGH 1Ob515/93

OGH1Ob515/9320.4.1993

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schlosser, Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker und Dr. Rohrer als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Kinder J*****, und zwar L*****, E*****, und D*****, infolge Rekurses des Kollisionskurators Dr. Bernhard Weißborn, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgerichtes vom 16. Juli 1992, GZ 43 R 281/92-11, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Donaustadt vom 15. März 1992, GZ 3 P 898/86-5, aufgehoben und diesem Gericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben und die Entscheidung des Erstgerichtes wiederhergestellt.

Text

Begründung

Die Ehe der Eltern der Minderjährigen wurde mit Beschluß des Erstgerichtes vom 2.12.1991, 3 Sch 108/91, gemäß § 55a EheG geschieden. Aus Anlaß der Scheidung schlossen die Eltern einen Vergleich, wobei sie unter anderem vereinbarten, daß ihnen auch nach der Ehescheidung die Obsorge für die genannten Minderjährigen gemeinsam zukomme (GZ 3 P 898/86-2). Der zur Stellungnahme aufgeforderte Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie für den 2. Bezirk, äußerte sich dahin, daß die Vereinbarung der Eltern bezüglich der gemeinsamen Obsorge nach erfolgter Ehescheidung aus sozialarbeiterischer Sicht befürwortet werden könne (GZ 3 P 898/86-4).

Mit Beschluß vom 15. März 1992 versagte das Erstgericht der zwischen den Eltern getroffenen Vereinbarung, daß ihnen auch nach der Ehescheidung die Obsorge für die Kinder L*****, E***** und D***** zustehe, die pflegschaftsgerichtliche Genehmigung, weil die gemeinsame Obsorge geschiedener Eltern gesetzlich nicht vorgesehen sei (GZ 3 P 898/86-5).

Das Rekursgericht gab dem wider diesen Beschluß erhobenen Rekurs der Eltern R***** und D***** J***** Folge, hob den angefochtenen Beschluß auf und trug dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Den „ordentlichen Revisionsrekurs“ ließ es zu und sprach aus, das Verfahren sei erst nach Rechtskraft der Entscheidung fortzusetzen. Im wesentlichen vertrat es die Auffassung, die zwischen den Eltern getroffene Vereinbarung sei in Anlehnung an die deutsche Rechtslage gesetzeskonform und daher zulässig. Im Interesse der Kinder sei in jedem Einzelfall zu prüfen, ob den geschiedenen Eltern dann, wenn sie einen entsprechenden Antrag gestellt haben, die gemeinsame Obsorge zukommen soll. Auch bei dauernd getrennt lebenden Eltern, deren Ehe aufrecht sei, komme beiden Elternteilen die Obsorge gemeinsam zu, wenn sie keinen anderslautenden Antrag stellen. Dieser Fall sei durchaus vergleichbar mit dem, daß die Eltern nach Scheidung einer Ehe getrennt leben. Das Erstgericht werde näher bezeichnete Erhebungen durchzuführen haben, um verläßlich beurteilen zu können, ob die von den Eltern in Aussicht genommene gemeinsame Obsorge dem Wohl der Kinder entspreche.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diesen Beschluß gerichtete Rekurs des Kollisionskurators ist berechtigt.

Gemäß § 177 Abs. 1 ABGB können die Eltern eines minderjährigen ehelichen Kindes, wenn ihre Ehe aufgehoben oder für nichtig erklärt worden ist oder sie nicht bloß vorübergehend getrennt leben, dem Gericht eine Vereinbarung darüber unterbreiten, wem von ihnen künftig die Obsorge für das Kind allein zukommen soll. Das Gericht hat die Vereinbarung zu genehmigen, wenn sie dem Wohl des Kindes entspricht. Im vorliegenden Fall haben die Eltern der ehelichen Kinder L*****, E***** und D***** vereinbart, daß ihnen die Obsorge über diese Kinder nach Scheidung der Ehe gemeinsam zukommen solle. Diese Vereinbarung ist nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht zulässig.

