OGH 10ObS207/91

OGH10ObS207/9126.11.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Franz Schulz (Arbeitgeber) und Dr. Gerhard Dengscherz (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Norbert W*****, Operationsgehilfe, ***** vertreten durch Dr. Gerhard Delpin, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei ALLGEMEINE UNFALLVERSICHERUNGSANSTALT (LANDESSTELLE GRAZ), 1201 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. März 1991, GZ 7 Rs 144/90-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 13. September 1990, GZ 22 Cgs 57/90-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit S 1.811,52 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 301,92 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 5. 4. 1962 geborene Kläger erlitt am 30. 11. 1988 als Operationsgehilfe beim Herunterheben eines Patienten vom Operationstisch einen Arbeitsunfall. Mit Bescheid vom 27. 2. 1990 lehnte die beklagte ALLGEMEINE UNFALLVERSICHERUNGSANSTALT die Gewährung einer Rente aus Anlaß dieses Arbeitsunfalls, den der Kläger im Dienste der S***** KRANKENANSTALTEN Gesellschaft mbH, Landeskrankenhaus L***** erlitt und bei dem er sich eine Zerrung der Muskulatur der Lendenwirbelsäule zuzog, gemäß §§ 203, 204 ASVG ab. In der Begründung wurde ausgeführt, daß die beim Kläger bestehenden Beschwerden seitens der Wirbelsäule sowie der Krankenstand ab 17. 1. 1989 auf ein unfallunabhängiges Krankheitsgeschehen zurückzuführen seien.

