OGH 2Ob32/92

OGH2Ob32/929.9.1992

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kralik als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber, Dr.Kropfitsch, Dr.Zehetner und Dr.Schinko als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei ***** Versicherung*****, vertreten durch Dr.Harry Zamponi, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei L***** Verkehrs***** AG, ***** vertreten durch Dr.Peter Lindinger, Rechtsanwalt in Linz, wegen S 90.000,-- und Feststellung (S 50.000,--), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes vom 31.März 1992, GZ 4 R 244/91-11, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz vom 6. Juni 1991, GZ 2 Cg 29/91-5, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 6.789,60 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (einschließlich S 1.131,60 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die klagende Partei begehrte von der beklagten Partei die Bezahlung von S 90.000,-- sA und beantragte die Feststellung, daß ihr die beklagte Partei für alle Leistungen, die sie als Haftpflichtversicherer der Firma J***** AG gegenüber Erika S***** aus dem Vorfall vom 8.Jänner 1985 künftig erbringen muß, zu 50 % ersatzpflichtig sei. Sie brachte vor:

Am 8.Jänner 1985 sei Erika S***** auf dem öffentlichen Gehsteig vor der Filiale ***** der Firma J***** AG zu der Haltestelle der von der beklagten Partei betriebenen öffentlichen Obuslinie gegangen und habe beabsichtigt, in den dort stehenden Obus einzusteigen. Erika S***** sei unmittelbar vor der ersten Tür des Obusses zu Sturz gekommen, weil der Gehsteig eisglatt und weder vom Schnee geräumt noch ordentlich gestreut gewesen sei. Sie habe sich dabei einen Schenkelhalsbruch und eine Prellung zugezogen. Die Versicherungsnehmerin der klagenden Partei, die Firma J***** AG, sei auf Grund der Bestimmung des § 93 StVO und der von ihr im Rahmen des Mietvertrages übernommenen Verpflichtung gehalten gewesen, die Räumung und Streuung des Gehsteiges ordnungsgemäß vorzunehmen. Sie habe diese Verpflichtung verletzt. Die beklagte Partei sei aus dem Beförderungsvertrag und aus den aus diesem erfließenden Nebenverpflichtungen verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß die Benutzer der Fahrzeuge insbesondere in den Haltestellen gefahrlos ein- bzw aussteigen können. Sie hätte daher ebenfalls den Gehsteig räumen bzw streuen oder für eine entsprechende Räumung und Streuung Sorge tragen müssen, damit eine Verletzung ihrer Passagiere nicht erfolge. Auch die beklagte Partei habe daher Räum- und Streupflichten verletzt. Als Haftpflichtversicherer der Firma J***** AG habe die klagende Partei Erika S***** ein angemessenes Schmerzengeld von S 180.000,-- bezahlt. Es sei nicht auszuschließen, daß es auch künftig zu Beeinträchtigungen der Verletzten kommen werde.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Die Verpflichtung zur Bestreuung des Gehsteiges an der Unfallstelle treffe allein die Firma J***** AG. Für die beklagte Partei bestehe auch keine Haftung aus dem Beförderungsvertrag.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es verwies auf die Außerstreitstellung, wonach die klagende Partei als Betriebshaftpflichtversicherer der Firma J***** AG der Erika S***** auf Grund des Glatteisunfalles S 180.000,-- bezahlt habe, daß gegenüber der J***** AG ein Feststellungsurteil bestehe und daß Erika S***** im Bereich der Obushaltestelle gestürzt sei. Es stellte weiters fest, daß vor der Filiale der J***** AG ein 6,60 m breiter Gehsteig liegt, der etwa zur Hälfte überdacht ist. Die Obushaltestelle befindet sich auf der Fahrbahn der Straße *****. An den Stützpfeilern des Hauses, in dem die Filiale liegt, ist das Zeichen für die Haltestelle der Obuslinie an einer Säule, die das Vordach trägt, angebracht. Davor in einer Entfernung von 5,60 m und etwa in der Mitte des Gehsteiges befindet sich ein Fahrkartenautomat. Zwischen diesem Automaten und der Säule mit dem Haltestellenzeichen liegt die Zufahrt zur Filiale der J***** AG, die über den Gehsteig führt und dadurch erkennbar ist, daß die Gehsteigkante in diesem Bereich abgeschrägt ist.

Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, daß die beklagte Partei nicht verpflichtet gewesen sei, Haltestellen im innerstädtischen Linienbereich vom Schnee zu räumen und bei Glätte zu streuen, wenn sich diese im Bereich von Gehsteigen befinden. Das Verkehrsunternehmen bediene sich dabei nur der innerstädtischen Infrastruktur und könne davon ausgehen, daß andere für den ordnungsgemäßen Zustand der Gehsteige Sorge tragen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der klagenden Partei Folge, änderte das erstgerichtliche Urteil ab und gab dem Klagebegehren statt.

Entgegen der Ansicht des Erstgerichtes sei eine zur Streupflicht der J***** AG gemäß § 93 Abs 1 StVO hinzutretende Verkehrssicherungspflicht der beklagten Partei für den Bereich der Unfallstelle aus dem Beförderungsvertrag heraus zu bejahen. Auszugehen sei dabei von der allgemeinen Lebenserfahrung, daß gerade beim Einsteigen in einen Obus und beim Aussteigen aus demselben die Glätte am Gehsteig besonders gefährlich werden kann. Es bestehe auch die Möglichkeit des Entstehens eines Gedränges. Dies alles könne schneller als sonst dazu führen, daß Fahrgäste den Halt verlieren. Das häufige Betreten durch viele Menschen mache den Boden auch schneller wieder glatt, weil das Streugut verstreut oder vertreten wird. Derjenige, der eine Gefahr schafft oder nur vergrößert, sei seinerseits zur Beseitigung dieser Gefahr verpflichtet. Diese Reinigungspflicht beseitige nicht jene des Anliegers, sondern trete zu dieser Pflicht hinzu. Bei der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht, zu der auch die Streupflicht gehört, gelte der Grundsatz, daß der Verkehrssicherungspflichtige nicht dadurch von seiner Pflicht befreit werde, daß ein anderer die Gefahr verursacht und deshalb seinerseits zur Beseitigung der Gefahr verpflichtet ist. Es seien dann mehrere Verpflichtete nebeneinander vorhanden, damit nicht der eine sich auf den anderen verläßt, weil dann oftmals keiner rechtzeitig tätig wird. Es bestehe somit eine Verletzung der Streupflicht der Versicherungsnehmerin der klagenden Partei neben der Verletzung der vertragsmäßigen Nebenverbindlichkeiten der beklagten Partei aus dem Beförderungsvertrag. Die Bestimmung des § 93 Abs 5 StVO regle ausdrücklich, daß durch die im § 93 StVO normierten Anrainerpflichten andere Rechtsvorschriften nicht berührt werden. Sowohl der J***** AG als auch der beklagten Partei sei eine Fahrlässigkeit bei Erfüllung der Streupflicht im Bereich der Sturzstelle der Erika S***** anzulasten. Es sei davon auszugehen, daß sowohl eine ordnungsgemäße Streuung durch die J***** AG als auch durch die beklagte Partei unfallsverhindernd gewesen wäre, weshalb der begehrte Ersatz von 50 % gerechtfertigt sei. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zur konkurrenzierenden Streupflicht der vorliegenden Sachverhaltskonstruktion keine oberstgerichtliche Judikatur vorliege.

Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Anfechtungsgrund des § 503 Z 4 ZPO mit dem Antrag, das angefochtene Urteil abzuändern und das Klagebegehren abzuweisen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die klagende Partei beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die beklagte Partei stellt sich auf den Standpunkt, daß für sie als Betreiberin von Verkehrsmitteln keine gesetzliche Streu- oder Erhaltungspflicht bestehe. Werde eine solche aus dem Beförderungsvertrag bejaht, müsse zumindest die Zumutbarkeit der Vesicherungsmaßnahmen im konkreten Fall überprüft werden. Dazu war zu erwägen:

