OGH 8Ob566/92 (8Ob567/92)

OGH8Ob566/92 (8Ob567/92)29.5.1992

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof.Dr.Griehsler als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Huber, Dr. Graf, Dr. Jelinek und Dr. Schinko als weitere Richter in der Pflegschaftssache des am 24. November 1986 geborenen mj. David S*****, infolge Revisionsrekurses 1) der Bezirkshauptmannschaft W*****, und 2) des Vaters Hermann S*****, vertreten durch Dr. Hermannfried Eiselsberg und Dr. Wilhelm Granner, Rechtsanwälte in Wels, gegen den Beschluß des Kreisgerichtes Wels als Rekursgericht vom 12. Februar 1992, GZ R 1141, 1142/91-29, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichtes Gmunden vom 17. Oktober 1991, GZ P 70/91-15, 16, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurden, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Beiden Revisionsrekursen wird Folge gegeben.

Der erstinstanzliche Beschluß ON 15 wird zur Gänze und der rekursgerichtliche Beschluß ON 29 wird in seinem Punkt 1 lit. a ersatzlos aufgehoben. In Abänderung des Punktes 1 b des rekursgerichtlichen Beschlusses wird der erstinstanzliche Beschluß ON 16 wieder hergestellt.

Text

Begründung

Der am 24. November 1986 uneheliche geborene, von seiner Mutter betreute mj. David S***** wurde am 8. Mai 1991 von seinem Vater mit der Begründung an dessen Wohnsitz verbracht, die Mutter habe sich nach Alkohol- und Tablettenkonsum völlig apathisch verhalten, sodaß er ihr die weitere Betreuung nicht habe überlassen können. Dieser Vorwurf wurde von der Mutter bestritten. In der Folge stellte jeder Elternteil den Antrag, das Recht der Obsorge für das Kind an ihn zu übertragen.

Mit Beschluß vom 21. Mai 1991 (ON 7) entzog das Pflegschaftsgericht der Mutter das Recht der Obsorge für den Minderjährigen und übertrug es dem Vater. Dieser Beschluß wurde vom Rekursgericht mit der Entscheidung vom 28. August 1991 (ON 10) aufgehoben und dem Pflegschaftsgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen. Am 10.Oktober 1991 forderte die Mutter vom Vater die "Rückgabe" des Minderjährigen. Der Vater beantragte am selben Tage beim Pflegschaftsgericht eine einstweilige Vorkehrung dahin zu erlassen, daß der Minderjährige vorläufig bei ihm bleiben dürfe. Er brachte vor, die Mutter habe ihre Wohnung verloren und befinde sich nun in einem Gasthaus in einer kleinen Garconniere; auch die Fürsorgerin sage, daß er das Kind auf alle Fälle behalten sollte.

Das Jugendamt der Bezirkshauptmannschaft G***** teilte am 11. Oktober 1991 dem Erstgerichte mit, daß nach seiner Ansicht das Wohl des Minderjährigen "auf Grund früher bekannt gewordener Umstände" im Falle der Belassung der Obsorge bei der Mutter gefährdet wäre. Der Mitteilung beigefügt war ein Aktenstück des Gendarmeriepostens A*****, wonach der nunmehrige "Liebhaber" der Mutter am 2. Juni 1991 mit dem in ihrer Wohnung anwesenden Vater eine wörtliche Auseinandersetzung gehabt und anschließend vor dem Haus geschrieen hat.

Am 14.Oktober 1991 traf die Bezirkshauptmannschaft W***** als örtlich zuständiger Jugendwohlfahrtsträger (§ 11 Abs 1 Oö JWG 1991, LGBl 1991/111) unter Berufung auf die gesetzliche Ermächtigung des § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB die Maßnahme, daß das Kind bis zum Abschluß des gerichtlichen Verfahrens über das Obsorgerecht in Pflege und Erziehung des Vaters zu verbleiben habe. Begründet wurde dies damit, es sei aus sozialarbeiterisch-fachlicher Sicht offenkundig, daß David beim Vater bleiben solle, bei dem er sich sehr wohl fühle und wo er eine gedeihliche Entwicklung nehme. Die Mutter habe einen vereinbarten Hausbesuch der zuständigen Sozialarbeiterin zur Überprüfung ihrer persönlichen Verhältnisse wieder abgesagt und sei also nicht in ausreichendem Maß zur Zusammenarbeit bereit. Würde sie ihr Kind wieder zu sich zurückholen, müßte dieses die beim Vater neu aufgebauten Beziehungen abbrechen, was seinem Wohl absolut entgegenstünde.

