OGH 10ObS222/92

OGH10ObS222/9215.9.1992

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Oskar Harter (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Werner Bayer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Alois W**********, vertreten durch Dr.Albert M. Sauer-Nordendorf, Rechtsanwalt in Pöllau, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (Landesstelle Graz), 1200 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3.Juni 1992, GZ 7 Rs 22/92-16, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 22.November 1991, GZ 30 Cgs 64/91-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 5.März 1991 lehnte die beklagte Partei den Anspruch des Klägers auf Leistungen gemäß § 173 ASVG für den Riß der langen Bizepssehne rechts ab, weil diese körperliche Beschädigung mit dem angezeigten Ereignis bei der Arbeit am 16.August 1989 in keinem ursächlichen Zusammenhang stehe. Es habe auch kein Unfall, das sei ein von außen her auf den Körper schädigend einwirkendes Ereignis, stattgefunden.

Die auf "Leistungen aus dem Anspruch (des Klägers) aus dem Unfallereignis vom 16.August 1989 (Unfallsrente)" gerichtete Klage stützte sich zunächst im wesentlichen darauf, daß der Kläger, der bis dahin keine Beschwerden am rechten Arm oder Oberarm gehabt habe, am genannten Tag während einer starken körperlichen Arbeit, als er ca 8 m lange, 10 mal 16 cm starke, schwere Dachsparren durch Zusammendrücken der im Ellbogen abgewinkelten Arme, also eine starke Muskelanspannung, in die richtige Position bringen wollte, kurz nachdem sich die Muskeln entspannt hätten, plötzlich im rechten Oberarm "einen starken Brenner" verspürt habe. Bei der genannten Arbeit habe er die Sparren mit beiden Händen angefaßt und nach innen gedreht. Weil sich ein Sparren verdreht habe, habe er ihn mit dem rechten Arm festhalten müssen, wobei sich der Oberarm ebenfalls verdreht habe. Dadurch sei es zu einem Bizepssehnenriß gekommen. In der Tagsatzung am 28.November 1991 brachte der Kläger zum Ereignis vom 16.August 1989 vor, er habe mit einem Mitarbeiter zwei 8 bis 8,5 m lange Kanthölzer, die geschnitten und ausgestemmt werden mußten, auf etwa 1 m hohe Böcke aufgelegt. Durch das Schlagen und Prellen sei der untere Teil eines Sparrens vom Bock gefallen. Der Kläger habe versucht, das herabfallende Kantholz abzufangen. Beim Hinunterfallen sei es mit seinem Arm in Berührung gekommen und habe einen plötzlichen, schweren Schmerz verursacht. Als der Kläger den Sparren wieder auf den Bock gehoben habe, sei es wieder zu einem starken Schmerz gekommen, und er habe seine Verletzung bemerkt. Vorher habe die Bizepssehne keinerlei degenerative Schädigungen aufgewiesen.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Das Ereignis vom 16.August 1989 sei kein eigenständiges Unfallgeschehen. Der Riß der langen Bizepssehne rechts sei bestenfalls eine Gelegenheitsursache.

Das Erstgericht wies die Klage ab.

Es traf im wesentlichen folgende Tatsachenfeststellungen:

Der (am 1.August 1935 geborene) Kläger erlitt am 16.August 1989 bei Arbeiten an einem Dachstuhl einen Riß der langen Bizepssehne am rechten Oberarm, aber keine offene Verletzung. Ein solcher Riß ist nur möglich, wenn die Sehne degenerativ vorgeschädigt ist. Es ist nicht möglich, daß durch eine Hebetätigkeit, insbesondere bei abgewinkelten Ellbogen, ein Riß einer gesunden langen Bizepssehne entsteht. Auch bei dem in der Tagsatzung am 22.November 1991 geschilderten Unfallshergang kann es zu keinem Reißen einer nicht vorgeschädigten Bizepssehne kommen. Denn auch durch das Aufprallen eines Kantholzes, also eines scharfen Gegenstandes, kann die Sehne ohne offene Durchtrennung der Sehne und des dazwischenliegenden Muskelgewebes nicht reißen. Daher müssen bereits vor dem 16.August 1989 degenerative Veränderungen der Bizepssehne bestanden haben. "Aus diesen Gründen kann der Riß der Bizepssehne nicht als unfallkausal angesehen werden."

Das Berufungsgericht gab der wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtiger Beweiswürdigung und Tatsachenfeststellung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung des Klägers nicht Folge.

Der Gesundheitsschaden sei zwar real durch eine kausale Einwirkung aus dem Schutzbereich der Unfallversicherung entstanden, wäre aber auf Grund der schicksalhaften inneren Anlage (altersmäßige Abnützungserscheinungen, Degeneration) aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb kurzer Zeit in ähnlicher Schwere entstanden. Auf das Ausmaß dieser Verfrühung des Körperschadens durch das Unfallereignis müsse nicht näher eingegangen werden, weil der Sehnenriß nach den Feststellungen nur auf das degenerative innere Geschehen zurückzuführen sei, das aus Anlaß der körperlichen Beanspruchung während der Arbeit zum Körperschaden geführt habe. Daraus folge, daß jedes andere ähnliche äußere Ereignis, entweder im Verlauf der Arbeitsleistung oder bei einer anderen Tätigkeit, den gleichen Schaden herbeigeführt hätte. Deshalb sei das Unfallereignis nicht als wesentliche Bedingung iS der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre anzusehen.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es, allenfalls auch das Ersturteil aufzuheben.

