Spruch:
Das Urteil des Kreisgerichtes Wiener Neustadt vom 22.Mai 1991, GZ 12 b E Vr 562/87-78, und das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht vom 10.Dezember 1991, 25 Bs 469/91, verletzen das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 6 und 80 StGB. Beide Urteile werden aufgehoben und es wird sogleich in der Sache selbst zu Recht erkannt:
Dr.Gerhard T***** wird von der wider ihn erhobenen Anklage, er habe am 21.April 1987 in Wiener Neustadt dadurch, daß er die Angiographie bei Harald K***** anordnete, obwohl die Vorbefunde eine relativ harmlose Halsentzündung mit Lymphdrüsenschwellung ergaben und mindergefährliche Untersuchungsmethoden, wie die Punktion, das Befühlen der nicht bläulich verfärbten eitrigen und nicht pulsierenden Geschwulst, die Prüfung der Senkungsgeschwindigkeit der Blutkörperchen und eine Ultraschalluntersuchung zur Verfügung standen, sowie dadurch, daß er die Angiographie nicht sofort nach den ersten Röntgenbildern abbrach, wo er hätte sehen müssen, daß die Halsschlagader nicht rupiert war, fahrlässig den Tod des am 3. Dezember 1974 geborenen Harald K***** herbeigeführt, er habe hiedurch das Vergehen der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB begangen, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Kreisgerichtes Wiener Neustadt vom 22.Mai 1991, 12 b E Vr 562/87-78, wurde der am 4.November 1948 geborene Oberarzt des Krankenhauses Wiener Neustadt Dr.Gerhard T***** des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB schuldig erkannt, weil er am 21. April 1987 in Wiener Neustadt dadurch, daß er als behandelnder Spitalskinderarzt bei dem Kind Harald K***** zur Klärung der Frage, ob eine traumatische Verletzung der Halsschlagader vorlag, eine Angiographie, somit eine gefährliche Untersuchungsmethode anordnete, obwohl die Vorbefunde und eine bereits auf Grund der Behandlung mit Antibiotika eingetretene Besserung auf eine relativ harmlose Halsentzündung mit Lymphdrüsenschwellung hinwiesen, weiters die mindergefährliche Untersuchungsmethode der Punktion zur Verfügung gestanden wäre, sowie dadurch, daß er die Angiographie, deren Gefährlichkeit mit der Dauer der Untersuchung ansteigt, nicht sofort nach Auftreten eines Mangels am Untersuchungsgerät abbrechen ließ, wodurch das Kind an den Folgen eines bei der Angiographie entstandenen Thrombus, der eine Gehirnarterie verlegte und dadurch in der Folge bei dem Kind zu ausgedehnten Mediainfarkten der rechten Großhirnhälfte mit Volumsvermehrung und Hirnstammkompression führte, verstarb, fahrlässig den Tod des Kindes herbeigeführt hatte.
Nach den wesentlichen Urteilsfeststellungen ist der als Facharzt für Kinderheilkunde und Anästhesie ausgebildete Oberarzt Dr.T***** im Krankenhaus Wiener Neustadt an der Kinderabteilung tätig. Am 18.April 1987 (Karsamstag) wurde der zwölfjährige Harald K***** in der Kinderabteilung stationär aufgenommen. Er hatte am 10.April 1987 den rechten Oberarm gebrochen und im Krankenhaus (ambulant) einen Gipsverband erhalten. Ein bis zwei Tage danach hatte er Schmerzen im Hals verspürt, die auch die Beweglichkeit des Kopfes einschränkten; einige Tage danach war an der rechten Halsseite eine Schwellung entstanden. Der Hausarzt hatte eine Lymphdrüsenentzündung (Lymphadenitis) diagnostiziert und Antibiotika verschrieben. Da auch am Karsamstag keine Besserung eingetreten war und die Schwellung bereits die Größe eines Hühnereis hatte, war die Notärztin aufgesucht worden, die an die Möglichkeit einer bösartigen Geschwulst gedacht und eine sofortige Behandlung im Krankenhaus Wiener Neustadt empfohlen hatte. An der Kinderabteilung hatte an diesem Tag - unter Aufsicht des jederzeit erreichbaren Beschuldigten - die Assistenzärztin Dr.C***** Dienst. Nach Untersuchung stellte sie die Differenzialdiagnose Lymphadenitis