OGH 10ObS249/91

OGH10ObS249/9124.9.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Gottfried Winkler (Arbeitgeber) und Mag. Karl Dirschmied (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Erna H*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr. Gerhard Delpin, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ARBEITER (Landesstelle Graz), 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. Mai 1991, GZ 8 Rs 119/90-26, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 7. August 1990, GZ 23 Cgs 7/90-21, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter vom 12.12.1989 wurde der Antrag der Klägerin vom 26.6.1989 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension abgelehnt. Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage statt; es erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 1.7.1989 die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu zahlen und gemäß § 89 ASGG eine vorläufige Zahlung von monatlich S 2.542,-- zu erbringen. Es stellte fest, daß die am 4.11.1943 geborene Klägerin im Alter von zwei Jahren ertaubte und mangels einer Entwicklung des Sprachvermögens auch stumm ist. Nach Beendigung der Schulzeit (Taubstummenanstalt) begann sie im Jahr 1959 die Schneiderlehre, die sie jedoch nach wenigen Monaten abbrechen mußte. Danach war sie bis 1964 bei ihrem Vater als Hausgehilfin beschäftigt. Von 1964 bis Ende 1988 arbeitete sie als Hilfsarbeiterin (Montagearbeiterin) bei der Firma A*****-H*****. Bis Dezember 1988 erwarb sie 296 Versicherungsmonate, davon 290 Monate der Pflichtversicherung. Nach Darstellung des Gesundheitszustandes der Klägerin aus interner, orthopädischer und neurologisch-psychiatrischer Sicht gelangte das Erstgericht zu folgendem medizinischen Leistungskalkül: Der Klägerin sind leichte und mittelschwere Tätigkeiten im Sitzen, Gehen und Stehen, auch in exponierten Lagen wie auf Leitern und Gerüsten zumutbar. Das Heben und Tragen von Lasten ist bis zu 15 kg möglich. Arbeiten in gebückter Haltung erfahren keine Einschränkung. Alle Tätigkeiten sind ihr nur so weit möglich, als keine Anforderungen an das Gehör gestellt werden und auch keine sprachliche Artikulation gefordert werden dürfen. Insbesondere gilt das für Tätigkeiten an Maschinen, Tätigkeiten, die in rascher zeitlicher Abfolge durchzuführen sind und eine besondere Fingerfertigkeit benötigen, sind unzumutbar. Bei durchschnittlichen Anforderungen an die praktische Intelligenz ist die Klägerin auch auf andere Tätigkeiten verweisbar, wobei jedoch das Erlernen völlig neuer Erkenntnisse nicht zugemutet werden kann. Akkordarbeiten scheiden aus, ein normales Arbeitstempo ist jedoch zumutbar. Mit vermehrten Krankenständen ist nicht zu rechnen. Die Klägerin kann die Tätigkeiten einer Verpackerin, einer Aufräumerin und einer Wareneinrichterin ausüben. Wegen ihrer Taubheit und funktionellen Stummheit ist sie auf das Entgegenkommen und die Nachsicht des Dienstgebers angewiesen.

In rechtlicher Hinsicht bejahte das Erstgericht das Vorliegen von Invalidität iS des § 255 Abs.3 ASVG. Es sei allgemein bekannt, daß taubstumme Versicherte eine Beschäftigung nur bei Entgegenkommen und Nachsicht des Dienstgebers ausüben könnten. Auch wenn die genannten Verweisungsberufe nur eine kurze Anlernzeit benötigten und während der Ausübung des Berufes eine Kommunikation nicht erforderlich sei, ändere das nichts am Ausschluß der Klägerin vom Arbeitsmarkt. Die Arbeitskraft der Klägerin sei nur verwertbar, wenn Arbeitgeber und Mitbeschäftigte auf ihre Behinderung Rücksicht nähmen und sowohl das Verhalten der Umgebung als auch die Art der Beschäftigung der Behinderung angepaßt würden. Derartige Bedingungen bestünden lediglich an geschützten Arbeitsplätzen. Die Klägerin sei demnach nicht verweisbar.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil im Sinne einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens ab. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit setze voraus, daß sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn seiner Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert habe (SSV-NF 1/67). Wer trotz Behinderung, die ihn an sich vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließen würde, eine Berufstätigkeit ausübe, Versicherungszeiten erwerbe und damit die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen für eine Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension erfülle, könne sich nach Erreichung dieser Voraussetzungen nicht darauf berufen, daß er ohne Änderung seines körperlichen und geistigen Zustandes wegen dieser Behinderung nunmehr invalid oder berufsunfähig sei. Es komme daher darauf an, ob die trotz der Körperbehinderung zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt, also herabgesunken sei, wobei der körperliche Zustand des Versicherten bei Aufnahme der Berufstätigkeit und Eintritt in das Versicherungsverhältnis jenem bei Antragstellung gegenüberzustellen sei. Ein bereits vor Beginn der Erwerbsfähigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter, im wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand könne daher nicht zum Eintritt des Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit führen (SSV-NF 4/60). Die Klägerin habe trotz ihrer seit frühester Kindheit bestehenden Behinderung einen Beruf ausgeübt und 296 Versicherungsmonate erworben. Die Behinderung, die bereits vor Eintritt in das Berufsleben in gleichem Maße vorhanden war, könne daher nicht zum Eintritt des Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit führen. Es sei richtig, daß jeder Behinderte auf ein gewisses Maß an Rücksicht, vor allem seitens des Arbeitgebers angewiesen sei. Dadurch werde die Klägerin aber nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Für Tätigkeiten, bei denen eine kurze Unterweisung oder Anleitung, die auch ohne Vermittlung durch die Sprache und das Gehör durch ein bloßes Vormachen und Zeigen erteilt werden könne, würden auch Taubstumme herangezogen (SVSlg. 20.220, 14.237 f). Zu diesen Tätigkeiten seien die einer Verpackerin, Aufräumerin oder Wareneinrichterin zu zählen, auf die die Klägerin auf Grund ihres medizinischen Leistungskalküls verwiesen werden könne.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen von der Klägerin erhobene Revision ist nicht berechtigt.

