OGH 10ObS36/92

OGH10ObS36/9216.6.1992

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Robert Letz (Arbeitgeber) und Alfred Klair (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Marlene F*****, vertreten durch Dr. Stephan Ruggenthaler, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ARBEITER (Landesstelle Wien), 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. Oktober 1991, GZ 32 Rs 5/91-30, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 10. Juli 1990, GZ 8 Cgs 70/89-24, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Berufung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 31. 3. 1989 lehnte die beklagte Partei den Antrag der am 21. 12. 1941 geborenen Klägerin auf Invaliditätspension vom 8. 2. 1989, ab, weil sie trotz des diagnostizierten körperlichen und geistigen Zustandes (therapieresistente Harninkontinenz, hochgradiges Übergewicht und neurasthenisch-depressives Zustandsbild mit Überlagerungstendenz) nicht invalid sei.

In der auf die abgelehnte Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab dem Stichtag gerichteten Klage behauptete die Klägerin, in den letzten 15 Jahren immer als Kindergartenhelferin tätig gewesen zu sein. Wegen Diabetes, Kreislaufbeschwerden, starker Migräne, Bandscheibenbeschwerden, eines Zustandes nach einer Blasenoperation (1988), Harnverlustes und einer 71 mm großen Zyste auf der Leber könne sie keiner geregelten Tätigkeit mehr nachgehen. Die Behauptungen über den körperlichen und geistigen Zustand wurden in den Anamnesen der schriftlichen Gutachten der ärztlichen Sachverständigen und in der Tagsatzung vom 30. 10. 1989 präzisiert.

Die beklagte Partei wendete ein, daß die in den letzten 15 Jahren als Hilfsarbeiterin, Küchengehilfin, Regalbetreuerin und Kindergartenhelferin tätig gewesene Klägerin noch alle leichten Tätigkeiten ausführen könne, die kein Heben und Tragen verlangen und daher zB noch als Sortiererin, Etikettiererin, Bürohilfskraft, Botengängerin, Billeteurin, Platzanweiserin und Garderobewartin erwerbstätig sein könne.

Das Erstgericht wies die Klage ab.

Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Die Klägerin hat keinen Beruf erlernt und war während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (1. 3. 1989) als Hilfsarbeiterin, Küchengehilfin, Regalbetreuerin und Kindergartenhelferin beschäftigt.

Mit dem seit der Antragstellung bestehenden, nicht wesentlich besserungsfähigen körperlichen und geistigen Zustand (normaler neurologisch-psychiatrischer Befund, depressiv-neurasthenisches Zustandsbild, behandelbare Migräneanfälle, Streßinkontinenz II mit Urgekomponente, kleinste, endoskopisch entfernbare Blasengeschwulst, Zuckerkrankheit, Herzjagen, Adipositas, Divertikel im Zwölffingerdarm, Leberzyste und folgenloser Zustand nach diversen Operationen) kann sie während der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Pausen leichte Arbeiten in jeder Körperhaltung verrichten, die keine Feinarbeiten sind und nicht in ständiger Nässe und Kälte zu leisten sind. Sie kann die Anmarschwege zurücklegen. Eine Umstellung kommt - auch auf verantwortliche Tätigkeiten - als Unterweisung und Anlernung, nicht jedoch als Umschulung in Frage.

Diese Arbeitsfähigkeit reicht zB für die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (ausreichend) vorhandenen Tätigkeiten als Wäschelegerin, -adjustiererin, Kontrollarbeiterin mit einfachen Arbeiten und Tischarbeiterin in graphischen Betrieben und in der Kleinleder- und Plastikwarenerzeugung aus.

Wegen dieser Verweisungsmöglichkeiten erachtete das Erstgericht die Klägerin nicht als invalid iS des § 255 (Abs 3) ASVG.

Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger Sachverhaltsfeststellung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung, inhaltlich aber auch wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens erhobenen Berufung der Klägerin nicht Folge.

Der behauptete Verfahrensmangel durch Unterlassung der Anleitung zu näherem Vorbringen über den Harndrang liege nicht vor.

Weder aus dem (schon im erstgerichtlichen Verfahren als Beilage B vorgelegten) Befund (der Urologischen Abteilung der Krankenanstalt Rudolfstiftung) vom 24. 10. 1989 noch aus dem (erst mit der Berufung vorgelegten) Befund dieser Abteilung vom 25. 1. 1990 ergebe sich ein häufiger und starker Harndrang, der die Klägerin nötige, alle 15 bis 30 Minuten die Toilette aufzusuchen. Der handschriftliche erstgenannte Befund führe aus, daß die Inkontinenz mit den derzeitigen Medikamenten voll therapierbar sei. Die Schriftzeichen im Wort "voll" seien nicht als "nicht" zu lesen, weil kein "i", sondern ein "o" und kein "t", sondern eindeutig zwei "ll" im Vergleich zu den übrigen Schriftzeichen erkennbar seien. Dem alle Beweisergebnisse verwertenden Gutachter sei daher kein offensichtlicher Fehler unterlaufen. Der Gutachter habe sich auch mit den vorgelegten Befunden befaßt und dargelegt, warum er nicht zu einer Streßinkontinenz vom Grade 2 bis 3, sondern nur zu einer solchen des Grades 2 gekommen sei. Mit den in zweiter Instanz vorgelegten Befunden könne das formell einwandfreie und gegen keine Denkgesetze verstoßende Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen nicht widerlegt werden. Das Berufungsgericht übernahm daher die erstgerichtlichen Feststellungen und legte sie seiner Entscheidung als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens und einer schlüssigen Beweiswürdigung zugrunde.

