OGH 10ObS219/91

OGH10ObS219/9124.9.1991

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Gottfried Winkler (Arbeitgeber) und Mag. Karl Dirschmied (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maria W*****, Büglerin, ***** vertreten durch Dr. Reinhard Tögl, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ARBEITER, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr. Anton Rosicky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Rekurses der klagenden Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 8. August 1991, GZ 7 Rs 21/91-17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 9. November 1990, GZ 36 Cgs 117/90-13, aufgehoben wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben. Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben.

In der Sache selbst wird zu Recht erkannt: Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 4. 1990 zu gewähren, wird abgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahren selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid der beklagten PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ARBEITER vom 28. 5. 1990 wurde der Antrag der Klägerin vom 13. 3. 1990 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension abgelehnt. Mit der dagegen erhobenen Klage beantragte die Klägerin die Zuerkennung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 4. 1990. Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage.

Das Erstgericht erkannte das Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend und trug der beklagten Partei auf, der Klägerin ab 1. 4. 1990 eine vorläufige Zahlung von monatlich 5.500,- S zu erbringen. Auf Grund von ärztlichen Sachverständigengutachten (Interne, Orthopädie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Neurologie und Psychiatrie) stellte das Erstgericht die bei der Klägerin im einzelnen bestehenden krankhaften Veränderungen fest. Nach dem zusammenfassenden Leistungskalkül sind der Klägerin leichte und mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen, im Freien und in geschlossenen Räumen unter Einhaltung der üblichen Ruhepausen zumutbar, wobei auch Tätigkeiten mit Fingergeschicklichkeit eingeschlossen sind und auch Bück- und Hebearbeiten durchgeführt werden können. Wegen der Neigung zu Blasenentzündungen sind Arbeiten, die ständig in Kälte und Nässe geleistet werden müssen, ausgeschlossen. Akkord- und Fließbandarbeiten scheiden ebenso aus; einem forcierteren Arbeitstempo ist die Klägerin aber ganztägig gewachsen. Aus ohrenärztlicher Sicht wurden sämtliche Arbeiten ausgeschlossen, die ein gutes Hörvermögen erfordern. Wegen der praktischen Taubheit links scheiden auch Tätigkeiten in gefahrvoller Umgebung aus, da warnende Zurufe nicht gehört werden können. Arbeiten über Kopfhöhe sowie Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sind ebenfalls nicht zumutbar. Die Klägerin ist auf Tätigkeiten verweisbar, zu deren Ausübung einfache Anweisungen ausreichen. Das Erlernen neuer Kenntnisse zu Umschulungszwecken kann ihr nicht zugemutet werden. Verminderte Kontakt- und Umstellungsfähigkeit sind bei der Verweisung zu berücksichtigen. Im Falle eines Ortswechsels ist mit maßgeblichen Anpassungsschwierigkeiten nicht zu rechnen. Die am 25. 9. 1940 geborene Klägerin erlernte keinen Beruf, arbeitete in der Landwirtschaft und seit 1962 als Wäschereiarbeiterin und Büglerin.

In rechtlicher Hinsicht gelangte das Erstgericht zu dem Ergebnis, daß der Klägerin die von ihr in den letzten 15 Jahren vor Antragstellung ausgeübten Tätigkeiten nicht mehr zumutbar seien, da bei der Tätigkeit als Wäschereiarbeiterin schwere Arbeiten und Arbeiten unter Nässe, bei der Tätigkeit als Büglerin Arbeiten über Kopfhöhe nicht auszuschließen seien. Da "aus berufskundlicher Sicht in Anbetracht des komplexen und recht eingeschränkten medizinischen Leistungskalküls" kein Verweisungshinweis habe gegeben werden können, sei davon auszugehen, daß die Klägerin invalid im Sinne des § 255 ASVG sei.

Das Berufungsgericht hob infolge Berufung der beklagten Partei dieses Urteil auf und verwies die Sozialrechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Die bloße Aussage des berufskundlichen Sachverständigen, Verweisungstätigkeiten nicht nennen zu können, reiche nicht aus. Es sei nicht ersichtlich, daß das Erstgericht die beklagte Partei dazu angeleitet hätte, Vorbringen und Beweisanerbieten zu "potentiellen" Verweisungstätigkeiten zu erstatten. Das Verfahren sei daher mangelhaft. Im fortgesetzten Verfahren werde die vermißte Erörterung mit dem berufskundlichen Sachverständigen und Anleitung der beklagten Partei nachzuholen sein. Den Rekurs an den Obersten Gerichtshof erklärte das Berufungsgericht für zulässig.

Gegen diesen Beschluß richtet sich der Rekurs der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung, mit dem sie die Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils anstrebt.

Die beklagte Partei beantragte, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist gemäß § 45 Abs.4 ASGG ohne die Voraussetzungen des § 46 Abs.1 ASGG zulässig. Er ist im Ergebnis insoweit berechtigt, als er die Spruchreife der Sache geltend macht.

