OGH 15Os152/91-9 (15Os153/91-9)

OGH15Os152/91-9 (15Os153/91-9)16.1.1992

Der Oberste Gerichtshof hat am 16.Jänner 1992 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof. Dr.Steininger als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Reisenleitner, Dr.Lachner, Dr.Kuch und Dr.Hager als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Westermayer als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Franz Johann W*****, wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 20 Vr 317/89 des Landesgerichtes Innsbruck, über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Beschlüsse des Landesgerichtes Innsbruck vom 18. Juli 1991 und vom 8.August 1991 sowie den Vorgang, daß Walter T***** in der Hauptverhandlung am 18.Juli 1991 zur Ablegung eines Zeugnisses verhalten wurde, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators Generalanwalt Dr.Raunig, des Vertreters des Beklagten, DDr.Jörg Horwath, jedoch in Abwesenheit des Beteiligten Walter T*****, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Im Strafverfahren AZ 20 Vr 317/89 des Landesgerichtes Innsbruck wurde das Gesetz verletzt

1. durch den Vorgang, daß Walter T***** in der Hauptverhandlung am 18.Juli 1991 zur Ablegung eines Zeugnisses verhalten wurde, in der Bestimmung des § 153 Abs 1 StPO und

2. durch den Beschluß vom 18.Juli 1991, mit welchem über Walter T***** eine Beugestrafe von 5.000 S verhängt wurde, sowie durch den Beschluß vom 8.August 1991, mit welchem über den Genannten eine Beugehaft in der Dauer von sechs Wochen verhängt wurde, jeweils in der Bestimmung des § 160 StPO.

Die zu 2. angeführten Beschlüsse werden aufgehoben.

Rechtliche Beurteilung

Gründe:

Beim Landesgericht Innsbruck ist zum AZ 20 Vr 317/89 ein Strafverfahren gegen Franz Johann W***** wegen §§ 75, 142 Abs 1, 143 zweiter Fall StGB anhängig. In der gegen den Genannten erhobenen Anklage wird ihm (unter anderem) angelastet, im Jänner 1989 in den USA Hubert S***** und Edgard P***** ermordet zu haben.

Weiters ist beim Landesgericht Innsbruck zum AZ 33 Vr 3306/90 ein - von der Strafsache gegen Franz Johann W***** gemäß § 57 StPO abgesondert geführtes - Strafverfahren gegen Walter T***** wegen §§ 12 dritter Fall, 75 StGB und anderer Delikte anhängig. Dem Genannten liegt in diesem Verfahren (unter anderem) zur Last, zur Ausführung der im Jänner 1989 in den USA an Hubert S***** und Edgard P***** verübten Mordtaten, die den Gegenstand der gegen Franz Johann W***** erhobenen Anklage bilden, als Beteiligter beigetragen zu haben. Gegen T***** wurde am 27.November 1991 (unter anderem) wegen dieses Tatbeitrags Anklage erhoben.

Im Strafverfahren gegen Franz Johann W***** sollte in der Hauptverhandlung am 18.Juli 1991 vor dem Geschworenengericht Walter T***** als Zeuge vernommen werden; nach Rechtsbelehrung im Sinn des § 153 Abs 1 StPO verweigerte jedoch T***** die Aussage, weil "wegen der gleichen Straftat ein Verfahren gegen ihn läuft". Das Gericht räumte dem Zeugen T***** zwar das Vorliegen von Zeugnisverweigerungsgründen gemäß § 153 Abs 1 StPO ein, hielt aber dessen Aussage wegen ihrer besonderen Bedeutung für unerläßlich. Hiebei orientierte es sich ausschließlich am Gewicht eines Schuld- oder Freispruchs im Strafverfahren gegen Franz Johann W*****; auf das Verweigerungsinteresse des Zeugen T***** ging es nicht ein. Da T***** (weiterhin) die Aussage verweigerte, verhängte das Gericht über ihn gemäß § 160 StPO eine Beugestrafe von 5.000 S. In der folgenden Hauptverhandlung am 8.August 1991 beharrte T***** auf seiner Weigerung, ein Zeugnis abzulegen, worauf über ihn eine Beugehaft in der Dauer von sechs Wochen verhängt wurde.