oder Hämatom (der Halsschlagader). In der Fortsetzung der bisherigen Behandlung verordnete sie weitere Antibiotika, ferner eine Bestrahlung. Die Werte der sogleich durchgeführten Blutsenkung waren nicht auffällig. Am 19.April 1987 stellte die Ärztin eine leichte Besserung fest. Am Ostermontag, dem 20. April, übergab sie die Behandlung an Dr.T*****, der trotz der Anzeichen einer Besserung eher an eine Verletzung der Innenwand der rechten Halsschlagader bei dem Sturz glaubte, die zur Ablagerung von Blutgerinnseln in der Halsschlagader geführt habe, welche die Schwellung hervorriefen. Eine Ultraschalluntersuchung erbrachte - auch wegen der damals unzulänglichen Apparatur des Krankenhauses - kein klares Ergebnis. Daraufhin entschloß sich der Beschuldigte nach Rücksprache mit dem Gefäßchirurgen des Krankenhauses, der ja bei Zutreffen seines Verdachtes das Kind hätte operieren müssen, zur Durchführung einer Angiographie, einer im Urteil näher beschriebenen, mit gewissen Risken behafteten, im Falle eines Aneurysmas aber unerläßlichen (SV Dr.Grunert, S 267/II) Untersuchungsmethode. Wie das Erstgericht - worauf noch zurückzukommen sein wird - in diesem Zusammenhang annahm, hätte auch eine Punktion der Geschwulst mit geringerem Risiko durchgeführt werden können (S 367/II). Nach Einholung der Zustimmung der Kindeseltern, die der Angeklagte allerdings auf die Gefährlichkeit der Untersuchungsmethode nicht hinwies, stellte dieser das Kind dem auf dem Gebiet der Angiographie erfahrenen Assistenzarzt der Röntgenabteilung vor und informierte auch den Leiter dieser Abteilung.
Die Angiographie konnte wegen eines Geräteausfalles nur mit verzögernden Erschwernissen durchgeführt werden und erbrachte das Nichtvorliegen eines Aneurysmas, worauf der Beschuldigte noch unter Ausnützung der Nachwirkung der Narkose die Geschwulst punktierte, aus der Eiter floß. Die Angiographie hatte aber zur Bildung eines Thrombus in der Halsschlagader geführt, der ins Gehirn gelangte und die im Urteilsspruch festgestellten, trotz sofortiger Überstellung in die Neurologische Universitätsklinik Wien in der übernächsten Nacht zum Tode des Kindes führenden Folgen nach sich zog.
Das Erstgericht erblickte das Verschulden des Beschuldigten in der Veranlassung der risikobehafteten Carotisangiographie, obwohl die Diagnose eines Aneurysmas nicht genügend abgesichert war; es wäre besser gewesen, abzuwarten, ob die - für Lymphadenitis sprechende - Besserung des Befindens des Kindes anhalte, allenfalls die Halsschlagader zu punktieren. Schließlich wäre die Angiographie vom Angeklagten abzubrechen gewesen, als sich ihre Durchführung verzögerte.
Die zunächst ebenfalls angeklagten Spitalsärzte Dr.Walter K***** und Dr.Rudolf S***** wurden bereits mit - gekürzt ausgefertigem - Urteil vom 19.Juni 1990, ON 63, das die Staatsanwaltschaft unangefochten ließ, freigesprochen.
Der Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit (§ 281 Abs. 1 Z 4, 5, 9 lit. a StPO), Schuld und Strafe gab das Oberlandesgericht Wien entgegen der Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft mit Erkenntnis vom 10.Dezember 1991, 25 Bs 469/91 (ON 84), nicht Folge. Auch das Berufungsgericht erblickte den objektiven und subjektiven Sorgfaltsverstoß des Angeklagten in der Vermutung einer keinesfalls ausreichend indizierten Halsschlagaderverletzung und der Anordnung einer nur bei strenger Indikation zulässigen Angiographie. Im Hinblick auf diese Fehldiagnose wäre auch die Unterlassung einer Punktion fehlerhaft gewesen. Dem Berufungseinwand gegen den Vorwurf, die Angiographie nicht abgebrochen zu haben, entgegnete das Berufungsgericht, dies sei von untergeordneter Bedeutung, doch hätte der Beschuldigte den Angiographen auf die Gefährlichkeit der weiteren Durchführung der Untersuchung hinweisen müssen.