Die Revisionsgründe der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der Aktenwidrigkeit (§ 503 Z 2 und 3 ZPO) liegen nicht vor (§ 510 Abs.3 Satz 3 ZPO); inhaltlich wird damit - ebenso wie mit dem weiteren Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache - geltend gemacht, daß die Leistungsfähigkeit der Klägerin seit ihrem Eintritt ins Berufsleben nicht gleichgeblieben sei, weil zu der seit der Kindheit bestehenden Taubstummheit körperliche Beeinträchtigungen hinzugetreten seien und die Gehörbehinderung nicht so behandelt werden dürfte, als ob sie nicht bestünde, andernfalls die Klägerin auch auf den Verweisungsberuf einer Telefonistin verwiesen werden könnte, was "nicht nur unsozial, sondern völlig unverständlich" wäre.

Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes, daß die am 4.11.1943 geborene Klägerin auf Grund ihres medizinischen Leistungskalküls die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätspension nach dem für sie - mangels Berufsschutzes - maßgeblichen § 255 Abs.3 ASVG nicht erfüllt, ist zutreffend. Trotz verschiedener, erst im Laufe des Berufslebens aufgetretener körperlicher Beeinträchtigungen kann die Klägerin die (auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in ausreichender Zahl vorhandenen) beruflichen Tätigkeiten einer Verpackerin, Aufräumerin und Wareneinrichterin ausüben. Der Einwand der Revisionswerberin, ihre Taubheit wäre dabei unberücksichtigt geblieben, geht schon deshalb fehl, weil die genannten Verweisungstätigkeiten ein Hörvermögen oder auch besondere sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten gar nicht erfordern und demnach grundsätzlich auch von Taubstummen verrichtet werden können, wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat. Die Verweisung auf den Beruf einer Telefonistin, die nach Ansicht der Revisionswerberin bei Zutreffen der Rechtsansicht des Berufungsgerichtes möglich, wenn auch "nicht nur unsozial, sondern völlig unverständlich" wäre, wurde in ihrem Fall nie in Erwägung gezogen. Daß Taubstumme im Arbeitsleben eines gewissen Maßes an Rücksicht auch seitens des Arbeitgebers bedürfen, soll nicht bezweifelt werden, doch fällt andererseits ins Gewicht, daß für die Klägerin, die mit dieser Behinderung aufgewachsen ist, eine Anpassung und Gewöhnung nicht mehr erforderlich ist (so die ergänzenden Ausführungen des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen in ON 19). In Ansehung der Taubstummheit hat sich auch der Zustand der Klägerin gegenüber dem Eintritt ins Berufsleben in keiner Weise geändert, so daß die Taubstummheit allein kein Herabsinken der Arbeitsfähigkeit bewirken konnte (ähnlich wie im Fall des Verlustes eines Auges kurz nach der Geburt: SSV-NF 1/67). Der davon abweichenden Rechtsansicht des Oberlandesgerichtes Wien, SSV 25/151 vermag der erkennende Senat nicht zu folgen, weil es nicht darauf ankommt, ob die Arbeitskraft eines Pensionswerbers unter dem gesetzlich normierten Wert "liegt", sondern vielmehr darauf, ob sie während des Berufslebens unter diesen Wert "herabgesunken" ist (§ 255 Abs.1 ASVG; vgl. auch SSV-NF 2/87 = JBl. 1989, 334) und der Pensionswerber daher "nicht mehr imstande ist", durch eine auf dem Arbeitsmarkt noch bewertete und zumutbare Tätigkeit wenigstens die Lohnhälfte zu erwerben (§ 255 Abs.3 ASVG).

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs.1 Z 2 lit.b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch an die unterlegene Klägerin aus Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und sind nach der Aktenlage auch nicht ersichtlich.

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