Nach Auffassung des Generalprokurators steht dieses Vorgehen des Schwurgerichtshofes mit dem Gesetz nicht im Einklang; in der deshalb gemäß § 33 Abs 2 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde wird hiezu ausgeführt:

"Nach der herrschenden Rechtsprechung hatte Walter T***** im Strafverfahren gegen Franz Johann W***** zwar die formale Stellung eines Zeugen, war aber zugleich in materieller Hinsicht der Beteiligung an den Mordtaten des W***** verdächtig. Angesichts dieser konfliktträchtigen Doppelstellung als Beschuldigter und Zeuge stand Walter T***** unbestrittenermaßen das von ihm auch in Anspruch genommene Recht zur Zeugnisverweigerung nach dem § 153 Abs 1 StPO zu; er durfte aber nach dieser Gesetzesstelle im Strafverfahren gegen Franz Johann W***** zur Zeugenaussage nur verhalten werden, soferne dies wegen der besonderen Bedeutung seiner Aussage unerläßlich war. Es soll aber in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, daß das Bundesministerium für Justiz im Jahre 1980 - übrigens wie später in der Literatur auch Bertel - den Standpunkt vertrat, daß Zeugen, die zugleich Beschuldigte in einem abgesonderten Strafverfahren sind, ein unbedingtes Schweigerecht haben und für sie daher auch keine Interessenabwägung iS des § 153 StPO vorzunehmen sei (siehe Pallin in ÖJZ 1991, 550). Der Oberste Gerichtshof hat aber erst jüngst für derartige Fälle ein unbedingtes Zeugnisverweigerungsrecht verneint, die Aussageverpflichtung aber - entsprechend dem Gebot des fair trail - von einer Abwägung der Interessen des Angeklagten an der Ablegung des Zeugnisses und der Interessen des Zeugen an deren Verweigerung abhängig gemacht, wobei aber

das - unwägbare - öffentliche Interesse an einer Verurteilung als Abwägungskomponente keine Rolle spielt (siehe EvBl 1991/131 und Pallin aaO sowie die Einleitung zum Artikel ÖJZ 1991, 545).

Im Rahmen der hier danach anzustellenden Interessenabwägung, die als Ermessensentscheidung insoweit einer rechtlichen Nachprüfung nach den §§ 33 Abs 2, 292 StPO unterliegt, als es - wie im vorliegenden Falle - um die Beurteilung der hiefür maßgeblichen Kriterien geht, hat der Schwurgerichtshof im Rahmen der Bewertung des Aufklärungsinteresses die Bedeutung der Zeugenaussage des Walter T***** zwar zunächst zutreffend am Gewicht eines Schuld- oder Freispruches des Franz Johann W***** wegen Mordes (§ 75 StGB) orientiert; er ließ aber das - bei der gegebenen Sachlage offenkundige - bedeutende Interesse des Walter T***** an der Verweigerung der Aussage völlig unberücksichtigt. Damit hat er aber die in einem solchen Fall gemäß dem § 153 Abs 1 StPO gebotene Interessenabwägung in Wahrheit gar nicht vorgenommen.