Rechtliche Beurteilung
Die Urteile beider Instanzen verletzen das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 6 und 80 StGB, weil es bereits an einer dem Verurteilten anzulastenden objektiven Sorgfaltswidrigkeit seines Verhaltens mangelt. Unter diesem konstituierenden Merkmal jedes Fahrlässigkeitstatbestandes ist ein Verstoß gegen jene allgemein verbindlichen Verhaltensanforderungen zu verstehen, deren Einhaltung das Recht in der jeweiligen konkreten Situation zur Vermeidung ungewollter Tatbildverwirklichungen verlangt. Vorausgesetzt ist jeweils, daß eine Tatbildverwirklichung objektiv voraussehbar ist, woraus sich die Gefährlichkeit des zu beurteilenden Verhaltens ergibt. Diese Gefährlichkeit wird nach dem ex-ante-Urteil eines am Standort des Handelnden vorgestellten sachkundigen Beobachters beurteilt. Dabei schließt aber Handeln im erlaubten bzw. sozialadäquaten Risiko die objektive Sorgfaltswidrigkeit aus; diese ist stets nur sozialinadäquate Gefährlichkeit. Den allgemeinen Maßstab dafür, ob die mit einem bestimmten Verhalten verbundene Gefahr als sozialinadäquat einzustufen ist, bildet das gedachte Verhalten einer Modellfigur, die dem jeweiligen Verkehrskreis zu entnehmen ist, vorliegend also dem eines Facharztes für Kinderheilkunde (vgl. Burgstaller WK Rz 33-38 zu § 6 StGB, Rz 47 zu § 80 StGB). Maßfigur ist der ordentliche, gewissenhafte und pflichtgetreue Durchschnittsarzt der in Betracht kommenden ärztlichen Fachgruppe, der auch der Verpflichtung entsprochen hat, durch ständige Fort- und Weiterbildung Kenntnisse über den jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft zu erlangen (vgl. § 22 Abs. 1 ÄrzteG, Anm. 6 und 9 in Manzsche Sonderausgabe Nr. 65; Lexikon des Arztrechts, Walter de Gruyter-Verlag 1984, S 140, 142 Rz 305, 306).
Im gegenständlichen Fall ist davon auszugehen, daß die Schwellung im Bereich der rechten Halsschlagader nach den auf den übereinstimmenden Gutachten aller vier Sachverständigen beruhenden Urteilsfeststellungen drei Ursachen haben konnte (vgl. S 397/II): Die zunächst vom Hausarzt in Betracht gezogene Lymphadenitis, also eine Entzündung mit Schwellung eines Lymphknotens; das von der aufnehmenden Ärztin und dem Verurteilten daneben für möglich gehaltene Aneurysma, also eine Verletzung der Halsschlagader, die zu einer mit Blut gefüllten Ausstülpung der Ader führt, und schließlich ein (von der Notärztin vermutetes) bösartiges Geschwür, offenbar die unwahrscheinlichste Erklärung. Für die Lymphdrüsenentzündung sprach zunächst, daß das die häufigste Erscheinung ist, dagegen jedoch die nur wenig erhöhte Temperatur und die Unauffälligkeit der Blutsenkungswerte. Gegen ein Aneurysma sprach die Seltenheit einer solchen Verletzung speziell bei Kindern und - allerdings nicht zwingend - die Beschaffenheit der weder bläulich verfärbten noch pulsierenden Geschwulst. Ausgeschlossen werden konnte - auch zufolge der unzulänglichen Apparatur für die Ultraschalluntersuchung - nach abermals übereinstimmenden Sachverständigengutachten keine der beiden erstgenannten Möglichkeiten, wenngleich nach den Expertisen die - rückblickend betrachtet auch richtige - Annahme einer Lymphadenitis wesentlich näher lag.
