OGH 4Ob538/92

OGH4Ob538/921.9.1992

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Prof. Dr.Friedl als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof. Dr.Gamerith, Dr.Kodek, Dr.Niederreiter und Dr.Schinko als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Beau James L*****, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses des ehelichen Vaters Jeffrey Lynn L*****, vertreten durch Dr.Erich Roppatsch, Rechtsanwalt in Spittal an der Drau, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Klagenfurt als Rekursgericht vom 29.Juni 1992, GZ 3 R 283/92-15, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Spittal an der Drau vom 25.Mai 1992, GZ P 68/92-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Der am 21.3.1990 geborene Minderjährige ist das eheliche Kind der österreichischen Staatsangehörigen Petra Patricia L***** und des amerikanischen Staatsangehörigen Jeffrey Lynn L*****. Zuletzt wohnte die Familie gemeinsam***** in Kalifornien. Die Ehe ist aufrecht. Am 3.10.1991 reiste die Mutter im Einverständnis mit ihrem Ehemann mit dem Kind nach Österreich, um ihre Eltern und Großeltern zu besuchen. Sie kehrte jedoch nicht, wie vereinbart, am 17.2.1992 nach Amerika zurück, sondern blieb mit dem Kind im Haus ihrer Großeltern in S*****, wo sich beide nach wie vor aufhalten.

Am 14.3.1992 stellte der Vater unter Berufung auf das Übereinkommen vom 25.10.1980 BGBl 1988/512 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung den Antrag auf Rückgabe des Kindes. Er habe das Recht der Obsorge und wünsche, dieses Recht auszuüben (S. 15).

Die Mutter sprach sich gegen diesen Antrag aus, weil die Rückgabe des Kindes mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden sei.

Der Erstrichter wies den Antrag des Vaters ab. Er stellte zusätzlich zu dem eingangs wiedergegebenen Sachverhalt noch fest:

Von Anfang an waren beide Elternteile berufstätig; der Vater kümmerte sich um das Kind nur wenig, Hauptbezugsperson war die Mutter. Sie nahm die verschiedenen bezahlten Babysitter auf, bei denen der Minderjährige untergebracht war, wenn die Eltern arbeiteten.

Seit der Geburt des Kindes unternahm die Mutter mehrmals mit Zustimmung des Vaters zusammen mit dem Kind mehrwöchige Besuche bei ihren Eltern und Großeltern in S*****. Seit sie an dem zuletzt vereinbarten Rückkehrtag, dem 17.2.1992, nicht mehr in die USA zurückgekehrt ist, hält sie sich mit ihrem Kind in S***** auf. Sie hat die Absicht mit dem Kind hier zu bleiben, weil sie ihre Ehe für zerrüttet hält. Sie wirft dem Ehemann seelische Grausamkeit gegen sie und das Kind sowie Desinteresse am Kind vor.

In der derzeitigen Umgebung ist das Wohl des Minderjährigen durch den Kontakt mit seiner Mutter innerhalb des Familienverbandes mit der Mutter und den Großeltern der Kindesmutter bestens gewährleistet, und zwar auch während der Zeit, in der die Mutter - halbtägig - beschäftigt ist.

Nach dem Verlassen der Ehewohnung durch die Mutter hat der Vater diese Wohnung anderweitig vermietet und selbst eine Wohnung in ***** M***** genommen.

Im Fall der Rückgabe des Kindes würde er dieses in ein Tagesheim geben, weil er sich nicht selbst um das Kind kümmern kann und seine Eltern in einem anderen Bundesstaat leben.

Das Kind ist seiner früheren Umgebung bereits völlig entwöhnt; ein abermaliger Milieuwechsel durch Rückkehr zum Vater, zu welchem das Kind niemals positive psychische Beziehungen hatte, würde eine ernsthafte Gefährdung des Kindes bedeuten.

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, daß die Ablehnungsgründe des Art 13 des Übereinkommens BGBl 1988/512 streng auszulegen seien. Dennoch dürfe keine willkürliche Regelung getroffen werden; vielmehr sei unter dem Aspekt des Kindeswohls die Situation sorgfältig abzuwägen und auszuleuchten. Hier sei das Kind nicht aus einer geordneten intakten familiären und sozialen Umgebung, an die es sich bereits im Rahmen einer positiven Entwicklung gewöhnt haben könnte, herausgerissen worden, so daß sich eine Rückführung in diese für das Kind negative Situation verbiete.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluß und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als das Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens und einer unbedenklichen Beweiswürdigung und stellte ergänzend fest, daß bei einer Rückgabe des Kindes an seinen Vater neurotische Störungen zu erwarten seien, deren Stärke und Verlauf mangels näherer Kenntnis der beim Vater herrschenden Verhältnisse nicht abgeschätzt werden könne. Ein baldiges Abklingen dieser neurotischen Störungen könne nur dann erwartet werden, wenn die ständige Betreuung des Kindes durch zwei stabile Bezugspersonen beim Vater gewährleistet sei. Da nach §§ 197 und 7004 des Kalifornischen Gesetzbuches das Recht der Obsorge für das Kind beiden Eltern gemeinsam zustehe, sei der Vater zu einem Rückgabeantrag auf Grund des Übereinkommens BGBl 1988/512 legitimiert. Daß auch der Mutter, die das Kind vereinbarungswidrig in Österreich zurückhalte, das Sorgerecht gemeinsam mit dem Vater zustehe, sei kein Hindernis für das Einschreiten der Gerichte im Sinne des genannten Übereinkommens. Die sofortige Rückführung des Kindes könne daher nur unter den Voraussetzungen der Art 12 Abs 2, Art 13 oder allenfalls 20 des Übereinkommens abgelehnt werden. Die Mutter habe sich nur auf den Tatbestand des Art 13 Abs 1 lit b des Übereinkommens gestützt. Dabei sei ihr der Nachweis der schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens des Kindes im Fall seiner Rückgabe gelungen, stehe doch fest, daß die Trennung des Kindes von seiner Mutter, das Herausreißen aus der nunmehr bereits gewohnten Umgebung und die Rückgabe an den Vater zu neurotischen Störungen des Kindes führen würde, mit deren baldigem Abklingen mangels geeigneter Bezugspersonen in den USA nicht gerechnet werden könne.

