OGH 2Ob537/92

OGH2Ob537/9229.4.1992

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Melber, Dr. Kropfitsch, Dr. Zehetner und Dr. Schinko als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Thomas P*****, geboren am 9. Juli 1981, ***** infolge Revisionsrekurses des Adoptivvaters Peter P*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Muchitsch, Rechtsanwalt in Graz, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 6. März 1992, GZ 2 R 47/92-19, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes für Zivilrechtssachen Graz vom 14. November 1991, GZ 13 P 109/91-11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Der am 9.7.1981 geborene mj. Thomas P***** wurde mit Adoptionsvertrag vom 6.4.1982 durch die Ehegatten Peter und Sieglinde P***** an Kindesstatt angenommen; das Wahlkind befand sich bereits seit 17.7.1981 bei den Wahleltern in Adoptionspflege. Der Adoptionsvertrag wurde mit rechtskräftigem Beschluß des Erstgerichtes vom 3.5.1982 bewilligt. Zum Zeitpunkt der Adoption waren der Wahlvater deutscher, die Wahlmutter und das Wahlkind österreichische Staatsbürger.

Am 15.8.1991 verließ Sieglinde P***** mit dem Minderjährigen den ehelichen Haushalt in E***** in der Bundesrepublik Deutschland. Sie lebt nunmehr mit dem mj. Thomas in G*****, dieser besucht seit Beginn des Schuljahres 1991/1992 die dritte Klasse einer Volksschule.

Gestützt auf die Artikel 3 und 12 des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung beantragte der Adoptivvater die Herausgabe des Kindes an ihn.

Die Adoptivmutter sprach sich gegen diesen Antrag mit der Begründung aus, eine Rückgabe des Minderjährigen an den Vater würde dem Wohl des Kindes widersprechen.

Das Erstgericht wies den Antrag des Adoptivvaters ab. Über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt traf es noch folgende wesentliche Feststellungen:

Nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten hat sich der minderjährige Thomas sehr gut in den Schulalltag eingefügt. Er erklärte bei der gerichtlichen Anhörung, daß er bei der Mutter bleiben wolle und weigerte sich, zu seinem Vater zurückzukehren. Er hat Freunde gefunden und ist gerne in Österreich, wo auch seine Tante und Großmutter sind.

Das Erstgericht führte aus, der Minderjährige habe bei der in Abwesenheit der Mutter erfolgten Befragung einen freundlichen, intelligenten und offenen Eindruck erweckt, er sei durchaus in der Lage, seinen Willen zu erklären und seinen Wunsch selbst zu formulieren und zu vertreten.

Das in erster Instanz angehörte zuständige Jugendamt des Magistrates G***** sprach sich für einen Weiterverbleib des Minderjährigen in Österreich aus.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Ansicht, das gemeinsame Sorgerecht der Eltern sei durch den Wegzug der Mutter mit dem Kind verletzt worden. Gemäß Artikel 13 des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte der internationalen Kindesentführung bestehe aber keine Verpflichtung zur Anordnung der Rückgabe des Kindes, wenn sich dieses der Rückgabe widersetze und es ein Alter und eine Reife erreicht habe, angesichts deren es angebracht scheine, seine Meinung zu berücksichtigen.

Im vorliegenden Fall habe sich der Minderjährige geweigert, zu seinem Vater zurückzukehren. Im Hinblick auf sein Alter und seinen Entwicklungsstand werde davon ausgegangen, daß er reif sei, seine Entscheidung hinsichtlich des Aufenthaltsortes allein für sich zu treffen. Bei Berücksichtigung seiner Meinung sei der Antrag des Adoptivvaters abzuweisen.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nach § 14 Abs.1 AußStrG zulässig sei.

Das Rekursgericht führte aus, daß der Minderjährige offensichtlich durch die Auseinandersetzungen zwischen seinen Eltern belastet werde, er habe sich emotionell aber auf die Seite der Mutter geschlagen. Aus seinen Äußerungen gehe eindeutig hervor, daß er nicht mehr zu seinem Vater und dessen Freundin zurückkehren wolle, er wolle lieber bei der Mutter bleiben.

