OGH 10ObS22/93

OGH10ObS22/9318.2.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Robert Prohaska (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Taucher (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ilse H*****, Verkäuferin, *****, vertreten durch Dr.Karl Preslmayr, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13.November 1992, GZ 32 Rs 138/92-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 13.März 1992, GZ 12 Cgs 185/91-16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 2.1.1940 geborene Klägerin hat den Friseurberuf erlernt, war etwa sieben Jahre als Laborangestellte und zuletzt ein Jahr lang als Verkäuferin (an einem Zeitungsstand) beschäftigt. Seit 1982 ist sie nicht mehr berufstätig. Auf Grund verschiedener gesundheitsbedingter Einschränkungen ist sie nur mehr für leichte Arbeiten geeignet. Der rechte Arm kann derzeit nur bis knapp unter Schulterhöhe angehoben werden. Exponierte Stellen, Zeitdruck im Sinn von Akkordtätigkeiten und dauerndes Bücken scheiden aus. Da die Klägerin an Diabetes mellitus leidet, muß am Arbeitsplatz die Möglichkeit zur Blutzuckerselbstkontrolle und - wenn erforderlich - zu kurzfristigen Arbeitspausen gegeben sein, um in Blutzuckerschwankungen eingreifen zu können. Nachtschicht ist nicht möglich. Die Fingerbeweglichkeit ist erhalten. Eine Umstellung kommt im Sinne einer Unterweisung oder Anlernung in Frage. Für die Klägerin kommen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Büroangestelltentätigkeiten in der Verwaltungsabteilung (zB Sach- oder Lagerverwaltung) verschiedener Betriebe in Frage. Dabei handelt es sich um Arbeiten mit leichter körperlicher Belastung in Form von sitzender Schreibtischtätigkeit unter Vermeidung von jeglichen exponierten Stellen bei durchschnittlichem Zeitdruck. Blutzuckerkontrollen sind auch ohne besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers möglich. Dem Berufsverlauf der Klägerin entsprechend erfordert die angeführte Berufstätigkeit keine qualifizierte kaufmännische Berufsausbildung. Eine Anlernung innerbetrieblich, ergänzt eventuell durch Büropraxiskurse im Zeitraum von maximal zwei bis drei Monaten reicht aus. Die kollektivvertragliche Einstufung erfolgt zumeist in der Verwendungsgruppe II. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kommen solche Tätigkeiten in ausreichender Zahl vor.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.7.1991 gerichtete Klagebegehren ab. Es führte in rechtlicher Hinsicht aus, daß die Klägerin nicht berufsunfähig im Sinn des § 273 ASVG sei, weil sie nach den Feststellungen noch verschiedene Berufstätigkeiten ausüben könne.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis unbedenklicher Beweiswürdigung und verwarf auch die Rechtsrüge. Wegen der geringen Qualifikationshöhe der von der Klägerin zuletzt verrichteten Angestelltentätigkeit als Verkäuferin bei einem Zeitungsstand sei das Verweisungsgebiet der in den Verwendungsgruppen II der Angestelltenkollektivverträge angeführte Tätigkeitsbereich. Eine solche Verweisung sei auch ohne übliche kaufmännische Ausbildung und ohne bisher erfolgte Bürotätigkeit zumutbar. Für solche Verweisungstätigkeiten sei nur eine kurze innerbetriebliche Unterweisung notwendig. Die Möglichkeit, tatsächlich einen freien Arbeitsplatz zu finden, sei für den Versicherungsfall der verminderten Arbeitsfähigkeit unerheblich. Sollte die Klägerin wegen ihres Alters keinen Arbeitsplatz mehr finden können, so wäre hiefür die Arbeitsmarktverwaltung leistungspflichtig, nicht aber der beklagte Pensionsversicherungsträger.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Klägerin ist nicht berechtigt.

