OGH 2Ob45/91

OGH2Ob45/9118.9.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kralik als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber, Dr.Kropfitsch, Dr.Zehetner und Dr.Schinko als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Edeltrud B*****, vertreten durch Dr.Anton Heinrich, Rechtsanwalt in Judenburg, wider die beklagte Partei Herbert T*****, vertreten durch Dr.Heinz Ortner, Rechtsanwalt in Gmunden, wegen S 150.000 und Feststellung (S 50.000), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 24.April 1991, GZ 5 Cg 132/90-34, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Leoben vom 14.November 1990, GZ 5 Cg 132/90-24, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil aufgehoben; zugleich wird auch das Urteil des Erstgerichtes aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind als weitere Verfahrenskosten zu behandeln.

Text

Begründung

Am 14.11.1988 war der Beklagte Eigentümer der Liegenschaft EZ 524 KG F***** bestehend aus den Grundstücken 187/3 Garten, 98 und 100/1 Baufläche. In Süden schließen an die Grundstücke ein Gehweg und daran die Landesstraße 245 an. Am 7.11.1989 hat der Beklagte die Liegenschaft verkauft.

Die Klägerin begehrte vom Beklagten Schmerzengeld von S 150.000 sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für alle künftigen Schäden aus dem Sturz vom 14.11.1988. Sie brachte dazu vor, am 14.11.1988 auf dem südlich der Liegenschaft des Beklagten vorbeiführenden vereisten und nicht gestreuten Gehweg gestürzt zu sein. Sie habe dadurch einen Oberschenkelhalsbruch links und Platzwunden an der Schläfe erlitten.

Der Beklagte bestritt, daß die Klägerin auf dem Gehweg vor seiner Liegenschaft gestürzt sei. Weiters wendete er ein, daß ihn am Unterbleiben der Streuung kein Verschulden treffe; jedenfalls aber sei der Klägerin das überwiegende Mitverschulden anzulasten, weil sie erkennbare Gefahrenstellen meiden hätte müssen. Trotz erkennbarer Eisglätte sei sie nicht mit erhöhter Aufmerksamkeit gegangen und habe offenbar ungeeignetes Schuhwerk verwendet. Im Hinblick auf das bestehende Leiden (Osteoporose) wäre die Klägerin verpflichtet gewesen, entweder das Begehen des offenbar nicht gestreuten und eisglatten Gehweges zu unterlassen oder aber an den Schuhen einen entsprechenden Gleitschutz (Spikes) anzubringen bzw einen Gehstock zur Hilfe zu nehmen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren kostenpflichtig statt, es traf im wesentlichen folgende weitere Feststellungen:

Am 14.11.1988 setzte in Zeltweg in den Morgenstunden ein Eisregen ein, der zu einer völligen Vereisung der Straßen und Gehwege führte. Die Stadtgemeinde und die Baubezirksleitung waren bestrebt, vorerst die Durchzugsstraßen und in der Folge die zu den öffentlichen Gebäuden führenden Straßen und die zu den Schulen führenden Gehwege zu streuen. Der in Linz wohnhafte Beklagte hatte zum Zeitpunkte des Unfalls der Klägerin niemanden mit der Streuung des Gehweges vor seiner Liegenschaft betraut. Er selbst hat in den letzten Jahren sein Grundstück nur einmal jährlich aufgesucht.

Die Klägerin ging am 14.11.1988 gegen 9.00 Uhr auf dem Gehweg entlang des Grundstückes des Beklagten von Westen nach Osten; sie trug Winterstiefel mit flachem Absatz und einer Gummisohle. Der Gehweg entlang des Grundstückes des Beklagten war völlig vereist und nicht gestreut. Obwohl die Klägerin vorsichtig ging, rutschte sie aus und stürzte mit der linken Hüfte auf den Gehweg. Sie erlitt durch diesen Sturz einen Schenkelhalsbruch links im inneren Anteil sowie eine Rißquetschwunde an der linken Schläfe.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Ansicht, der Beklagte habe gegen die im § 93 Abs 1 StVO normierte Streupflicht verstoßen. Da die Klägerin ein den Witterungsverhältnissen angepaßtes Schuhwerk getragen habe und vorsichtig gegangen sei, könne ihr kein Mitverschulden angelastet werden. Der Beklagte habe daher der Klägerin Ersatz für die erlittenen Schmerzen zu leisten. Da Folgeschäden nicht auszuschließen seien, sei auch das Feststellungsbegehren berechtigt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten teilweise Folge und änderte die angefochtene Entscheidung dahin ab, daß der Klägerin lediglich ein Betrag von 75.000 S zugesprochen wurde. Weiters wurde ausgesprochen, daß der Beklagte für alle künftigen Schäden aus dem Sturz vom 14.11.1988 nur zur Hälfte hafte.

Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und vetrat in rechtlicher Hinsicht die Meinung, es liege gleichteiliges Mitverschulden der Klägerin vor. Bei Schadenersatzansprüchen wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten liege ein Mitverschulden dann vor, wenn ein sorgfältiger Mensch rechtzeitig erkennen könne, daß Anhaltspunkte für eine solche Verletzung bestehen und er die Möglichkeit habe, sich darauf einzustellen; erkennbaren Gefahrenstellen müsse grundsätzlich ausgewichen werden. Ein Verkehrsteilnehmer handle jedenfalls dann fahrlässig, wenn er im Bewußtsein der Gefahrenlage gefährliche Stellen betrete. Die Klägerin hätte sich dessen bewußt sein müssen, daß ein völlig vereister, nicht gestreuter Gehweg eine Gefahrenquelle darstelle. Es sei zwar nicht allgemein üblich, Schuhe mit Gleitschutz in Form von Spikes zu benützen, doch hätte in Anbetracht der völlig vereisten Straßen- und Gehwege die Klägerin ihren (nicht als unbedingt notwendig behaupteten) Weg unterlassen müssen. Daß sie dies trotz der erkennbaren Gefahrenlage nicht getan habe, begründe im vorliegenden Fall ihr gleichteiliges Mitverschulden.