Die hier erforderliche Auseinandersetzung mit dem Verweigerungsinteresse des Zeugen T***** hätte aber gezeigt, daß dem Verteidigungsinteresse des (übrigens inzwischen freigesprochenen) Angeklagten Franz Johann W***** in dem Verfahren, in welchem Walter T***** die Zeugenaussage ablegen sollte, jedenfalls kein größeres Gewicht zuerkannt werden kann, als dem - gleichfalls von den Verteidigungsrechten des (materiell) tatverdächtigen Walter T***** nicht zu

trennende - Recht des Genannten auf Aussageverweigerung; wurde ihm doch ein strafbares Verhalten mit gleichem Gewicht und Unrechtsgehalt zum Vorwurf gemacht. Der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art 6 Abs 1 MRK) muß aber in gleicher Weise sowohl für den Angeklagten als auch für einen tatverdächtigen Zeugen (dem materiellrechtlich die Stellung eines Beschuldigten zukommt) gelten, weshalb sich im vorliegenden Fall die Verteidigungsrechte der beiden von vornherein als gleichwertig erweisen und daher keinem der Vorzug zu geben gewesen wäre. Angesichts der hier aktuellen Gefahr, daß eine wahrheitsgemäße Aussage des Walter T***** als Zeuge das Eingeständnis einer Beteiligung an einem Doppelmord und somit den Zwang zur Selbstbezichtigung wegen mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohten Straftaten bedeutet hätte, konnte aber die gemäß § 153 Abs 1 StPO gebotene Interessenabwägung nur zugunsten des Zeugen Walter T***** ausschlagen.

Die rechtsirrige Beurteilung durch den Schwurgerichtshof führte daher zu einer Fehlbeurteilung bei Verhängung der Beugestrafen nach dem § 160 StPO. Dem Gericht ist deshalb auch ein Verstoß gegen die Bestimmung des § 160 StPO unterlaufen".

Die Nichtigkeitsbeschwerde ist berechtigt; sowohl der Vorgang, wonach Walter T***** in der Hauptverhandlung am 18.Juli 1991 zur Ablegung eines Zeugnisses verhalten wurde, als auch die Verhängung einer Beugestrafe und der Beugehaft, um den Genannten zur Zeugenaussage anzuhalten, stehen mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Walter T***** hatte im Strafverfahren gegen Franz Johann W***** zwar formal die Stellung eines Zeugen, materiell ist er aber zugleich der Beteiligung an den in diesem Verfahren dem Angeklagten Franz Johann W***** angelasteten Mordtaten verdächtig. Im Hinblick darauf stand ihm, wie der Schwurgerichtshof an sich zutreffend erkannte, das von ihm in der Hauptverhandlung gegen W***** auch in Anspruch genommene Recht zur Zeugnisverweigerung gemäß § 153 Abs 1 StPO zu.

§ 153 Abs 1 StPO räumt indes dem Zeugen kein unbedingtes Zeugnisverweigerungsrecht ein; sind die Voraussetzungen für die Verweigerung eines Zeugnisses nach dieser Gesetzesstelle gegeben, so darf der Zeuge dennoch zum Zeugnis verhalten werden, wenn dies wegen der besonderen Bedeutung seiner Aussage unerläßlich ist (§ 153 Abs 1 aE StPO).

Der Wortlaut dieser Vorschrift spräche (für sich allein betrachtet) dafür, daß es bei der Prüfung, ob die Aussage des Zeugen wegen ihrer besonderen Bedeutung unerläßlich ist, allein auf das Interesse an der Aufklärung jener Straftaten ankomme, die Gegenstand jenes Verfahrens bildet, in welchem die Aussage abgelegt werden soll, mithin nur auf die Wichtigkeit der Aussage für den Gegenstand des betreffenden Verfahrens. Eine solche Auslegung der in Rede stehenden Bestimmung ist jedoch mit dem Gesetz nicht vereinbar.

