OGH 11Os54/93

OGH11Os54/9330.3.1993

Der Oberste Gerichtshof hat am 30. März 1993 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Rzeszut als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Hager und Dr. Mayrhofer als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Kirschbichler als Schriftführerin, in der bei dem Landesgericht Salzburg zum AZ 33 Vr 962/92 anhängigen Strafsache gegen Pululu M* und Jean Marie Jose M* wegen des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten gewerbsmäßigen schweren Betruges nach den §§ 146, 147 Abs. 1 Z 1 und Abs. 3, 148 zweiter Fall und 15 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten Jean Marie Jose M* gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz vom 11. März 1993, AZ 9 Bs 72/93, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1993:E34461

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

Durch den Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz vom 11. März 1993, AZ 9 Bs 72/93, wurde Jean Marie Jose M* im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Dieser Beschluß des Oberlandesgerichtes wird aufgehoben.

Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 8.000 S, zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer, auferlegt.

 

 

Gründe:

 

Der am 20. Juli 1948 geborene französische Staatsbürger Jean Marie Jose M* befindet sich seit 11. Februar 1992 in Haft. Die Untersuchungshaft wurde über ihn am 14. Februar 1992 verhängt.

Mit Beschlüssen vom 12. August 1992 und vom 13. Oktober 1992 erklärte das Oberlandesgericht Linz gemäß § 193 Abs. 4 StPO die Untersuchungshaft vorerst bis zu acht und dann bis zu zehn Monaten für zulässig. Den Antrag der Staatsanwaltschaft, es möge nach der genannten Gesetzesstelle bestimmen, daß die Untersuchungshaft bis zu zwölf Monaten dauern dürfe, wies das Oberlandesgericht Linz am 11. Dezember 1992 ab. Es bejahte zwar den Fortbestand des dringenden Tatverdachtes und des Haftgrundes der Fluchtgefahr, wies jedoch darauf hin, daß die Voraussetzungen für eine Verlängerung der zulässigen Haftdauer wegen besonderer Schwierigkeit oder besonderen Umfanges der Untersuchung nicht vorlägen, weil der in Untersuchung gezogene Sachverhalt durchaus schon einer Endantragstellung durch die Staatsanwaltschaft zugänglich gewesen wäre.

Nach Ablauf der zehnmonatigen Untersuchungshaft am 14. Dezember 1992 verhängte der Untersuchungsrichter am 15. Dezember 1992 über Jean Marie Jose M* die Auslieferungshaft. Aus Anlaß eines Enthaftungsantrages ordnete die Ratskammer des Landesgerichtes Salzburg am 3. Februar 1993 an, daß die Auslieferungshaft fortzudauern habe. Der Beschwerde gegen diesen Beschluß gab das Oberlandesgericht Linz am 25. Februar 1993 Folge. Es hob die über Jean Marie Jose M* verhängte Auslieferungshaft (im Tenor offenbar irrtümlich: Untersuchungshaft) auf und stützte seine Entscheidung darauf, daß hinreichende Gründe im Sinne des § 29 Abs. 1 ARHG nicht mehr vorlägen. Es sei nämlich bisher nicht gelungen, mit den französischen Behörden die Identität des in Haft befindlichen Jean Marie Jose M* mit der vom Auslieferungsbegehren betroffenen Person verläßlich abzuklären.

In der Zwischenzeit war gegen Jean Marie Jose M* rechtswirksam Anklage erhoben worden. In der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Salzburg vom 30. Dezember 1992, AZ 3 St 715/92, werden ihm (ebenso wie dem Mitangeklagten Pululu M*) das Verbrechen des teils vollendeten, teils versuchten gewerbsmäßigen schweren Betruges nach den §§ 146, 147 Abs. 1 Z 1 und Abs. 3, 148 zweiter Fall und 15 StGB und das Vergehen der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs. 1 StGB zur Last gelegt.

Am 16. Februar 1993 beraumte der Vorsitzende des Schöffengerichtes die Hauptverhandlung für 18. und 25. März 1993 an.

Rechtliche Beurteilung

Am 25. Februar 1993 teilte der Vorsitzende des Schöffengerichtes dem Angeklagten M* die Aufhebung der Auslieferungshaft durch den oben angeführten Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz vom selben Tag mit, hörte ihn zum Antrag der Staatsanwaltschaft, zum Zwecke der Durchführung der Hauptverhandlung die Haft zu verhängen, und verkündete ihm sodann den Beschluß auf Verhängung der Haft nach § 193 Abs. 6 StPO. Zur Begründung verwies er auf das Fortbestehen des Haftgrundes der Fluchtgefahr. In der schriftlichen Beschlußausfertigung wird hervorgehoben, daß der Angeklagte ohne soziale Bindung in Österreich sei.