Die grundsätzliche Verpflichtung der Firma J***** AG, den Gehsteig zu räumen, steht fest. Eine gesetzliche Verpflichtung der beklagten Partei als Betreiberin der Obuslinie, den Haltestellenbereich von Schnee und Eis zu säubern, besteht nicht (Benes-Messiner StVO8 Anm. 4 zu § 93). Mit dem Abschluß von Beförderungsverträgen entsteht aber für die beklagte Partei die vertragliche Verpflichtung, die Sicherheit von Fahrgästen zu gewährleisten (SZ 60/256; SZ 52/5; Koziol, Haftpflichtrecht2 II 57, 61; Reischauer in Rummel, ABGB, Rz 4 zu § 1294; Mertens im Münchner Kommentar2 Rz 183 zu § 823 BGB). In diese Verpflichtung sind nach dem Sinn dieses Grundsatzes auch schon jene Fahrgäste eingebunden, die erst in das Beförderungsmittel zusteigen, um sich dort eine Fahrkarte zu kaufen, weil das Einsteigen in das Beförderungsmittel bereits ein wesentliches Element der Personenbeförderung darstellt.

Zur Verkehrssicherheit gehört als selbstverständliche Verpflichtung, die Zugänge zu den Verkehrsmitteln in einem Zustand zu erhalten, der das gefahrlose Ein- und Aussteigen der Fahrgäste gewährleistet. Dies gilt auch für jene Teile einer Straße, von denen aus die Fahrgäste die Verkehrsmittel betreten bzw auf diese beim Aussteigen gelangen. Aus der die Verkehrsunternehmen treffenden Verkehrssicherheitspflicht resultiert somit auch die Aufgabe, bei Auftreten von Glatteis im Bereich von Haltestellen entsprechende Maßnahmen zur Beseitigung der daraus für die Fahrgäste erwachsenden Gefahren zu treffen. Diese Verpflichtung tritt nicht an die Stelle, sondern neben die Verpflichtung des Anliegers, den im Bereich der Haltestelle befindlichen Gehsteig bei winterlicher Glätte zu streuen. Dabei gilt der bei allgemeiner Verkehrssicherheit geltende Grundsatz, daß der Verkehrssicherungspflichtige nicht dadurch von seiner Pflicht befreit wird, daß ein anderer die Gefahr verursacht. Sind mehrere Verpflichtete nebeneinander verhalten, darf sich keiner auf die Einhaltung der Verpflichtung durch den anderen verlassen, weil dann oftmals keiner rechtzeitig tätig wird (vgl BGH 13.7.1967, DB 1967/36).

Die Verkehrssicherungspflicht findet allerdings ihre Grenze in der Zumutbarkeit entsprechender Maßnahmen (SZ 53/49; SZ 60/256 uza). Hätte daher die Firma J***** AG die sie (ebenfalls) treffende Verpflichtung, den Schnee und Glatteis auf dem den Zugang zu ihrer Filiale und die Einsteigefläche in den Obus bildenden Gehsteig zu räumen, bisher ständig und ausnahmslos allein wahrgenommen, hätte für die beklagte Partei kein Handlungsbedarf nach Vornahme eigener Streumaßnahmen bestanden. Eine solche Behauptung hat die beklagte Partei aber im Verfahren erster Instanz nicht aufgestellt. Sie hat sich vielmehr nur auf den Standpunkt gestellt, daß die Firma J***** AG allein verpflichtet sei, den Gehsteig zu streuen und damit zum Ausdruck gebracht, daß sie von vornherein keine Verantwortung für die Verkehrssicherheit im Bereich der Obushaltestelle zu übernehmen hatte. Unter diesen Umständen braucht auf die erst im Revisionsverfahren aufgeworfene Frage der Zumutbarkeit eigener Streumaßnahmen der beklagten Partei nicht eingegangen zu werden; nach den Verfahrensergebnissen und auf Grund des eigenen Vorbringens der beklagten Partei steht vielmehr fest, daß sowohl die Firma J***** AG als auch die beklagte Partei zum Unfallszeitpunkt jegliche Streuung unterließen, sodaß Erika S***** aus dem beiderseitigen Verschulden beider Streupflichtiger zum Sturz kam und sich verletzte. Dem Berufungsgericht ist daher zuzustimmen, daß sowohl die Firma J***** AG als auch die beklagte Partei gleichermaßen für den Unfall von Erika S***** verantwortlich sind, sodaß die vorgenommene Verschuldensteilung zu billigen und das angefochtene Urteil zu bestätigen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO.

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