Der Oberste Gerichtshof hat bereits in KH 4580 auf eine Interessenabwägung abgestellt und ausgesprochen, daß der Zeuge nur dann zur Aussage verhalten werden darf, wenn die Wichtigkeit des Gegenstandes seiner Vernehmung das ihm im Falle einer wahrheitsgemäßen Aussage drohende Übel überragt, sein Interesse sich daher dem Interesse an der Aufklärung des Verfahrensgegenstandes unterordnen muß. Schon damals wurde daher eine Abwägung der Interessen bei der Entscheidung, ob der Zeuge trotz seines Zeugnisverweigerungsrechts zur Aussage verhalten werden soll, postuliert. Das Gebot der Interessenabwägung hat der Oberste Gerichtshof auch in der Folge wiederholt betont (vgl etwa JBl 1990, 730), wobei er zuletzt in der in EvBl 1991/131 veröffentlichten Entscheidung vom 6.Juni 1991, 15 Os 43-45/91, klargestellt hat, daß die Aussageverpflichtung eines Zeugen, der gemäß § 153 Abs 1 StPO zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt ist, entsprechend dem Gebot des fair trail von einer Abwägung der Interessen des in jenem Verfahren, in welchem die Aussage abgelegt werden soll, Angeklagten und der Interessen des Zeugen an der Verweigerung der Aussage abhängig zu machen ist.

Ob ein zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigter Zeuge gemäß § 153 Abs 1 aE StPO dennoch zur Ablegung des Zeugnisses verhalten werden darf, ist demnach in jedem Fall an Hand einer Interessenabwägung im dargelegten Sinn zu beurteilen (vgl auch Foregger-Serini StPO4 Anm III zu § 153). Das erhellt auch aus § 290 Abs 3 StGB, indem unter dem Aspekt des Aussagenotstands darauf abgestellt wird, ob es dem zur Zeugnisverweigerung berechtigten Zeugen zuzumuten ist, wahrheitsgemäß auszusagen.

Es war demnach rechtsirrig, daß der Schwurgerichtshof bei Prüfung der Frage, ob Walter T***** trotz seines Zeugnisverweigerungsrechts dennoch zur Aussage verhalten werden soll, ausschließlich auf die Bedeutung seiner Aussage für den Gegenstand des Verfahrens, in welchem sie abzulegen wäre, abstellte, ohne die Interessen des Zeugen an der Verweigerung der Aussage abzuwägen.

Dem Aufklärungsinteresse im Verfahren gegen Franz Johann W*****, in welchem Walter T***** die Zeugenaussage ablegen sollte, stand vorliegend ein gleichgewichtiges Interesse des Walter T***** an der Verweigerung der Aussage, nämlich dessen Verteidigungsrecht in Ansehung des gegen ihn bestehenden Verdachts, an den dem Franz Johann W***** angelasteten Mordtaten beteiligt gewesen zu sein, gegenüber, das es dem Zeugen unzumutbar machte, wahrheitsgemäß auszusagen. Hätte doch eine wahrheitsgemäße Aussage des Walter T***** als Zeugen allenfalls das Eingeständnis einer Beteiligung an den Taten des W***** und damit einen dem Gebot eines fairen Verfahrens im Sinn des Art 6 Abs 1 MRK zuwiderlaufenden Zwang zur Selbstbezichtigung bedeutet. Bei einer solchen Fallkonstellation muß aber die gemäß § 153 Abs 1 StPO gebotene Interessenabwägung zugunsten des Zeugen ausschlagen, ohne daß diesbezüglich für ein Ermessen des Gerichtes im Rahmen seiner Entscheidung gemäß § 153 Abs 1 aE StPO Raum bleibt.

Demnach hat der Schwurgerichtshof, indem er den Zeugen Walter T***** dennoch zur Aussage verhielt, das Gesetz in der eben erwähnten Bestimmung verletzt.

Damit verstieß aber auch die Anwendung von Beugemitteln gegen das Gesetz. Denn gemäß § 160 StPO dürfen Beugemittel nur angewendet werden, wenn ein Zeuge ohne gesetzlichen Grund die Aussage verweigert. War aber der Zeuge zur Verweigerung der Aussage nach dem Gesetz berechtigt, darf er durch Beugemittel nicht zur Aussage gezwungen werden.

In Stattgebung der zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde war deshalb spruchgemäß zu erkennen.

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