OGH 2Ob16/92

OGH2Ob16/9225.3.1992

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Melber, Dr. Kropfitsch, Dr. Zehetner und Dr. Schinko als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Firma Karl F*****, vertreten durch Dr. Erwin Bajc und Dr. Peter Zach, Rechtsanwälte in Bruck/Mur, wider die beklagten Parteien

1. Gebhard H*****, 2. Firma V*****, und 3. ***** Versicherungs-AG, ***** alle vertreten durch Dr. Robert Plaß, Rechtsanwalt in Leoben, wegen S 311.912 s.A. (Revisionsinteresse S 72.886,75) infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 23.Oktober 1991, GZ 2 R 125/91-41, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Kreisgerichtes Leoben vom 15.März 1991, GZ 4 Cg 290/89-31, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Das Urteil des Berufungsgerichtes wird dahin abgeändert, daß das Urteil des Erstgerichtes wieder hergestellt wird.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit S 28.234,42 bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin enthalten S 5.000 Barauslagen und S 3.871,92 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 22.11.1988 ereignete sich im Gemeindegebiet von M***** auf der in Bau befindlichen, für den allgemeinen Verkehr noch nicht freigegebenen Semmering-Schnellstraße ein Verkehrsunfall, an welchem ein von Ernst F***** gelenkter LKW der Klägerin und ein vom Erstbeklagten gelenkter, von der Zweitbeklagten gehaltener, bei der Drittbeklagten haftpflichtversicherter LKW beteiligt waren. Heute ist die in Ost-West-Richtung verlaufende Semmering-Schnellstraße durch einen Grünstreifen und Leitschienen in zwei Richtungsfahrbahnen geteilt. Zur Zeit des Unfalles waren noch keine Leitschienen vorhanden, es waren aber bereits beide Richtungsfahrbahnen asphaltiert. Es herrschte Dämmerung, die Fahrbahn war schneeglatt. Die beiden am Unfall beteiligten Fahrzeuge fuhren von Westen nach Osten auf der nördlichen (also der linken) Richtungsfahrbahn. Im Bereich der Unfallstelle wechselten die Lenker von Baustellenfahrzeugen, die in Richtung Osten weiterfahren wollten, auf die südliche Fahrbahnhälfte, von der nördlichen Fahrbahnhälte war in Richtung Osten nur die Abfahrt über die heutige Auffahrt M***** möglich. Auch Ernst F***** wollte auf die südliche Fahrbahnhälfte wechseln, um dort weiter in Richtung Osten zu fahren. Der Erstbeklagte hatte hingegen die Absicht, auf dem südlichen Fahrstreifen in Richtung Westen zurückzufahren. Der Erstbeklagte lenkte den LKW mit einer Geschwindigkeit von 20 bis 30 km/h nahe beim Mittelstreifen. Etwa 200 m vor der späteren Unfallstelle blickte er in den Rückspiegel und sah den von Ernst F***** gelenkten LKW, der sich in einem Tiefenabstand von etwa 200 bis 300 m hinter ihm befand und ebenfalls nahe dem Mittelstreifen fuhr. Etwa 43 m bzw 8,3 Sekunden bevor er dann nach rechts lenkte, verringerte der Erstbeklagte seine Fahrgeschwindigkeit auf 5 bis 10 km/h und verlegte die Fahrlinie soweit nach links, daß zwischen der rechten Flanke des LKW und dem Mittelstreifen ein Abstand von 8,5 m bestand. Der Kläger hielt eine Geschwindigkeit von 30 bis 35 km/h ein. Er nahm an, der Erstbeklagte werde entweder am nördlichen Fahrbahnrand anhalten oder bis zur Abfahrt M***** weiterfahren. Als sich der vom Kläger gelenkte LKW nur mehr 20 m hinter dem LKW der Zweitbeklagten befand und gegenüber diesem um mindestens 5 m nach rechts versetzt war, begann der Erstbeklagte, ohne vorher in den Rückspiegel geblickt zu haben und ohne den Blinker zu betätigen, mit dem Rechtsabbiegemanöver. Ernst F***** faßte nach einer Sekunde den Bremsentschluß, konnte seine Geschwindigkeit aber nur mehr auf 20 km/h verringern. Der von ihm gelenkte LKW stieß mit der linken Frontecke gegen die rechte Flanke des anderen LKW, der eine Schrägstellung von 70 bis 80 Grad zur Fahrbahnlängsachse erreicht hatte.

Die Klägerin begehrte, gestützt auf das Alleinverschulden des Erstbeklagten, den Ersatz eines Schadens von S 311.912 s.A.