Nach den Urteilsfeststellungen hat der Verurteilte, der auch vom Wissen um den Sturz des Kindes beeinflußt war, seine Befürchtung eines Aneurysmas mit dem Gefäßchirurgen des Krankenhauses und die Möglichkeit einer Angiographie mit dem dafür zuständigen Arzt und dessen Vorgesetztem besprochen. Schon dieses, mit beachtlichem Zeitaufwand verbundene Verhalten spricht gegen eine Sorgfaltswidrigkeit und unterscheidet sich deutlich etwa von den auf Nachlässigkeiten verschiedenster Art beruhenden Behandlungsfehlern, wie sie in der forensischen Praxis beobachtet werden und auch zu Schuldsprüchen führen. Hier war der Fehler des Arztes allenfalls Überängstlichkeit, der aber nicht dazu führte, daß er eine notwendige Maßnahme verabsäumte (die schon eingeleitete Behandlung gegen Lymphadenitis wurde ja fortgesetzt). Entscheidend ist im vorliegenden Fall, daß die Möglichkeit eines Aneurysmas nach der ärztlichen Wissenschaft, wenngleich vielleicht minder wahrscheinlich, nicht auszuschließen war. Hätte sich diese Vermutung bewahrheitet, der Verurteilte aber die Angiographie unterlassen gehabt, hätte man ihm dies weit eher als ihre Anordnung zum Vorwurf machen können. Die einzige im Fall eines Aneurysmas zielführende Untersuchung ist eben die Angiographie, die eine anerkannte medizinische Methode ist und deren Gefährlichkeit im Urteil - verständlich angesichts des vorliegenden letalen Ausgangs - übertrieben wird (vgl. Univ.-Prof.Dr.Grunert S 273/II, Univ.-Prof. Dr.Butka S 257/II).
Die Urteilsannahme, dem Verurteilten wäre die mindergefährliche Untersuchungsmethode der Punktion zur Verfügung gestanden, beruht auf einer Fehlinterpretation der Sachverständigengutachten (Dr.Grunert S 269/II). Nur die Diagnose Lymphadenitis hätte diese Untersuchung gestattet; der Verurteilte hat sie auch, als die Angiographie das Nichtvorhandensein eines Aneurysmas zeigte, sogleich unter Ausnützung der nachwirkenden Narkose angewendet.
Völlig verfehlt ist der - in zweiter Instanz allerdings nur abgeschwächt aufrechterhaltene - Vorwurf, der Verurteilte hätte die Angiographie beim Auftreten technischer Schwierigkeiten abbrechen müssen. Nach der unter Ärzten gegebenen horizontalen Pflichtenaufteilung (vgl. dazu Schick, Die strafrechtliche Verantwortung des Arztes, S 108, in Arzt- und Arzneimittelhaftung in Österreich, Orac 1992, Laufs, NJW 1992, 1535 uva) kam ihm ein Weisungsrecht gegenüber dem für Angiographie ausgebildeten und darin erfahrenen Röntgenologen in keiner Weise zu; er war übrigens nicht in seiner Eigenschaft als Veranlasser dieser Untersuchung dabei anwesend, sondern als Anästhesist. Dem Angiographen selbst und seinem Vorgesetzten wurde von den Gutachtern trotz des dabei unterlaufenen, letztlich zum Tode führenden Geschehens Einhaltung der Regeln ärztlicher Kunst bescheinigt; beide wurden demgemäß freigesprochen. Umso weniger kann daher dem Verurteilten sorgfaltswidriges Verhalten bei der Angiographie vorgeworfen werden.
Zusammenfassend ist zu sagen, daß der Fehler des Verurteilten in einer ex post betrachtet unrichtigen, ex ante aber vertretbaren Diagnose bestand. Eine medizinisch vertretbare, wenngleich nachträglich falsifizierte Diagnose zählt zu den Risken des Arztberufes; sie trotz Einhaltung der anerkannten Untersuchungsmethoden als Sorgfaltswidrigkeit zu verurteilen, würde die Ausübung dieses Berufes schlechthin unmöglich machen; sie kann daher nicht als sozialinadäquat gefährlich beurteilt werden. Vielmehr fällt dem Verurteilten keine objektive Sorgfaltswidrigkeit zur Last, sodaß in Stattgebung der vom Generalprokurator gemäß § 33 StPO erhobenen Beschwerde die Urteile beider Gerichtsinstanzen aufzuheben, sogleich in der Sache selbst zu erkennen und der Verurteilte von der wider ihn erhobenen Anklage gemäß § 259 Z 3 StPO freizusprechen war.
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