Diese Entscheidung des Jugendwohlfahrtsträgers wurde dem Pflegschaftsgericht unter Hinweis auf bereits vorliegende Berichte der zuständigen Sozialarbeiterin mit dem Antrag übermittelt, die getroffene Maßnahme gerichtlich zu genehmigen. Die Mutter habe ihre bisherige Wohnung verloren, ihre neuen Wohnverhältnisse hätten auf Grund ihrer Weigerung bisher nicht überprüft werden können.

Gleichzeitig mit der Entscheidung des Jugendwohlfahrtsträgers langte beim Pflegschaftsgericht ein Antrag der Mutter ein, das Kind gemäß § 19 AußStrG durch ein geeignetes Gerichtsorgan dem Vater zwangsweise abzunehmen und ihr zu übergeben.

Mit Beschluß ON 15 erteilte das Erstgericht der Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers die pflegschaftsbehördliche Genehmigung; den Antrag der Mutter auf Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen wies es mit Beschluß ON 16 ab.

Das Rekursgericht änderte mit Punkt 1 lit a seiner Entscheidung (ON 29) den erstgerichtlichen Beschluß ON 15 dahin ab, daß die vom Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 215 Abs 1 ABGB gesetzte Maßnahme nicht genehmigt werde; mit Punkt 1 lit b seiner Entscheidung hob es den Beschluß ON 16 auf und trug dem Pflegschaftsgericht insoweit die neuerliche Entscheidung nach Rechtskraft der zu Punkt 1 lit a getroffenen Entscheidung auf. Hinsichtlich des letztgenannten Punktes erklärte es den Revisionsrekurs für zulässig.

Das Rekursgericht verwies auf ein von ihm eingeholtes neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutchten, nach dessen Inhalt sich bei der Mutter kein Hinweis auf psychopathologische Abnormitäten ergebe und die festgestellten Persönlichkeitseigentümlichkeiten im Normbereich lägen. Rechtlich führte es aus, die Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers gemäß § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB habe Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung, die durch unverzüglichen, auf die "erforderlichen gerichtlichen Verfügungen" abzielenden Antrag zu erwirken sei. Was unter den "erforderlichen gerichtlichen Verfügungen" zu verstehen sei, könne der genannten Gesetzesstelle im einzelnen nicht entnommen werden. Es könne damit die endgültige gerichtliche Entscheidung über die Obsorge, die Erlassung einer gerichtlichen Provisorialanordnung oder die bloße pflegschaftsgerichtliche Genehmigung der Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers gemeint sein. Auch im Sinne der beiden letztgenannten Möglichkeiten getroffene Entscheidungen (eigene gerichtliche Provisorialmaßnahme oder gerichtliche Genehmigung der Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers) führten letztlich zum gleichen Ergebnis. Hier komme der pflegschaftsgerichtliche Genehmigungsbeschluß ON 15 der Erlassung einer gleichlautenden einstweiligen Verfügung gleich. Nach der vorliegenden Sachlage erscheine dem Rekursgericht anders als dem Erstgericht eine Rückführung des vom Vater einseitig an seinen Wohnsitz verbrachten Kindes zu der nach wie vor obsorgeberechtigten Mutter nicht mit einer Gefährdung des Kindeswohles verbunden und auch zweckmäßig, um eine weitere Entfremdung zwischen Mutter und Kind zu verhindern. Der rekursgerichtliche Ausspruch über die Zulässigkeit des Revisionsrekurses gemäß § 14 Abs 1 AußStrG gründe sich darauf, daß in der oberstgerichtlichen Entscheidung RZ 1992/7 eine mit der vom Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB gesetzten Maßnahme übereinstimmende vorläufige Maßnahme des Pflegschaftsgerichtes mit der Begründung als überflüssig erachtet worden sei, in einem solchen Fall habe das Gericht nach möglichst rascher Klärung aller Umstände die endgültige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers zu fällen. Eine Auslegung dieser oberstgerichtlichen Entscheidung in dem Sinne, daß nicht eine gerichtliche Genehmigung, sondern sogleich die Verfahrensmaßnahmen zur Fällung der Endentscheidung zu setzen seien, bedeute eine Unbekämpfbarkeit der provisorischen Maßnahme der Verwaltungsbehörde und sei daher wohl nicht zu erwägen.

Gegen Punkt 1 der rekursgerichtlichen Entscheidung wendet sich der Rekurs des Jugendwohlfahrtsträgers mit dem Antrage auf Abänderung im Sinne der Wiederherstellung der pflegschaftsbehördlichen Beschlüsse ON 15 und 16. Gegen Punkt 1 lit a des rekursgerichtlichen Beschlusses richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit dem Begehren auf Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses ON 15.