Der Oberste Gerichtshof hatte Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des Wortes „allein“ im § 177 Abs. 1 ABGB, doch wurde dem Antrag, das Wort „allein“ im § 177 Abs. 1 ABGB als verfassungswidrig aufzuheben, mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 22.6.1989, nicht Folge gegeben (VfSlg. 12.103; 10 Ob 502/89). Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis zwar nur geprüft, ob § 177 Abs. 1 ABGB wegen des vom Obersten Gerichtshof damals geltend gemachte Widerspruchs zu Art. 8 MRK verfassungswidrig sei und keine Prüfung dahin vorgenommen, ob Verfassungswidrigkeit wegen der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes nach Art. 7 B-VG oder des Art. 5 des 7.Zusatzprotokolles zur EMRK gegeben sei. Der Oberste Gerichtshof hat aber bereits mehrfach mit ausführlicher Begründung ausgesprochen, daß gegen § 177 Abs. 1 ABGB auch unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgrundsatzes keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen (JBl. 1992, 699; 4 Ob 1578/92). Art. 5 des 7.Zusatzprotokolls zur MRK eröffnet keine darüber hinausgehenden verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte, zumal es danach den Staaten nicht verwehrt ist, die im Interesse der Kinder notwendigen, dh sachlich gerechtfertigten Maßnahmen zu treffen.

Das Rekursgericht führte aus, der Oberste Gerichtshof habe in seiner Entscheidung 8 Ob 719/89 (= JBl. 1992, 175 = EvBl. 1991/99) ausgesprochen, daß von einer Vereinbarung, die Obsorge für das gemeinsame Kind nach der Scheidung gemeinsam auszuüben und den Kindesunterhalt außergerichtlich zu regeln, nicht von vornherein gesagt werden könne, daß sie keinesfalls pflegschaftsgerichtlich genehmigt werden könne. Es meint, diese Entscheidung wäre schlechthin unverständlich, hätte der Oberste Gerichtshof § 177 ABGB so verstanden, daß er in keinem Fall zu einer gemeinsamen Zuteilung der Elternrechte nach der Ehescheidung führen könne. Dabei hat das Rekursgericht übersehen, daß der Oberste Gerichtshof in der zitierten Entscheidung ausdrücklich auf den durch § 177 Abs. 3 ABGB geregelten Fall hingewiesen hat, daß geschiedene Eltern noch weiterhin mit ihren ehelichen Kindern in häuslicher Gemeinschaft leben, und daß er für den seiner Entscheidung zugrundeliegenden Fall meinte, daß eine örtliche Nähe der Wohnsitze der dortigen Antragsteller dem Leben in häuslicher Gemeinschaft vergleichbar sei. Ausdrücklich hat der 8.Senat des Obersten Gerichtshofes in seiner Entscheidung vom 10. September 1992, 8 Ob 1623/92, festgehalten, daß in den Entscheidungen 5 Ob 536/91 (= JUS-Extra 1991/888) und 3 Ob 514/92 (= JBl. 1992, 699) bereits ausdrücklich ausgesprochen wurde, daß die Obsorge über die gemeinsamen Kinder beiden geschiedenen Elternteilen gemeinsam nur für den Fall des Bestehens der dauernden häuslichen Gemeinschaft zugeteilt werden dürfe. Schließlich hat der Oberste Gerichtshof auch in seiner weiteren Entscheidung vom 10.6.1992, EvBl. 1992/185 die Auffassung vertreten, daß eine Auslegung des § 177 Abs. 3 ABGB dahin, daß auch im Fall des Nichtbestehens einer dauernden häuslichen Gemeinschaft zwischen den geschiedenen Ehegatten die Zuteilung der Obsorge an beide Elternteile gemeinsam erfolgen könne, sich aus dem Gesetzeswortlaut selbst verbiete und generell vom Wohl der Kinder her gesehen nicht erforderlich sei. Tatsächlich bleibt es auch nach Zuteilung der Obsorge an nur einen Elternteil beiden Elternteilen unbenommen, den von ihnen angestrebten, an sich wünschenswerten Vorgang der einvernehmlichen Ausübung der Obsorge zu wählen. Dieser den Eltern zustehende und im Interesse des Kindeswohles auszufüllende Freiraum wird durch die Zuteilung der Obsorge an bloß einen Elternteil nicht beeinträchtigt. Für die rein faktische Gestaltung des Aufenthaltes der Kinder bei dem einen oder bei dem anderen Elternteil sowie die praktische Durchführung von Pflege und Erziehung ist die gerichtliche Entscheidung solange nicht von Bedeutung, als die geschiedenen Eltern einvernehmlich vorgehen. Sollte aber ein solches Einvernehmen einmal nicht mehr bestehen, dann erfordert gerade ein solcher Fall ohnehin die vom Gesetzgeber vorgesehene Regelung (JUS-Extra 1991, 888).