Die Beklagten wendeten ein, den Lenker des Fahrzeuges der Klägerin treffe das Alleinverschulden am Unfall, weil er mit überhöhter Geschwindigkeit und ohne Abgabe eines Warnzeichens versucht habe, rechts zu überholen. Außerdem wendeten die Beklagten eine Gegenforderung von S 17.000 aufrechnungsweise ein.

Das Erstgericht sprach aus, daß die eingeklagte Forderung mit S 291.547 zu Recht, die Gegenforderung hingegen nicht zu Recht bestehe und erkannte die beklagten Parteien zur ungeteilten Hand schuldig, der Klägerin S 291.547 samt Zinsen und Kosten zu bezahlen. Das Mehrbegehren von S 20.365 samt Zinsen sowie ein Zinsenmehrbegehren wurden abgewiesen. Das Gericht erster Instanz vertrat die Ansicht, das Verschulden des Erstbeklagten bestehe darin, daß er vor dem beabsichtigten Abbiegemanöver den nachfolgenden Verkehr nicht beachtete und dieses Manöver aus einer Fahrlinie begann, bei der die rechte Flanke des von ihm gelenkten LKW 8,5 m vom Mittelstreifen entfernt war. Ernst F***** sei hingegen kein Fehlverhalten vorzuwerfen. Seine Fahrweise sei nicht nach den Bestimmungen für das Überholen oder Vorbeifahren zu beurteilen, da er beabsichtigt habe, auf die südliche Fahrbahnhälfte zu wechseln. Er sei lediglich verpflichtet gewesen, vom vor ihm fahrenden LKW einen solchen Abstand einzuhalten, daß ihm jederzeit das rechtzeitige Anhalten möglich gewesen wäre, auch wenn das vordere Fahrzeug plötzlich abgebremst worden wäre. Diesen Abstand, als der regelmäßig der Reaktionsweg angenommen werde, habe Ernst F***** auch noch zu Beginn des Abbiegemanövers des Erstbeklagten eingehalten.

Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil dahin ab, daß die Klagsforderung mit S 218.660,25 zu Recht und die Gegenforderung mit S 4.250 zu Recht bestehe und die Beklagten zur ungeteilten Hand schuldig sind, der Klägerin S 214.410,25 sA zu bezahlen. Das Mehrbegehren von S 97.501,57 samt Zinsen wurde abgewiesen. Das Gericht zweiter Instanz sprach aus, daß die Revision nach § 502 Abs. 1 ZPO nicht zulässig sei. Es vertrat die Ansicht, auch Ernst F***** treffe ein Mitverschulden am Zustandekommen des Unfalls. Dadurch, daß das Beklagtenfahrzeug, das ursprünglich eine Geschwindigkeit von 20 bis 30 km/h eingehalten habe, vor Annäherung an die Unfallstelle seine Geschwindigkeit auf 5 bis 10 km/h verringert habe - dies müsse dem Lenker des Klagsfahrzeuges, der sich annähernd mit gleicher Geschwindigkeit in dieselbe Richtung bewegt habe, aufgefallen sein -, sei für den Lenker des Klagsfahrzeuges eine unklare Verkehrssituation geschaffen worden, die er nicht entsprechend beachtet habe. Unklar sei die Situation auch dadurch geworden, daß die Fahrlinie des Beklagtenfahrzeuges - diese sei so wie die des Klagsfahrzeuges nahe beim Mittelstreifen gelegen - nach links verlagert worden sei und keine Fahrtrichtungsänderungsanzeige erfolgt sei. Dieser unklaren Situation hätte der Lenker des Klagsfahrzeuges durch Verminderung seiner Geschwindigkeit Rechnung tragen müssen. Das Vorbeibewegen seines Fahrzeuges hätte erst nach Abgabe eines Warnsignals erfolgen dürfen. Wie sich aus den Lichtbildern zeige, sei die Ausgestaltung der Verkehrsfläche im Unfallszeitpunkt derart gewesen, daß der Lenker des Klagsfahrzeuges nicht von vornherein habe damit rechnen können, der Lenker des Beklagtenfahrzeuges werde sein Fahrzeug nicht auch wie er sein Fahrzeug auf die südliche Fahrbahn lenken, um dort in Richtung Osten weiterzufahren. Entgegen den Ausführungen in der Berufungsbeantwortung wäre aufgrund der Geschwindigkeitsverminderung des Beklagtenfahrzeuges auf 5 bis 10 km/h das Klagsfahrzeug am Beklagtenfahrzeug rechts vorbeibewegt worden, hätte dieses seine Fahrlinie beibehalten. Das zeige aber, daß der Lenker des Klagsfahrzeuges einen Überholvorgang vorgehabt habe, der im gegebenen Fall unzulässig gewesen sei. Bei Abwägung der dem Erstbeklagten anzulastenden Verschuldenskomponenten und des Fehlverhaltens des Lenkers des Klagsfahrzeuges unter Berücksichtigung der besonderen Situation der Unfallstelle und des Baustellenverkehrs, erscheine eine Verschuldensteilung von 3 : 1 zugunsten des Lenkers des Klagsfahrzeuges dem Verschulden beider Lenker angemessen.