In rechtlicher Hinsicht bejahte das Rekursgericht das Vorliegen einer wirksamen Annahme an Kindesstatt. Gemäß § 113 b Abs.1 Z 1 JN sei die inländische Gerichtsbarkeit in Adoptionssachen gegeben, da zum Zeitpunkt der Adoption sowohl Wahlmutter als auch Wahlkind österreichische Staatsbürger waren. Gemäß § 26 IPRG sei für die Frage des Zustandekommens der Annahme des Wahlkindes durch die Mutter österreichisches Recht, hinsichtlich des Vaters deutsches Recht maßgebend; da beide Wahleltern ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hatten und dieser vom Antragsteller beibehalten wurde, bestimmten sich die Wirkungen der Adoption ebenfalls nach deutschem Recht (§§ 26 Abs.2, 18 Abs.1 Z 2 IPRG).

Durch die auch nach deutschem Recht wirksam zustande gekommene Annahme an Kindesstatt habe das Kind die rechtliche Stellung eines gemeinschaftlichen ehelichen Kindes der Ehegatten erlangt (§ 1754 Abs. 1 BGB).

Wohl solle durch das Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung der status quo durch sofortige Rückgabe widerrechtlich verbrachter mj. Kinder wieder hergestellt werden, doch komme dem Wohl des Kindes vorrangige Bedeutung zu. Eine rigorose Handhabung des Übereinkommens im Sinne der Wiederherstellung des status quo scheine nur dann gerechtfertigt, wenn ein Elternteil entgegen der rechtskräftigen Zuteilung des Sorgerechtes an den anderen Elternteil das Kind verbringe.

Im vorliegenden Fall habe sich das Kind der Rückgabe widersetzt und habe auch ein Alter und eine Reife erreicht, angesichts deren es angebracht erscheine, seine Meinung zu berücksichtigen, sodaß die Ablehnung der Anordnung auf Rückgabe des Kindes berechtigt sei.

Der ordentliche Revisionsrekurs wurde mit der Begründung zugelassen, daß die Auslegung des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung darstelle.

Gegen diesen Beschluß richtet sich der Revisionsrekurs des Adoptivvaters mit dem Antrag, die angefochtenen Beschlüsse dahin abzuändern, daß seinem Antrag auf Herausgabe des Minderjährigen und Übergabe in seine ausschließliche Pflege und Erziehung Folge gegeben werde.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, aber nicht berechtigt. Im Revisionsrekurs wird die Ansicht vertreten, unzweifelhaft sei die Verbringung des Minderjährigen als widerrechtlich im Sinne des Artikels 3 des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung zu qualifizieren. In Anbetracht des Alters des Minderjährigen und der daraus jedenfalls evidenten leichten Beeinflußbarkeit des Kindes, das bereits einige Zeit hindurch von seinem Vater getrennt bei der Mutter lebe, sei die nötige Reife für eine derart schwerwiegende Entscheidung keinesfalls gegeben. Selbstverständlich sei auch das Wohl des Kindes zu berücksichtigen, doch sei dieses nicht gefährdet, wenn es bei seinem Vater in Deutschland aufwachse. Das erkennende Gericht sei nicht befugt gewesen, eine allfällige spätere Entscheidung darüber, wem die alleinige Obsorge zukomme, vorwegzunehmen.

Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden.

Gemäß Artikel 1 des Übereinkommens vom 25.10.1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (BGBl. 1988/512), zu dessen Vertragsstaaten neben Österreich auch die Bundesrepublik Deutschland gehört (BGBl. 721/1990), ist es dessen Ziel, die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen und zu gewährleisten, daß das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht auf persönlichen Verkehr in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird. Ob das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes im Sinne dieses Übereinkommens als widerrechtlich anzusehen ist, bestimmt sich nach dessen Artikel 3. Danach gilt ein solches Verhalten dann als widerrechtlich, wenn a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte (Abs. 1). Das unter Buchstabe a genannte Recht kann insbesondere kraft Gesetzes, auf Grund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder auf Grund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen (Abs. 2). Ist ein Kind im Sinne des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an (Art. 12 Abs. 1). Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann aber die Rückgabe des Kindes ablehnen, wenn festgestellt wird, daß sich das Kind der Rückgabe widersetzt und daß es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen (Art. 13 Abs. 2).