Über die Beschwerde des Angeklagten gegen diesen Beschluß entschied die Ratskammer des Landesgerichtes Salzburg am 3. März 1993 abschlägig. Das Oberlandesgericht Linz schließlich gab am 11. März 1993 der dagegen erhobenen Beschwerde des Angeklagten M* ebenfalls nicht Folge. Es erblickte im (anklagekonform) dringenden Tatverdacht und im Fortbestand des Haftgrundes der Fluchtgefahr bei der bereits anberaumten Hauptverhandlung eine ausreichende Basis für die Haft nach § 193 Abs. 6 StPO zur Sicherung der Hauptverhandlung. Da der Angeklagte M* sich mit seinem mutmaßlichen Mittäter offenbar nur zur Durchführung der ihm angelasteten Taten in Österreich aufgehalten habe, sonst aber keinen Inlandsbezug aufweise, sei angesichts der im Falle eines Schuldspruches zu erwartenden Strafe zu befürchten, er würde sich im Falle seiner Enthaftung aus Österreich absetzen.

Soweit sich Jean Marie Jose M* dazu nunmehr in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt erachtet, ist vorweg festzuhalten, daß Gegenstand einer Grundrechtsbeschwerde nach § 1 Abs. 1 GRBG nur gerichtliche Entscheidungen oder Verfügungen nach Erschöpfung des Instanzenzuges sein können. Betroffen sind demnach Beschlüsse, gegen die kein Rechtsmittel zulässig ist, oder Rechtsmittelentscheidungen, die ihrerseits keinem weiteren Rechtszug unterliegen, in letzterem Fall aber nur diese und nicht (auch) die vorangegangenen Entscheidungen von Vorinstanzen (siehe die Erläuterungen im Justizausschußbericht zu § 1 GRBG).

In seiner rechtzeitig erhobenen Grundrechtsbeschwerde wendet sich der Angeklagte M* zunächst schlechthin gegen die Verhängung der Haft nach § 193 Abs. 6 StPO. Da seine Ausführungen jedoch sinngemäß die Anfechtung der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichtes Linz vom 11. März 1993 einschließen, tragen sie § 1 Abs. 1 GRBG hinreichend Rechnung.

Die Grundrechtsbeschwerde ist im Ergebnis berechtigt.

Nach § 193 Abs. 6 StPO darf ein wegen Ablaufs der nach Abs. 3 und 4 dieser Gesetzesbestimmung zulässigen Höchstdauer aus der Untersuchungshaft entlassener Beschuldigter jeweils höchstens für die Dauer von weiteren sechs Wochen neuerlich in Haft genommen werden, wenn dies zum Zwecke der Durchführung der Hauptverhandlung notwendig ist. Dementsprechend muß bei dieser an besondere Voraussetzungen geknüpften Haft die Untersuchungshaft bereits beendet worden und ihre zulässige Höchstdauer abgelaufen sein. Mag auch der Dringlichkeit des Tatverdachtes und der Verhältnismäßigkeit im Sinne des § 193 Abs. 2 StPO aus der Sicht des § 193 Abs. 6 StPO weiterhin ungeschmälerte Bedeutung zukommen, so reicht allerdings das (bloße) Fortbestehen der bereits bis dahin dem Haftgrund der Fluchtgefahr zugrunde gelegten Tatsachen ‑ entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichtes ‑ zur Haftbegründung nach der letzterwähnten Bestimmung nicht hin. Hätte doch die im angefochtenen Beschluß vertretene abweichende Rechtsmeinung zur Konsequenz, daß generell im Fall fortwirkender Fluchtgefahr die Fristen des § 193 Abs. 3 und 4 StPO nach Abs. 6 leg. cit. im Extremfall sogar auf unbestimmte Zeit zu unterlaufen wären, da die ‑ wenngleich mit sechs Wochen begrenzte - Haft gemäß § 193 Abs. 6 StPO nach der gesetzlichen Textierung ("jeweils") wiederholt werden kann. Eine solche Sinngebung durch den Gesetzgeber ist aber bei der evidenten Gesamtausrichtung des § 193 StPO auf eine größtmögliche Haftstraffung ausgeschlossen.

Für die Untersuchungshaft nach § 193 Abs. 6 StPO bedarf es somit einer spezifischen Aktualisierung des Haftgrundes der Fluchtgefahr in der Richtung, daß die Durchführung der Hauptverhandlung ohne Inhaftierung des Beschuldigten (Angeklagten) zu scheitern droht. Demnach müssen Umstände aktuell werden, die es notwendig machen, den Beschuldigten speziell zur Durchführung der Hauptverhandlung in Haft zu nehmen. Solche Umstände müssen die besondere Gefahr indizieren, der Beschuldigte könnte zur Hauptverhandlung nicht stellig gemacht werden.

In diesem Sinn besondere Gründe sind vor allem etwa dann gegeben, wenn der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zur Verhandlung erschienen und der Versuch einer Vorführung vergeblich geblieben ist oder dem Angeklagten schon die Ladung nicht zugestellt werden konnte, weil er geflüchtet ist oder sich verborgen hält (so die Erläuterungen zur Regierungsvorlage zum Strafverfahrensänderungsgesetz 1983, 1422 Blg.NR 15. GP). Eine dem § 193 Abs. 6 StPO entsprechende Aktualisierung des Haftgrundes der Fluchtgefahr liegt aber beispielsweise auch dann vor, wenn der Beschuldigte schon vor dem Ablauf der gesetzlichen oder durch Richterspruch verlängerten Höchstdauer der Untersuchungshaft erklärt hat, er werde sich nach der bevorstehenden (angeordneten) Haftentlassung absetzen und der Hauptverhandlung entziehen.

Daß der Beschuldigte sich nach der ‑ in ihrer zulässigen Höchstdauer gemäß § 193 Abs. 3 und 4 StPO voll ausgeschöpften ‑ Untersuchungshaft tatsächlich auf freiem Fuß befunden haben muß, stellt ‑ entgegen dem in der Grundrechtsbeschwerde dazu vertretenen Standpunkt ‑ keine unabdingbare Voraussetzung jedweder Haftverhängung nach § 193 Abs. 6 StPO dar. Genug daran, daß das Ende der Untersuchungshaft durch die gerichtliche Anordnung ihrer Aufhebung rechtswirksam konkretisiert ist.

Eine im dargelegten Sinn spezifische Aktualisierung des in Rede stehenden Haftgrundes liegt hier jedoch nicht vor. Diesbezüglich ergeben sich Anhaltspunkte weder aus der Aktenlage selbst noch aus dem angefochtenen Beschluß, in dem das Oberlandesgericht ‑ wie auch die zuvor befaßt gewesenen Instanzen ‑ die Haft nach § 193 Abs. 6 StPO bloß allgemein auf den (für weiterhin wirksam erachteten) Haftgrund der Fluchtgefahr stützt, auf dem bereits die vorausgegangene zehnmonatige Untersuchungshaft basierte. In diesem Punkt wurde im angefochtenen Beschluß (nicht anders als in den Vorbeschlüssen) auf den Aufenthalt des Beschwerdeführers im Inland lediglich zur Durchführung der Straftaten bei fehlender sonstiger Bindung an Österreich und auf die Höhe der zu erwartenden Strafe abgestellt. Ein spezieller, die bereits berücksichtigten Aspekte erweiternder neuer Bezug auf die Gefahr, die Durchführung der Hauptverhandlung würde am Folgeverhalten des Angeklagten scheitern, wird dagegen weder in der Entscheidung des Oberlandesgerichtes dargetan, noch sonst durch den Akteninhalt indiziert.

Da somit in Ansehung des Beschwerdeführers am 11.März 1993 nicht sämtliche Voraussetzungen für die Haft nach § 193 Abs. 6 StPO vorlagen, wäre es dem Oberlandesgericht Linz als Beschwerdegericht oblegen, die Enthaftung zu verfügen. Der in Beschwerde gezogene Beschluß hat den Angeklagten M* demnach im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt (§ 2 Abs. 1 GRBG).

Das Oberlandesgericht Linz wird nunmehr gemäß § 7 Abs. 2 GRBG vorzugehen haben.

Die Kostenentscheidung basiert dem Grunde nach auf § 8 GRBG, der Höhe nach auf der Verordnung des Bundesministeriums für Justiz, BGBl. 35/93.

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