Soweit die Rechtsrüge die mangelnde Verweisbarkeit damit begründe, daß die Klägerin alle paar Minuten ihren Arbeitsplatz verlassen müsse, gehe sie nicht von den erstgerichtlchen Feststellungen aus. Die nach diesen allenfalls erforderlichen Kurzpausen bewirkten keinen Ausschluß vom Arbeitsmarkt. Es sei der Klägerin im Interesse der Versichertengemeinschaft durchaus zumutbar, sich tauglicher Behelfe zur Eindämmung der nachteiligen Folgen der Harninkontinenz zu bedienen.

Dagegen richtet sich die nicht beantwortete Revision der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist iS des Aufhebungsantrages berechtigt.

Die schon in der Berufung behauptete, vom Berufungsgericht jedoch verneinte Mangelhaftigkeit des erstgerichtlichen Verfahrens durch Unterlassung der Anleitung im Zusammenhang mit dem Harndrang darf nach stRsp des erkennenden Senates auch in einer Sozialrechtssache nicht neuerlich in der Revision geltend gemacht werden (SSV-NF 1/32, 3/115, 4/114 uva).

Rechtliche Beurteilung

Die Revision macht aber zu Recht geltend, daß dem Urteil des Berufungsgerichtes in einem wesentlichen Punkte eine tatsächliche Voraussetzung zugrunde gelegt erscheint, die mit den Prozeßakten erster und zweiter Instanz im Widerspruch steht (§ 503 Z 3 ZPO).

Das Berufungsgericht hat nämlich den schon in erster Instanz als Beilage B vorgelegten handschriftlichen Befund der Urologischen Abteilung der Krankenanstalt Rudolfstiftung vom 24. 10. 1989 irrtümlich so gelesen, als ob dort stünde: "Urge-Inkontinenz mit den dzt verfügbaren Medikamenten voll therapierbar". Bei genauer Prüfung dieser Urkunde ergibt sich jedoch, daß das vorletzte Wort des wiedergegebenen Satzes "nicht" heißt. Das ergibt sich insbesondere daraus, daß der erste Buchstabe dieses Wortes den selben Schriftzug aufweist wie der erste Buchstabe des drei Zeilen vorher stehenden Wortes "nötig", sich jedoch vom genau darüber stehenden ersten Buchstaben des Wortes "verfügbaren" wesentlich unterscheidet. Der zweite Buchstabe des strittigen Wortes weist keine Ähnlichkeit zu dem in diesem Befund wiederholt aufscheinenden Buchstaben "o" auf, sondern ist wegen seiner Ähnlichkeit mit dem in anderen Wörtern dieses Textes verwendeten Buchstaben "i" eindeutig als "i" zu lesen. Die beiden nächsten Buchstaben sind dem Schriftzug der im drei Zeilen darüber stehenden Wort "Woche" verwendeten Buchstabenfolge "ch" ähnlich. Der letzte Buchstabe weist einen ähnlichen Schriftzug auf wie insbesondere die Doppelkonsonanten "tt" im Wort "Plattenepithel", in dem der Buchstabe "l" zweimal ähnlich geschrieben ist wie die beiden "t". Auch in dem ua an den Vertreter der Revisionswerberin gerichteten, mit der Revision vorgelegten Schreiben vom 3. 12. 1991 teilte der Vorstand der Urologischen Abteilung der Krankenanstalt Rudolfstiftung, Primar UnivDoz Dr. Walter ST***** mit, daß das fragliche Wort "nicht" heißt.

Die dem Berufungsgericht unterlaufene Aktenwidrigkeit wirkte sich auf seine Würdigung des Gutachtens des Sachverständigen für Urologie aus. Dieser verwies nämlich in der mündlichen Ergänzung seines schriftlichen Gutachtens in der Tagsatzung vom 30. 10. 1989 aktenwidrig darauf, daß der von der Klägerin behauptete häufige Harndrang, wie auch im (bei dieser Tagsatzung als Beilage B vorgelegten) Arztbrief (der Urologischen Abteilung der Krankenanstalt Rudolfstiftung vom 24. 10. 1989) angeführt, medikamentös behandelbar sei.

Die unterlaufene Aktenwidrigkeit würde für sich allein nur die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Sozialrechtssache an das Berufungsgericht erforderlich machen.

Dem Revisionsgericht erscheinen aber auch erhebliche Tatsachen, nämlich die näheren Umstände und Auswirkungen der "Streßinkontinenz II mit Urgekomponente" auf die Arbeitsfähigkeit der Klägerin schon in erster Instanz weder vom Sachverständigen für Urologie noch vom Gericht ausreichend erörtert und auch nicht entsprechend festgestellt. In diesem Zusammenhang fehlen insbesondere Feststellungen über die Häufigkeit und Intensität der unwiderstehlichen willkürlichen oder sogar unwillkürlichen Blasenentleerungen, der Möglichkeiten, die Häufigkeit und Intensität solcher Blasenentleerungen zu verringern und vor allem unwillkürliche Harnverluste und deren Auswirkungen auf die Klägerin selbst, aber auch auf ihre Umgebung (zB Arbeitskollegen) durch Maßnahmen (zB Vorlagen) zu verhindern sowie über die Kosten derartiger Maßnahmen.

Erst nach ausreichender Erörterung und Feststellung dieser Umstände wird die Frage, ob die Klägerin seit dem Stichtag invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG ist, verläßlich beurteilt werden können. Wegen dieser Feststellungsmängel erweist sich auch die Rechtsrüge im Ergebnis als berechtigt.

Deshalb war der Revision Folge zu geben. Die Urteile der Vorinstanzen waren aufzuheben. Die Sozialrechtssache war zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (§§ 496, 499, 510, 511 und 513 ZPO).

Der Vorbehalt der Entscheidung über die Pflicht zum Ersatz der Kosten der Berufung und der Revision beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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