Mangels Berufsschutzes ist der Anspruch der noch nicht 55-jährigen Klägerin auf Invaliditätspension nach § 255 Abs.3 ASVG zu prüfen. Danach gilt ein Versicherter, der nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war, als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Dabei ist vom medizinischen Leistungskalkül auszugehen. Maßgeblich ist also, daß die Klägerin noch leichte und mittelschwere Arbeiten in allen Körperhaltungen verrichten kann. Ausgeschlossen sind lediglich Arbeiten über Kopfhöhe, auf Leitern und Gerüsten, in ständiger Kälte und Nässe sowie Akkord- und Fließbandarbeiten sowie Arbeiten, die ein gutes Hörvermögen erfordern oder in gefährlicher Umgebung verrichtet werden müssen.

Das Erstgericht hat festgestellt, daß die Klägerin die bisher ausgeübten Tätigkeiten einer Wäschereiarbeiterin (wegen nicht auszuschließender schwerer Arbeiten und Arbeiten unter Nässe) und einer Büglerin (wegen fallweise nicht auszuschließender Tätigkeiten über Kopfhöhe) nicht mehr verrichten kann; eine Verweisbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hat es nicht weiter geprüft und insbesondere auch nicht festgestellt, daß es keine Verweisungstätigkeiten für die Klägerin gebe. Lediglich in seiner rechtlichen Beurteilung führte es aus, daß "aus berufskundlicher Sicht in Anbetracht des komplexen und recht eingeschränkten medizinischen Leistungskalküls im besonderen im Hinblick auf die Verweisungsfähigkeit der Klägerin kein Verweisungshinweis gegeben werden konnte", weshalb davon auszugehen sei, daß Invalidität vorliege. Diese Ansicht wurde zu Recht von der beklagten Partei in ihrer Berufung wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache bekämpft. Das Verweisungsfeld für Versicherte, die keinen erlernten oder angelernten Beruf ausgeübt haben, ist nach ständiger Rechtsprechung mit dem gesamten Arbeitsmarkt identisch (SSV-NF 1/4 uva). Daß die Klägerin unter Berücksichtigung ihres Leistungskalküls auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch eine ganze Reihe von Tätigkeiten verrichten kann, die über mittelschwere Beanspruchung nicht hinausgehen, keine Akkord- und Fließbandarbeiten erfordern, weder in Kälte und Nässe noch auf Leitern und Gerüsten, über Kopfhöhe oder in gefährlicher Umgebung verrichtet werden müssen und auch ein gutes Hörvermögen nicht erfordern, ist offenkundig. Die Klägerin könnte beispielsweise Sortier- und Verpackungsarbeiten in verschiedensten Branchen durchführen, für die keine Umschulung erforderlich ist, sondern eine kurze Unterweisung genügt. Weiters könnte die Klägerin beispielsweise als Geschirrabräumerin in Selbstbedienungsrestaurants, Alters- und Pflegeheimen oder in Betriebsküchen, als Garderobefrau und als Botengängerin arbeiten. Die Anforderungen in diesen weit verbreiteten Verweisungstätigkeiten, die sich zum Teil unter den Augen der Öffentlichkeit abspielen und deren Anforderungen allgemein bekannt sind, müssen als offenkundig im Sinn des § 269 ZPO gelten, so daß es weiterer Feststellungen dazu nicht bedarf (vgl. SSV-NF 2/77, 2/109 ua). Offenkundige Tatsachen sind aber von den Gerichten ihren Entscheidungen von Amts wegen zugrundezulegen und müssen nicht einmal behauptet werden (Fasching, Kommentar III 265 und ZPR2 Rz 852; JBl. 1972, 540 uva). Der vom Berufungsgericht erörterten Frage, ob die Darlegung der genannten Verweisungsmöglichkeiten in der Berufung gegen das Neuerungsverbot verstieß, kommt daher keine Bedeutung zu; es bedarf auch nicht der vom Berufungsgericht für nötig erachteten Verfahrensergänzung in der Richtung, die beklagte Partei dazu anzuleiten, "potentielle" Verweisungstätigkeiten zu behaupten und unter Beweis zu stellen. Die Rechtssache ist, da die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätspension an die Klägerin ganz offenkundig nicht vorliegen, vielmehr im Sinne einer Abweisung der Klage spruchreif. Gemäß § 519 Abs.2 letzter Satz ZPO konnte der Oberste Gerichtshof über den Rekurs der Klägerin durch Urteil in der Sache selbst erkennen, und zwar auch zum Nachteil der Rekurswerberin (Fasching ZPR2 Rz 1823 und 1983;

Judikaturnachweise bei Stohanzl JN und ZPO14 E 47 zu § 519 ZPO;

vgl. auch SSV-NF 4/84).

Demgemäß war der angefochtene Beschluß aufzuheben und das Klagebegehren abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs.1 Z 2 lit.b ASGG. Da die Klägerin vor dem Obersten Gerichtshof durch einen ihr im Rahmen der Verfahrenshilfe beigegebenen Rechtsanwalt vertreten ist, wird sie mit Kosten dieses Rechtsmittelverfahrens nicht belastet. Die Voraussetzungen für einen Kostenzuspruch aus Billigkeit bestehen daher schon aus diesem Grund nicht. Daß ihrem Rekurs im Ergebnis Folge gegeben wurde, bedeutet kein Obsiegen im Sinn des § 77 Abs.1 Z 2 lit.a ASGG, weil sie in der Hauptsache zur Gänze unterlegen ist.

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