Mit der dagegen erhobenen Klage begehrt der Kläger von der beklagten Partei die Zahlung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 25 v.H. der Vollrente in der gesetzlichen Höhe ab 19. 9. 1989.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage und wiederholte ihren im Bescheid dargelegten Standpunkt. Es fehle jeder Hinweis auf ein traumatisches Ereignis.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Der Kläger ist seit 1982 im Landeskrankenhaus L***** als Operationsgehilfe berufstätig. Im Winter 1988 erlitt er beim Schifahren einen Unfall, wobei er sich eine Verletzung im Bereich der Lendenwirbelsäule zuzog. Nach diesem Unfall verspürte er keine Beschwerden mehr. Am 30. 11. 1988 war der Kläger mit der Bewegung eines 130 kg schweren Patienten befaßt. Dieser lag nach einer Narkose auf dem Operationstisch, war aber schon bei Bewußtsein. Aufgabe des Klägers war es, den Patienten ins Bett zu legen. Üblicherweise werden derartige Arbeiten zu zweit durchgeführt; an diesem Tag war der Kläger aber allein. Er unterfaßte den Patienten mit beiden Händen und zwar mit der linken Hand unter dem Kopf und mit der rechten Hand unter den Beinen. Er hob ihn hoch, drehte sich um und wollte den Patienten auf das gegenüberliegende Bett legen. Da der Boden naß war, rutschte der Kläger aus. Er konnte sich mit dem Rücken auf einer Mauerkante auffangen. Durch das Ausrutschen ging er in die Knie, wobei er den Patienten aber noch hielt. Es kamen ihm dann zwei Operationsschwestern zur Hilfe, der Patient wurde gemeinsam auf das Bett gelegt. Bei Zurückfallen verspürte der Kläger Beschwerden im Kreuz. Da die Arbeit zu Ende war, ging er nach Hause. Am nächsten Tag trat er seine Arbeit wieder an. Infolge von Beschwerden im Wirbelsäulenbereich nahm er eine physikalische Therapie in Anspruch. Am 17. 1. 1989 wurde beim Kläger eine Bandscheibenoperation durchgeführt, dabei wurden die vorgefallenen bzw. protrahierten Bandscheiben L 4/L 5 und L 5/S 1 operativ ausgeräumt. Aus dem vorliegenden Operationsbericht lassen sich Hinweise auf ein traumatisches Geschehen nicht ablesen, wobei allerdings eine genaue Beschreibung der entfernten Bandscheibenreste nicht vorgenommen wurde. Beschrieben wird allerdings, daß das Längsband eingeschnitten werden mußte. Im Falle eines traumatischen Bandscheibenschadens wäre nicht nur dieses Band sondern auch andere Bänder zerrissen. Die beim Kläger bestehenden Bandscheibenveränderungen waren degenerativer Natur, weil der Vorfall in zwei Etagen stattgefunden hat, keine Bänder zerrissen waren und der Kläger sich längere Zeit nach dem Ereignis einer ambulanten Betreuung unterziehen konnte, hingegen nicht sofort nach dem Unfall entsprechende neurologische Ausfallserscheinungen aufgetreten sind. Die neurologische Fachbegutachtung ergab, daß der vom Kläger geschilderte Unfallmechanismus nicht geeignet war, einen Bandscheibenvorfall in jenem Bereich herbeizuführen, in dem er beim Kläger aufgetreten ist. Es kann ausgeschlossen werden, daß durch einen derartigen Mechanismus zwei Bandscheibenvorfälle auftreten bzw. eine Bandscheibenprotrusion und ein Bandscheibenvorfall. Eine traumatische Bandscheibenprotrusion zwischen dem fünften Lendenwirbel und dem Kreuzbein tritt nur bei ganz schweren Direkttraumen auf. Sind bei traumatischen Bandscheibenvorfällen mehrere Segmente betroffen, gehen diese meistens mit Wirbelbrüchen einher. Die Bandscheibenoperation kann ursächlich mit dem Unfall nicht in Zusammenhang gebracht werden. Die durch den Unfall eingetretene Minderung der Erwerbsfähigkeit ist mit Null einzustufen.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch den geschilderten Unfall nicht gemindert sei. Die Frage des Kausalzusammenhanges zwischen dem Leidenszustand und einem Arbeitsunfall sei nur durch medizinische Sachverständige feststellbar. Eine anlagebedingte Erkrankung stehe nur dann unter Unfallversicherungsschutz, wenn der Unfall eine wesentliche mitwirkende Ursache darstelle, ohne die der Schaden in gleicher Schwere oder etwa zur gleichen Zeit nicht eingetreten wäre. Der Unfall dürfe also nicht als ein bloß zufälliger Nebenumstand das bereits vorhandene anlagebedingte Leiden auslösen, bzw. bloß der Anlaß für das Manifestwerden oder Hervortreten der sich schicksalhaft entwickelten Krankheit sein. Wesentlich sei also, ob es auch ohne das Unfallgeschehen bei Verrichtungen des täglichen Lebens in etwa der gleichen Ausprägung zum selben Leidensweg gekommen wäre. Im vorliegenden Fall sei die Tätigkeit des Klägers am 30. 11. 1988 bzw. sein Sturz "Gelegenheitsursache" für den später festgestellten Bandscheibenvorfall.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Der juristische Fachausdruck "Gelegenheitsursache" umschreibe ein Geschehen, daß zwar in natürlichem Zusammenhang mit einem anderen Geschehen (der Körperverletzung) insofern stehe, als es nicht weggedacht werden könne, ohne daß nicht auch die Folge (Körperverletzung) wegfiele, das aber so unbedeutend am Eintritt der Folge mitgewirkt habe, daß anzunehmen sei, die Folge wäre aus der Hauptursache (degenerative oder traumatische Vorschädigung; Anlage) heraus auch ohne dieses Geschehen bei jedem beliebigen anderen vom Einwirkungsmechanismus her ähnlichen Geschehen ebenso eingetreten. Was Bandscheibenvorfälle betreffe, so sei nach medizinischer Literatur, der sich die ständige Judikatur angeschlossen habe, Kausalität im Sinne der Unfallversicherung nach Traumatisierung der Wirbelsäule nur bei Vorschadensfreiheit und bei so erheblicher Gewalteinwirkung anzunehmen, daß sie auch eine gesunde Bandscheibe zerrissen und zu Brüchen der benachbarten Wirbelkörper geführt hätte. Außerdem müßten unmittelbar nach der Traumatisierung so heftige Beschwerden mit entsprechenden Symptomen einsetzen, daß dies zur sofortigen Arbeitseinstellung und stationärer Behandlung führen müßte. Im Fall des Klägers seien histologisch gesicherte degenerative und auch traumatisch bedingte Vorschäden der Lendenwirbelsäule vorgelegen; der Kläger sei auch schon vor dem 30. 11. 1988 wegen Beschwerden der Wirbelsäule ärztlich behandelt worden. Zusätzlich würden weitere Indizien gegen die Hauptverursachung des Bandscheibenvorfalles bzw. der Bandscheibenprotrusion sprechen, nämlich das Betroffensein von zwei Etagen, das Fehlen eines Risses des Längsbandes und das Fehlen von Residuen wie Knochen- und Knorpelabschürfungen bzw. Abbrüchen und Blutungen. Nach der Theorie von der wesentlichen Bedingung sei der Kausalzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und den Wirbelsäulenschäden zu verneinen.

Die gegen dieses Urteil vom Kläger erhobene Revision ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Nach der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung ist als Ursache unter Abwägung ihres Wertes im Verhältnis zu mitwirkenden Ursachen nur diejenige Bedingung anzusehen, die wegen ihrer besonderen Bedeutung für den Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen hat. Die Wesentlichkeit ist im Einzelfall nach der Anschauung des täglichen Lebens zu beurteilen. Bei der Verursachung des Unfalls durch mehrere Ereignisse ist Kausalität zu bejahen, wenn eines davon den Kausalverlauf wesentlich mitbeeinflußt hat und der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist. Tritt eine Ursache gegenüber den anderen erheblich in den Hintergrund, fehlt die Kausalität. Sie fehlt auch dann, wenn der Unfall auf eine innere Ursache zurückzuführen ist. Das Unfallereignis trifft dann mit einer beim Versicherten bereits vorhandenen Krankheitsanlage zusammen und führt den Körperschaden herbei. Eine innere Ursache liegt vor, wenn ein anlagebedingtes Leiden des Versicherten so leicht ansprechbar ist, daß es zur Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer äußerer Einwirkungen bedürfte, sondern jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zur selben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte. Hier tritt der Unfall zufällig während, aber nicht infolge der versicherten Tätigkeit ein, so daß die versicherte Tätigkeit nicht die wesentliche Ursache bildet (vgl. SSV-NF 2/6, 2/7, 4/83, 10 Ob S 414/90

= SSV-NF 5/22 - in Druck - ua; Tomandl, SV-System 4. Erglfg. 303 f; Gitter in: Maydell/Ruland (Hrg), Sozialrechtshandbuch 705 f; Schulin, Sozialrecht3 Rz 323; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter 050, 3 f; Bley, Grundbegriffe des Sozialrechts 83 f; ebenso die ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. SGb 1991, 186 mwN).

Geht man von diesen Grundsätzen aus, dann ist eine unrichtige rechtliche Beurteilung der Sache durch das Berufungsgericht nicht zu erkennen. Der festgestellte Sachverhalt zeigt vielmehr, daß die nach dem Unfall aufgetretene Gesundheitsstörung keine wesentliche Folge des Unfalles war. Wesentlich für diese Gesundheitsstörung war, daß die Wirbelsäule einerseits degenerativ und andererseits traumatisch vorgeschädigt war, wogegen am 30. 11. 1988 keine traumatische Verletzung erfolgte. Die Revision, die dies in Zweifel zieht, geht nicht von den bindenden Tatsachenfeststellungen der Vorinstanzen aus.

Waren aber die Schädigungen nicht unfallskausal im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung, dann lag auch keine Mangelhaftigkeit darin, daß die durch die Verletzung verursachte Erwerbseinbuße nicht festgestellt wurde. Insoweit liegt auch der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens nicht vor.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit. b ASGG. Da die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage im Sinne des § 46 Abs 1 Z 1 ASGG abhing, entspricht es der Billigkeit, dem unterlegenen Kläger die Hälfte seiner Kosten zuzusprechen (SSV-NF 4/19, 4/84 ua).

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