Unter dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nach § 503 Z 2 ZPO rügt die Klägerin Mängel des Verfahrens erster Instanz: Entgegen § 75 Abs. 2 ASGG seien die ärztlichen Sachverständigengutachten nicht mündlich erörtert worden; die Klägerin sei nicht angeleitet worden, die Erörterung der Gutachten zu beantragen. Die Nichterörterung der Gutachten oder die Verletzung der richterlichen Anleitungspflicht wurden indessen in der Berufung nicht als Verfahrensmängel geltend gemacht. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes können aber Mängel des Verfahrens erster Instanz, die im Berufungsverfahren nicht gerügt wurden, im Revisionsverfahren nicht mehr geltend gemacht werden (SSV-NF 1/68, 5/120 uva). Daran ändert nichts die Meinung der Revisionswerberin, diese Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens seien auch für das Urteil des Berufungsgerichtes kausal gewesen. Soweit man den Berufungsausführungen die Geltendmachung von (anderen) Mängeln des erstinstanzlichen Beweisverfahrens entnehmen kann, hat sich das Berufungsgericht mit diesen Mängeln auseinandergesetzt. Mängel des Verfahrens erster Instanz, welche das Berufungsgericht nicht für gegeben erachtete, können nicht mehr mit Revision geltend gemacht werden (SSV-NF 1/32, 5/116 uva).

Unter dem - im § 503 ZPO nicht aufgezählten - Revisionsgrund der "unrichtigen Tatsachenfeststellung auf Grund unrichtiger rechtlicher Beurteilung" macht die Klägerin der rechtlichen Beurteilung zuzuordnende Feststellungsmängel geltend, die aber nicht vorliegen, wie weiter unten zu zeigen sein wird.

Unter dem Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit (§ 503 Z 3 ZPO) rügt die Klägerin, das Erstgericht habe entgegen den Ausführungen des neurologisch-psychiatrischen Gutachtens, wonach bei der Klägerin kein Hinweis für ein organisches Nervenleiden bestehe, festgestellt, daß aus psychiatrisch-neurologischer Sicht kein Hinweis für das Vorliegen eines organischen Herzleidens bestehe. Auf diese Aktenwidrigkeitsrüge ist schon deshalb nicht einzugehen, weil sie in der Berufung nicht erhoben wurde und deshalb in der Revision nicht nachgetragen werden kann (SSV-NF 4/73). Es braucht daher auch nicht geprüft zu werden, ob es sich bei dem aufgezeigten Widerspruch nicht möglicherweise nur um einen Schreibfehler handelte, der auf die wesentlichen Tatsachenfeststellungen und insbesondere auf die rechtliche Beurteilung ohne Einfluß blieb.

Unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung führt die Klägerin im wesentlichen aus, die für Blutzuckerselbstkontrollen und Insulininjektionen erforderlichen Pausen seien nicht als geringfügig zu werten und würden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne besonderes Entgegenkommen des Arbeitgebers nicht toleriert. Darüber hinaus verhindere die Beweglichkeitseinschränkung des rechten Armes eine Verweisbarkeit auf Büroangestelltentätigkeiten.

Damit läßt die Klägerin die gegenteiligen Feststellungen der Tatsacheninstanzen außer acht, wonach ihr Leistungskalkül unter Berücksichtigung der Bewegungseinschränkung des rechten Armes noch Büroarbeiten erlaubt und die Möglichkeit zur Blutzuckerselbstkontrolle auch ohne besonderes Entgegenkommen des Arbeitgebers gewährleistet ist. Es entspricht auch ständiger Rechtsprechung, daß zusätzliche Ruhepausen zur Blutzuckerkontrolle und allfälliger Insulinzuführung einen Versicherten nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließen (vgl zuletzt SSV-NF 6/66 mwN). Im übrigen ist der Rechtsrüge entgegenzuhalten, daß es bei Beurteilung des Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit entscheidend nicht auf die Feststellung der einzelnen Leidenszustände ankommt, sondern vielmehr auf das zusammenfassende medizinische Leistungskalkül (vgl SSV-NF 3/135). Von diesem ausgehend ist aber Berufsunfähigkeit der Klägerin nach § 273 Abs. 1 ASVG nicht gegeben.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs. 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch an die unterlegene Klägerin nach Billigkeit wurden nicht dargetan und sind nach der Aktenlage nicht ersichtlich.

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