Gegen diesen Beschluß wendet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters wegen unrichtiger Tatsachenfeststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß seinem Antrag stattgegeben werde; hilfsweise wird beantragt, der Mutter aufzutragen, den Minderjährigen unverzüglich, spätestens jedoch binnen vier Wochen nach Rechtskraft, an den vormaligen Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes zurückzuführen oder zurückführen zu lassen.

Der außerordentliche Revisionsrekurs ist zulässig, weil eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zu einem vergleichbaren Sachverhalt fehlt; er ist aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Soweit der Vater die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanzen bekämpft, ist er darauf zu verweisen, daß der Oberste Gerichtshof auch im Außerstreitverfahren nur Rechts-, nicht aber auch Tatsacheninstanz ist (EFSlg 61.397 uva; Petrasch, Der Weg zum Obersten Gerichtshof nach der Erweiterten Wertgrenzennovelle 1989, ÖJZ 1989, 743 ff [753]). § 15 AußStrG idF der WGN 1989 - welcher die Revisionsrekursgründe erschöpfend aufzählt - sieht ebenso wie § 503 ZPO den Rechtsmittelgrund der unrichtigen Beweiswürdigung und unrichtigen Tatsachenfeststellungen nicht vor.

Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Verfahrens (§ 15 Z 2 AußStrG) liegt nicht vor (§ 16 Abs 3 AußStrG; § 510 Abs 3 ZPO).

Nach der Meinung des Vaters sei der Tatbestand des Art 13 Abs 1 lit b des Übereinkommens BGBl 1988/512 zu Unrecht bejaht worden. Sinn und Zweck des Übereinkommens sei die Wiederherstellung des früheren Zustandes, nicht aber eine Regelung über die Obsorge. Wenn die Mutter, wie sie selbst behaupte, eine so enge Bindung an das Kind habe, werde sie das Kind bei der Rückführung begleiten. Sollte sie sich weigern und so das Kind der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens aussetzen, dann läge die Annahme nahe, daß sie ihr eigenes Wohl über dasjenige ihres Kindes stelle. Ob für den Minderjährigen eine solche Gefahr besteht, hänge daher einzig und allein vom Verhalten der Mutter ab. Das genüge aber nicht, um eine Rückführung aus dem Grund des Art 13 Abs 1 lit b des Übereinkommens abzulehnen. Mittlerweile habe das zuständige amerikanische Gericht eine Entscheidung getroffen, mit der sichergestellt werde, daß nach der Rückgabe des Minderjährigen nach Kalifornien die Mutter die vorläufige alleinige gesetzliche und physische Sorge für das Kind erhalte, daß grundsätzlich keine Kontakte zwischen Vater und Kind stattfinden dürften, daß sich der Vater in einer bestimmten Entfernung von der Mutter und dem Kind und deren Aufenthaltsorten halten müsse, sowie daß er der Mutter und dem Kind einen angemessenen Aufenthaltsort in Kalifornien zur Verfügung zu stellen habe, einen angemessenen Unterhalt in noch festzusetzender Höhe zahlen müsse und auch die angemessenen Reisekosten für die Mutter und das Kind nach San Francisco zu zahlen habe.

Zu diesen Ausführungen war zu erwägen:

Nach Art 1 des mehrfach genannten Übereinkommens ist es dessen Ziel, ua die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen. Als widerrechtlich gilt gemäß Art 3 sowohl das Verbringen als auch das Zurückhalten eines Kindes, wenn a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das (ua) einer Person allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

Daß diese Voraussetzungen hier im Hinblick darauf vorliegen, daß nach kalifornischem Recht dem Vater gemeinsam mit der Mutter das Sorgerecht an dem Kinde zusteht, vorliegen, haben die Vorinstanzen mit Recht bejaht. Auch trifft es zu, daß die USA, in denen das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hatte (Art 4 des Übereinkommens), ein Vertragsstaat ist (EB 485 BlgNR 17. GP 30). Das Übereinkommen betrifft gerade auch den Fall, daß das Kind nach einem Auslandsaufenthalt, dem die das Sorgerecht (mit-)ausübende Person zugestimmt hatte, nicht mehr in seine bisherige Umwelt zurückgebracht wird (Erläuternder Bericht von Eliza Perez-Vera in EB aaO 37; JBl 1989, 389).