Die Klägerin bekämpft das Urteil des Berufungsgerichtes mit außerordentlicher Revision und beantragt die Wiederherstellung des Ersturteils.

Die Beklagten beantragen, die Revision nicht zuzulassen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und auch berechtigt.

Obwohl die Straße für den öffentlichen Verkehr noch nicht freigegeben worden war, ist die Straßenverkehrsordnung nach § 1 Abs 2 anzuwenden. Es entspricht zwar ständiger Rechtsprechung, daß jede unklare Verkehrslage grundsätzlich in bedenklichem Sinne auszulegen ist (ZVR 1984/215 uva) und der Vertrauensgrundsatz demjenigen nicht zugute kommt, der das unrichtige oder zumindest bedenkliche Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers rechtzeitig erkannte oder bei entsprechender Aufmerksamkeit rechtzeitig hätte erkennen können (ZVR 1982/3 uva). Das verkehrswidrige Verhalten des anderen muß allerdings deutlich erkennbar geworden sein (ZVR 1981/106 ua). Ein Kraftfahrer, der ein verkehrswidriges Verhalten eines anderen wahrgenommen hat, muß aber nicht damit rechnen, daß der andere weitere Verstöße gegen Verkehrsvorschriften begehen werde. Ein Zufahren zum linken Fahrbahnrand war im vorliegenden Fall, sofern dadurch andere Verkehrsteilnehmer nicht behindert oder gefährdet wurden, nicht verboten, der Erstbeklagte hätte jedoch den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigen müssen. Da er den Blinker nicht betätigte, mag es gerechtfertigt sein, zunächst von einer unklaren Verkehrssituation zu sprechen. Als der vom Erstbeklagten gelenkte LKW einen Seitenabstand von 8,5 m von der Mittellinie erreicht hatte und sich nahe am linken Fahrbahnrand befand (da nach der maßstabgetreuen Skizze die Gesamtbreite beider Richtungsfahrbahnen 23,7 m betragen hat, jede Richtungsfahrbahn somit etwas weniger als 12 m breit war, kann unter Berücksichtigung der Breite des LKW der Seitenabstand zum linken Fahrbahnrand nicht mehr groß gewesen sein), mußte die Situation Ernst F***** nicht mehr bedenklich erscheinen, er war nicht genötigt, seine Geschwindigkeit von 30 bis 35 km/h herabzusetzen. Damit, daß der Erstbeklagte vom linken Fahrbahnrand plötzlich nach rechts quer über die Fahrbahn lenken werde, mußte er nicht rechnen. Der Hinweis auf eine unklare Verkehrssituation kann es im vorliegenden Fall daher nicht rechtfertigen, ein Mitverschulden des Lenkers des LKW der Klägerin anzunehmen.

Aber auch der Vorwurf eines unzulässigen Rechtsüberholens ist nicht gerechtfertigt. Zu berücksichtigen ist hiebei, daß Ernst F***** auf die rechte Richtungsfahrbahn wechseln wollte, um in seiner bisherigen Fahrtrichtung weiterzufahren. Nach der Behauptung der Beklagten ereignete sich der Zusammenstoß bereits auf der südlichen Richtungsfahrbahn (in der Berufung, AS 189, rügte die Beklagte sogar, daß das Erstgericht dies nicht feststellte). Es ist daher davon auszugehen, daß sich ohne das unzulässige Fahrmanöver des Erstbeklagten der LKW der Klägerin auf der südlichen Richtungsfahrbahn an dem auf der nördlichen Richtungsfahrbahn befindlichen anderen LKW vorbeibewegt hätte. Dies kann aber nicht mehr als unzulässiges Rechtsüberholen angesehen werden.

Die Ansicht des Berufungsgerichtes, auch Ernst F***** treffe ein Verschulden, kann daher nicht geteilt werden, weshalb der Revision Folge zu geben und das Urteil des Erstgerichtes wieder herzustellen war.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

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