Die Ausführungen des Rekursgerichtes, es entspreche ganz allgemein dem Wohl des Kindes besser, wenn nach der Scheidung der Ehe die Obsorge für ein Kind beiden Elternteilen gemeinsam zugeteilt werde, sind nicht zielführend, weil diesem Argument nur vom Gesetzgeber Rechnung getragen werden könnte, nach der eindeutigen Gesetzeslage die Zuteilung der Obsorge an beide Elternteile aber nur aufgrund des § 177 Abs. 3 iVm § 167 ABGB in Betracht käme (vgl. JBl. 1992, 699). Der Fall der ständig getrennt lebenden Eltern, die mangels entsprechenden Antrags auf Zuerkennung der Obsorge über ein eheliches minderjähriges Kind an einen von ihnen bis zur Auflösung der Ehe gemeinsam die Obsorge über das Kind ausüben, ist mit dem Fall, daß geschiedene Ehegatten getrennt leben und die Obsorge gemeinsam ausüben, in der Regel nicht vergleichbar. Bei aufrechter Ehe wird ein einvernehmliches Vorgehen der Eltern in der Regel noch gegeben sein, selbst wenn die Wohngemeinschaft aus welchen Gründen immer aufgehoben sein sollte. Bei geschiedenen Eltern ist ein einvernehmliches Vorgehen der Ausnahmsfall, sodaß es durchaus zulässig und richtig ist,für den Fall der Scheidung der Ehe im Gesetz eine andere Regelung bezüglich der Obsorge über ein minderjähriges eheliches Kind zu treffen als bei aufrechter Ehe. Einem Gesetzgeber, der auf das Wohl des Kindes aus einer geschiedenen Ehe bedacht ist, kann, wie der Verfassungsgerichtshof aussprach, nicht entgegengetreten werden, wenn er einvernehmliches Vorgehen geschiedener Eltern ermöglicht, aber dennoch sofort bei der Scheidung eine klare Regelung darüber anstrebt, wer Entscheidungen über das Kind zu treffen hat, falls ein Einvernehmen zwischen den Eltern nicht (mehr) besteht (Pichler, ÖAV 1989, 115; VfSlg. 12.103). Es obliegt daher allein den Eltern, ihre Beziehungen zum Kind auch nach Scheidung der Ehe so zu gestalten, daß jene Ziele erreicht werden, die für die Notwendigkeit einer gemeinsamen Obsorgeregelung ins Treffen geführt werden (Coester in Staudinger, Kommentar12 Rz 158 ff zu § 1671 ABGB), nämlich die Loyalitätsgefühle des Kindes zu schonen, damit es sich nicht zwischen den Eltern entscheiden müsse, ihm eine psychische Hilfe bei der Bewältigung der Scheidungskrise zu bieten, indem beide Eltern für das Kind „zuständig“ erscheinen und fortbestehende Beziehungen des Kindes zu beiden Eltern zu sichern. Da einvernehmliches Vorgehen der Eltern möglich ist, kann auch von einer „Entrechtung“ des anderen Elternteils keine Rede sein, dessen Verantwortungsgefühl für das Kind von seiner inneren Einstellung zum Kind abhängt. Bei einvernehmlichem Vorgehen werden familiäre Konflikte und „Umgangsstreitigkeiten“ der Eltern nicht auftreten. Ist aber einmal das einvernehmliche Vorgehen nicht mehr gegeben, ist allein die Zuteilung des Sorgerechts an einen Elternteil sachgerecht. Auch die weiteren, für das gemeinsame Sorgerecht ins Treffen geführten Gründe sind nicht durchschlagend. Nicht das gemeinsame Sorgerecht, sondern eine einvernehmliche, am Wohl des Kindes orientierte Haltung der Eltern nach der Scheidung ist die für das Kind schonendste und ihm förderlichste Form der Obsorge. Es kann daher auch keine Rede davon sein, daß nur die gemeinsame Obsorge die „harmonische Familieneinheit sichere und einem Abbau der Familienkontakte entgegenwirke“ (alle diese Argumente bei Coester aaO Rz 162, 163). Die einvernehmliche Vorgangsweise der Eltern allein kann diesen abträglichen Entwicklungen vorbeugen.

Die Aufhebung des erstinstanzlichen Beschlusses erweist sich aufgrund dieser Ausführungen als nicht gerechtfertigt.

Dem Rekurs des Kollisionskurators ist Folge zu geben und die erstinstanzliche Entscheidung wiederherzustellen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte