OGH 10ObS34/93

OGH10ObS34/9318.2.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Robert Prohaska (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Taucher (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Peter B*****, vertreten durch Dr.Christoph Brenner, Rechtsanwalt in Krems an der Donau, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. Oktober 1992, GZ 34 Rs 82/92-37, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 13. März 1992, GZ 7 Cgs 3/92-33, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Berufung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Nach den erstgerichtlichen Feststellungen kann der Kläger (zwischen seiner Wohnung und der Arbeitsstätte) auf annähernd ebenem Gelände 1000 bis 1500 m gehen. Tagespendeln ist ihm möglich und zumutbar; Wochenpendeln und Übersiedeln (aus medizinischen Gründen) nicht (S 4, 5, 6 und 7 des Urteils, AS 167, 169, 171 und 173). Auch "im Einzugsbereich des Klägers" kommen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch zahlreiche (Hilfsarbeiter)Tätigkeiten vor, die seiner Arbeitsfähigkeit entsprechen (S 7 des Urteils, AS 173). Wegen dieser Verweisungsmöglichkeiten erachtete das Erstgericht den Kläger nicht als invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG und wies die Klage ab.

Unter den Berufungsgründen der mangelhaften bzw unrichtigen Tatsachenfeststellung und unrichtigen rechtlichen Beurteilung machte der Kläger ua das Fehlen von Feststellungen darüber geltend, ob er innerhalb der auf annähernd ebenem Gelände möglichen Gehstrecke von 1000 bis 1500 m ein öffentliches Verkehrsmittel erreichen könne. Die nächstgelegene Autobushaltestelle sei rund 6 km von seinem Wohnhaus entfernt, er und seine bei ihm wohnenden Familienangehörigen besäßen keinen Pkw, ihm selbst wäre auch die Benützung eines Mopeds aus gesundheitlichen Gründen unmöglich. Daß es im Umkreis von 1000 bis 1500 m vom Wohnort keine ausreichende Anzahl von geeigneten Arbeitsplätzen gäbe, müßte gerichtsbekannt sein. Daher wäre festzustellen gewesen, daß der Kläger auf Grund seines Gesundheitszustandes außerstande sei, einen für ihn geeigneten Arbeitsplatz zu erreichen. Bei einer solchen Feststellung würde er als invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG gelten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge.

Weil ein Versicherter, sofern nicht medizinische Gründe entgegenstünden, auch einen Wechsel des Wohnortes anstreben und in Kauf nehmen müsse, komme es nicht auf die Verhältnisse des derzeitigen Wohnortes des Klägers sondern auf den (gesamtösterreichischen) allgemeinen Arbeitsmarkt an. Auf diesem gebe es aber eine ausreichende Zahl von geeigneten Arbeitsplätzen, die mit den dem Kläger noch zumutbaren Anmarschwegen mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar wären. Deshalb habe das Erstgericht eine Invalidität des Klägers nach § 255 Abs 3 ASVG ohne Rechtsirrtum verneint.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die nicht beantwortete Revision des Klägers wegen Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, das angefochtene Urteil durch Klagestattgebung abzuändern oder es allenfalls aufzuheben und die Sache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, daß es nicht auf die Verhältnisse des derzeitigen Wohnortes des Klägers sondern auf den gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt ankomme, läßt die unangefochten gebliebene erstgerichtliche Feststellung außer acht, daß dem Kläger (nur) Tagespendeln, nicht aber auch Wochenpendeln und Übersiedeln (aus medizinischen Gründen) möglich ist.

In einem solchen Fall kann von einem Versicherten nach stRsp des erkennenden Senates nicht verlangt werden, durch entsprechende Wahl seines Wohnortes (Übersiedeln von einem abgelegenen Wohnort in einen verkehrsgünstigeren Ort) oder Wochenpendeln die Bedingungen für das Erreichen des Arbeitsplatzes herzustellen, die für Arbeitnehmer im allgemeinen gegeben sind (SSV-NF 1/20, 3/142, 5/38 ua).

Im vorliegenden Fall ist daher zu erörtern und festzustellen, ob im Umkreis der dem Kläger möglichen Gehstrecke, falls er ein Massenverkehrsmittel benützen könnte, das innerhalb dieser Gehstrecke eine Zu- und Aussteigemöglichkeit bietet, in dem durch die Benützbarkeit des Verkehrsmittels erweiterten Umkreis, eine entsprechende Zahl von adäquaten Arbeitsplätzen zur Verfügung steht. Im Hinblick auf den möglicherweise nur schlecht mit Massenverkehrsmitteln aufgeschlossenen derzeitigen Wohnort des Klägers, von dem aus die Zurücklegung der Wege zum und vom Arbeitsplatz bzw zum und vom nächsten Massenverkehrsmittel mit privaten Verkehrsmitteln üblich sein könnte, wäre allenfalls auch zu erörtern und festzustellen, ob der Kläger die Wege zwischen seiner Wohnung und der Arbeitsstätte, gegebenenfalls zur Haltestelle eines Massenverkehrsmittels, in zumutbarer Weise mit einem privaten Fahrzeug zurücklegen könnte.

Dazu waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (§§ 496, 499, 503 Z 3 und 4, 510, 511 und 513 ZPO).

Im fortgesetzten Verfahren könnte der Kläger auch die in der Revision erwähnten tatsächlichen Behauptungen und Beweise über die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes nach Schluß der mündlichen Verhandlung in erster Instanz vorbringen, die in der Revisionsinstanz gegen § 504 Abs 2 ZPO verstoßende Neuerungen darstellen.

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten von Berufung und Revision beruht auf dem gemäß § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.

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