Die Revisionsgegnerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist berechtigt.

Das Berufungsgericht hat zutreffend ausgeführt, daß der Zusammenhang zwischen einem Arbeitsunfall und einer Körperbeschädigung nicht nur zu bejahen ist, wenn der Unfall die alleinige Bedingung des Körperschadens ist. Auch wenn er nur eine von mehreren Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn ist (konkurrierende Kausalität), ist er iS der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre eine Ursache, wenn er eine wesentliche Bedingung für den Körperschaden war. Als Ursache oder Mitursache sind unter Abwägung ihres Wertes nur die Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Bedeutung für den Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben, also nicht gegenüber den Mitursachen so erheblich in den Hintergrund treten, daß sie als unwesentlich erscheinen. Die Rechtsprechung bezeichnet nur jene Bedingungen als wesentlich, ohne die der Erfolg zu einem erheblich anderen Zeitpunkt oder nur in geringerem Umfang eingetreten wäre. Dieser Grundsatz ist auf die sog Anlagefälle zugeschnitten, in denen der Gesundheitsschaden zwar real durch eine kausale Einwirkung aus dem Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung entstanden ist, aller Wahrscheinlichkeit nach aber innerhalb kurzer Zeit in ähnlicher Schwere auf Grund einer schicksalhaften inneren Anlage entstanden wäre. In einem solchen Fall wird der Körperschaden nur dann der Unfallversicherung zugerechnet, wenn er ohne den Umstand aus der Gefahrensphäre der Unfallversicherung erheblich später oder erheblich geringer eingetreten wäre. Dabei ist eine Verfrühung des Körperschadens durch den Unfall um mehr als ein Jahr jedenfalls als erheblich iS dieser Ausführungen anzusehen (SSV-NF 5/22 ua).

Im vorliegenden Fall hat der Kläger den Anschein für sich, daß die geltend gemachte Körperschädigung (Riß der langen Bizepssehne rechts) durch einen Arbeitsunfall wesentlich mitverursacht wurde, weil sie auf ein als Unfall zu wertendes Ereignis zurückgeht, das sich während der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignete.

Auf Grund des vom Erstgericht festgestellten Sachverhalts läßt sich jedoch nicht verläßlich beurteilen, ob es zumindest gleich wahrscheinlich ist, daß die - nicht näher festgestellten - degenerativen Veränderungen der Bizepssehne die wesentliche Ursache der Körperbeschädigung (Riß der Bizepssehne rechts) waren.

Hiebei kommt es nämlich nicht darauf an, ob wegen dieser degenerativen Veränderungen jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis dieselbe Schädigung hätte herbeiführen können, sondern darauf, ob es zumindest gleich wahrscheinlich ist, daß ein solches Ereignis in naher Zukunft tatsächlich vorgekommen wäre und die selbe Schädigung ausgelöst hätte (SSV-NF 5/140). In diesem Zusammenhang hat der erkennende Senat schon ausgesprochen (SSV-NF 5/22), daß ein Unfall jedenfalls dann eine wesentliche Bedingung für einen Körperschaden ist, wenn dieser mehr als ein Jahr früher als ohne dieses Ereignis eintrat.

Zur Widerlegung des vom Kläger erbrachten Anscheinsbeweises genügt also nicht der Beweis einer abstrakten Möglichkeit, sondern es muß die konkrete, zumindest gleich hohe Wahrscheinlichkeit bewiesen werden (SSV-NF 5/140 mwN). Es sind daher Feststellungen darüber erforderlich, welche konkreten anderen Ereignisse dieselbe Schädigung ausgelöst hätten. Nur dann kann beurteilt werden, ob derartige Ereignisse in naher Zukunft tatsächlich eingetreten waren, wobei eine hohe Wahrscheinlichkeit genügen würde.

Für die Annahme des Berufungsgerichtes, der Riß der langen Bizepssehne rechts wäre auf Grund der altersmäßigen Abnützungserscheinungen und Degeneration aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb kurzer Zeit in ähnlicher Schwere entstanden und sei nur auf das degenerative innere Geschehen zurückzuführen, jedes andere ähnliche äußere Ereignis hätte den gleichen Schaden herbeigeführt, fehlen ausreichende Feststellungen, ua auch über den Zustand der langen Bizepssehne rechts vor dem Unfall vom 16.August 1989 und über den genauen Ablauf des Unfallgeschehens.

Deshalb waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache war zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (§§ 496, 503 Z 4, 510, 511 und 513 ZPO).

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens beruht auf dem nach § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.

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