Die Revisionsrekurse sind zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB kann der Jugendwohlfahrtsträger bei

Gefahr im Verzuge die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und

Erziehung als Sachwalter vorläufig mit Wirksamkeit bis zur

gerichtlichen Entscheidung selbst treffen, wenn er unverzüglich,

jedenfalls aber innerhalb von acht Tagen, die erforderlichen

gerichtlichen Verfügungen beantragt. Zu dieser Gesetzesstelle

führen die EB zur RV (172 Blg 17. GP 23) u.a. aus: "Auch bei Gefahr

im Verzuge dürfen vom Jugendwohlfahrtsträger Maßnahmen jedoch nur

auf dem Gebiete der Pflege und Erziehung ...... selbst getroffen

werden. Gegen diese - im Bereiche des Zivilrechtes als

Sachwalter - gesetzten Maßnahmen kann nun das Pflegschaftsgericht

angerufen werden ......"

Die am Gesetzeszweck orientierte Auslegung der vorstehenden Gesetzesstelle führt dazu, daß einerseits eine vom Jugendwohlfahrtsträger bei Gefahr im Verzuge gesetzte Maßnahme durch gerichtliche Verfügung zwar abgeändert, andererseits aber im Sinne der vom Rekursgericht zitierten Entscheidung

1 Ob 550/91 = RZ 1992/7 ohne weiteres bis zur Endentscheidung des Gerichtes über die Zuteilung der Obsorgerechte als vorläufige Maßnahme aufrecht bleibt, wenn das Pflegschaftsgericht diese Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers ohnehin für gerechtfertigt hält.

Das Gericht kann bis zur endgültigen Entscheidung nach § 176 ABGB zwar vorläufige dringende Maßnahmen treffen, liegt aber keine Gefahr der Verbringung des Kindes ins Ausland vor, wodurch unabänderlich eine nachteilige Erziehungssituation geschaffen werden könnte, ist Voraussetzung für eine vorläufige gerichtliche Maßnahme, daß Sofortmaßnahmen in Form einer Änderung des bestehenden Zustandes dringend geboten erscheinen (1 Ob 550/91; SZ 59/160 u.a.). Diese Voraussetzung für eine gerichtliche Provisorialmaßnahme ist aber dann grundsätzlich nicht mehr gegeben, wenn der Jugendwohlfahrtsträger in Wahrnehmung seiner Interimskompetenz nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB wegen Gefahr in Verzug ohnehin bereits die erforderlichen Maßnahmen vorläufig wirksam getroffen hat. In diesem Falle hat das Pflegschaftsgericht seine Erhebungen möglichst rasch und ohne Verzögerung durchzuführen und nach ausreichender Klärung aller maßgebenden Umstände die endgültige Entscheidung zu treffen (1 Ob 550/91; SZ 59/160).

Im vorliegenden Falle hat das Pflegschaftsgericht die vom Jugendwohlfahrtsträger gesetzte Maßnahme als gerechtfertigt angesehen. Eine gleichlautende gerichtliche Provisorialmaßnahme auch nur in Form eines Genehmigungsbeschlusses war im Sinne der vorstehenden Ausführungen daher überflüssig. Für diese Auslegung des § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB sprechen auch die EB (siehe oben), wonach gegen die vom Jugendwohlfahrtsträger gesetzten Maßnahmen das Pflegschaftsgericht angerufen werden kann, woraus zu schließen ist, daß diese Maßnahmen also zumindest ohne solche Anrufung keines vorläufigen gerichtlichen Zustimmungsbeschlusses bedürfen. Durch einen solchen überflüssigen Beschluß würde insbesondere im Rechtsmittelwege die dringende Verfahrensdurchführung und Fällung der Endentscheidung in unvertretbarer Weise verzögert.

Demgemäß wäre wie im Falle der Entscheidung 1 Ob 550/91 hier auf Grund des Rekurses der Mutter der erstgerichtliche Genehmigungsbeschluß ON 15 vom Rekursgericht ersatzlos aufzuheben und der erstgerichtliche Beschluß ON 16 zu bestätigen gewesen. In diesem Sinne war daher den vorliegenden Revisionsrekursen Folge zu geben und über die vorinstanzlichen Beschlüsse wie aus dem Spruche ersichtlich zu entscheiden. Das Pflegschaftsgericht wird den Sachverhalt ehest zu klären und über die Zuteilung des Rechtes der Obsorge für den Minderjährigen raschestmöglich endgültig zu beschließen haben.

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