Im vorliegenden Fall ist, wie das Rekursgericht zutreffend ausgeführt hat, vom Vorliegen einer gültigen Annahme an Kindesstatt auszugehen. Gemäß § 26 Abs. 2 IPRG richten sich deren Wirkungen bei Annahme durch Ehegatten nach dem für die persönlichen Rechtswirkungen der Ehe maßgebenden Recht. Dieses ist im vorliegenden Fall das Recht der Bundesrepublik Deutschland, da die Ehegatten in diesem Staate ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatten und einer von ihnen ihn beibehalten hat (§ 18 Abs. 1 Z 2 IPRG).

Gemäß § 1754 BGB erlangt das Kind im Falle der Annahme an Kindesstatt durch ein Ehepaar die rechtliche Stellung eines gemeinschaftlichen ehelichen Kindes der Ehegatten. Das bedeutet, daß zur Ausübung des elterlichen Sorgerechtes Vater und Mutter gleichermaßen berechtigt und verpflichtet sind (§§ 1626, 1627 BGB). Können sich die Eltern in wichtigen Angelegenheiten nicht einigen, kann das Vormundschaftsgericht angerufen werden (§ 1628 BGB).

Vom Standpunkt des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ist das Verbringen eines Kindes durch einen der gemeinsamen Sorgeberechtigten ohne Genehmigung des anderen jedenfalls widerrechtlich. Diese spezifische staatsvertragliche Widerrechtlichkeit ist zwar möglicherweise nicht das Ergebnis einer gesetzwidrigen Handlung, sondern des Umstandes, daß dieses Verhalten die durch das Gesetz ebenfalls geschützten Rechte des anderen Elternteils mißachtet und ihre normale Ausübung unterbricht. Ziel des Übereinkommens ist es nicht, einer Sorgerechtsentscheidung vorzugreifen, sondern als eine schnelle und in gewissem Umfang vorläufige Maßnahme zunächst einmal die sofortige Rückgabe des Kindes in die Umwelt zu erreichen, aus der es gerissen wurde und das in einem der Vertragsstaaten bestehende Sorgerecht tatsächlich zu beachten (JBl. 1991, 389). Dies bedeutet also im vorliegenden Fall, daß die Verbringung des Minderjährigen durch die Mutter widerrechtlich im Sinne des Artikels 3 des Übereinkommens ist.

Grundsätzlich hat daher gemäß Artikel 12 des Übereinkommens die Anordnung der sofortigen Rückgabe des Kindes zu erfolgen. Dies kann vom angerufenen Gericht unter anderem dann abgelehnt werden, wenn sich das Kind der Rückgabe widersetzt und es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen. Nach dem Erläuternden Bericht von Eliza Perez-Vera, die von der von der Haager Konferenz eingesetzten Kommission zu deren Berichterstatterin bestellt worden war (vgl. 485 BlgNR 17.GP 35 ff), sollte auf diese Weise den Kindern die Möglichkeit gegeben werden, ihre eigenen Interessen zu vertreten. Die Bemühungen, zu einer Einigung über ein Mindestalter, von dem an die Absicht des Kindes berücksichtigt werden könnten, zu gelangen, schlugen fehl, "da alle Zahlen einen künstlichen, wenn nicht gar willkürlichen Charakter haben; es erschien besser, die Anwendung dieser Bestimmung dem Ermessen der zuständigen Behörden zu überlassen".

Im vorliegenden Falle hat sich der Minderjährige der Rückgabe widersetzt und die Meinung geäußert, lieber bei der Mutter bleiben zu wollen. Zum Zeitpunkte seiner Vernehmung hatte er bereits das 10.Lebensjahr vollendet, so daß ihm nicht schon allein auf Grund des Alters die nötige Reife abgesprochen werden kann. Nach den vom Obersten Gerichtshof nicht mehr überprüfbaren Tatsachenfeststellungen verfügte er auch über die nötige Reife, um seine eigenen Interessen in dieser Frage zu vertreten. Es war daher im Sinne des Artikels 13 Abs. 2 des Übereinkommens die Meinung des Minderjährigen zu berücksichtigen und dem Revisionsrekurs des Vaters ein Erfolg zu versagen.

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