Richtig erkennt der Rechtsmittelwerber, daß es das erklärte Ziel des Übereinkommens ist, die internationale Zusammenarbeit bei Kindesentführungen zu verstärken, um das gestörte Sorgeverhältnis so rasch wie möglich wieder herzustellen (EB aaO 30). Es soll verhindert werden, daß jemand mehr oder weniger künstliche internationale Zuständigkeitsverbindungen schafft, um auf diesem Weg das anzuwendende Recht zu verfälschen und eine für ihn günstige gerichtliche Entscheidung zu erlangen (EB 37); aus diesem Grund hat demnach der Wunsch den Vorrang erhalten, die Wiederherstellung der durch den Entführer verfälschten Situation zu garantieren (EB 38). Bei der Schaffung des Übereinkommens war man sich aber auch bewußt, daß das Verbringen eines Kindes gelegentlich aus objektiven Gründen gerechtfertigt sein kann, die entweder seine Person oder seine nächste Umgebung berühren; das Übereinkommen läßt daher bestimmte Ausnahmen von der allgemeinen Verpflichtung der Staaten zu, die sofortige Rückgabe der widerrechtlich verbrachten oder zurückgehaltenen Kinder sicherzustellen (EB 39).

Eine der Ausnahmen ist in Art 13 Abs 1 lit b des Übereinkommens enthalten. Danach ist die zuständige Behörde - ungeachtet der grundsätzlichen Verpflichtung zur sofortigen Rückgabe des Kindes (Art 12 Abs 1 des Übereinkommens) - dann nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn (ua) die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, daß die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

Nach den - für den Obersten Gerichtshof bindenden - Feststellungen der Vorinstanzen wäre die Überstellung des Kindes aus der jetzigen Umgebung - der Obhut seiner Mutter, seiner Großmutter und der mütterlichen Urgroßeltern - zu seinem Vater mit der Gefahr neurotischer Störungen verbunden.

Soweit der Vater demgegenüber meint, daß ja der frühere Zustand wiederhergestellt werden müsse und bei einer Rückkehr des Kindes mit seiner Mutter keine Gefahren für das Kindeswohl bestünden, ist ihm zu erwidern, daß eine Wiederherstellung der Familienverhältnisse vor dem 3.10.1991 nach seinem eigenen Vorbringen nicht in Frage kommt. Schon im Rekurs hatte der Vater ausgeführt, daß sich nach der derzeitigen Aktenlage für das Kind nur die Möglichkeit biete, mit einem Elternteil dauernd zusammenzuleben; erfolge dieses Zusammenleben in den USA, so finde es in der Umgebung und in dem Personenkreis statt, in dem es seit seiner Geburt gelebt hat (S. 88 f). Damals meinte der Vater offenbar selbst - im Sinne seines Antrages -, daß das Kind ihm zurückgestellt werde. Daß dies aber für das Kind schädlich wäre, steht fest.

Eine Rückkehr der Mutter mit dem Kind in den Haushalt des Vaters ist nach den Feststellungen nicht möglich und wird auch nach den Ausführungen des Revisionsrekurses - insbesondere im Hinblick auf den dort mitgeteilten Beschluß des kalifornischen Gerichtes - vom Vater gar nicht mehr verlangt. Eine Herstellung des "status quo ante" kommt daher in diesem Fall nicht in Frage.

Ganz abgesehen davon aber, daß das Übereinkommen keine Rechtsgrundlage für einen Auftrag an die Mutter bildet , entgegen ihrer erklärten Absicht in die USA zurückzukehren (vgl 2 Ob 596/91), wäre auch eine solche Rückkehr nach der Aktenlage mit schwerwiegenden Gefahren für den Minderjährigen verbunden. Eine Rückkehr in die dem Kind vertraute Wohnung ist sowohl im Hinblick auf den Wohnungswechsel des Vaters als auch wegen der Anordnung des kalifornischen Gerichtes nicht möglich. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte muß angenommen werden, daß die Mutter in den USA neuerlich, um den Lebensunterhalt zu verdienen, einer Beschäftigung nachgehen und deshalb das Kind zeitweise von Fremden betreuen lassen müßte. Im übrigen ginge durch eine solche Übersiedlung auch der Kontakt des Minderjährigen zu den Großeltern und der Mutter seiner Mutter verloren (vgl Gutachten S. 67). All dies wäre aber nach den Feststellungen dem Kindeswohl sehr abträglich.

Bei dieser Sachlage haben die Vorinstanzen mit Recht die Rückgabe des Kindes abgelehnt.

Dem Revisionsrekurs mußte mithin ein Erfolg versagt bleiben.

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