Die ordentliche Revision wurde nicht zugelassen, da die Verschuldensteilung eine Frage des Einzelfalles darstelle und zur grundsätzlichen Frage eines Verschuldens bei Sorglosigkeit gegenüber eigenen Gütern Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt werde.

Der Beklagte hat in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt, das Rechtsmittel der Klägerin zurückzuweisen, in eventu ihm keine Folge zu geben.

Die Revision der Klägerin ist zulässig und im Sinne ihres im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Es ist zwar zutreffend, daß zur Frage des Mitverschuldens bei Schadenersatzansprüchen aus der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliegt (ZVR 1984/122); zur Frage, ob bei Eisglätte die notwendige Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten so weit gehen kann, daß die Wohnung nicht verlassen werden darf, gibt es aber keine höchstgerichtliche Rechtsprechung, so daß die Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO gegeben sind.

Die Klägerin wendet sich in ihrem Rechtsmittel gegen die Ansicht des Berufungsgerichtes, sie hätte am Unfallstag ihre Wohnung nicht verlassen dürfen. Es bestünde kein allgemeines Bewußtsein der beteiligten Kreise (also der Fußgänger in österreichischen Ortsgebieten), daß bei Glatteis die Wohnung überhaupt nicht verlassen werden dürfe. Jeder Straßenbenützer, also auch jeder Fußgänger, dürfe darauf vertrauen, daß andere Personen, die für die Benützung der Straße erforderlichen Rechtsvorschriften einhalten. Dazu zähle auch die Streupflicht des § 93 StVO. Ein Mitverschulden der Klägerin sei nur dann gegeben, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, das Gehsteigstück vor der Liegenschaft des Beklagten gefahrlos zu umgehen. Solches sei weder behauptet noch bewiesen worden. Jedenfalls wäre ein Mitverschulden der Klägerin ohne Rechtswidrigkeit gegenüber der massiven Rechtswidrigkeit im Verschulden des Beklagten zu vernachlässigen.

Diesen Ausführungen kommt überwiegend Berechtigung zu.

Rechtliche Beurteilung

Das Mitverschulden im Sinne des § 1304 ABGB setzt kein Verschulden im technischen Sinne voraus. Schon Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Gütern führt dazu, daß der Geschädigte weniger schutzwürdig erscheint, weshalb dem Schädiger nicht mehr der Ersatz des ganzen Schadens aufzuerlegen ist (ZVR 1984/122; RZ 1989/75; 1 Ob 39/89 uva). Bei Unterlassung von Schutzmaßnahmen zur eigenen Sicherheit ist der Vorwurf des Mitverschuldens begründet, wenn sich bereits ein allgemeines Bewußtsein der beteiligten Kreise dahin gebildet hat, daß jeder Einsichtige und Vernünftige solche Schutzmaßnahmen anzuwenden pflegt (ZVR 1984/122; 1 Ob 602/89; Rixecker in Geigel20, 31). Bei Schadenersatzansprüchen wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten liegt dann ein Mitverschulden vor, wenn ein sorgfältiger Mensch rechtzeitig hätte erkennen können, daß Anhaltspunkte für eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht bestehen, und die Möglichkeit hatte, sich darauf einzustellen; erkennbaren Gefahrenstellen muß grundsätzlich ausgewichen werden (ZVR 1984/122; Grunsky in Münchner KommzBGB2, Rz 27 zu § 254). Bei Schnee- oder Eisglätte muß ein Fußgänger besondere Vorsicht walten lassen, nach Möglichkeit muß er den gestreuten Teil des Weges benutzen. Hiebei sind ihm auch kleinere Umwege zuzumuten. Erkennbar gefährlichen Wegstellen muß ausgewichen werden. Körperlich behinderte oder alte Menschen müssen sich nach den Umständen bei Glätte führen lassen oder einen Stock benutzen (Mertens in Soergel12, Rz 40 zu § 254). Ein Mitverschulden liegt jedoch nur dann vor, wenn der Geschädigte die Möglichkeit hatte, die Gefahr zu vermeiden. Daran fehlt es etwa bei einem Arbeitnehmer, der auf der glatten Straße auf dem Weg zur Arbeit verunglückt (Grunsky, aaO). Es hieße aber auch die Sorgfaltspflicht in eigenen Angelegenheiten überspannen, würde man eine Sorglosigkeit darin erblicken, daß eine 52-jährige Frau bei Eisglätte ihre Wohnung (wenn auch ohne besonderen Zwang) verläßt. Es muß dem Bewohner einer Stadt grundsätzlich offenstehen, auch bei Eisregen seine Wohnung zu verlassen, ohne sich schon allein dadurch dem Vorwurf der Sorglosigkeit gegenüber eigenen Gütern auszusetzen.

Entgegen der vom Beklagten vertretenen Ansicht kann der Klägerin auch nicht vorgeworfen werden, daß sie keinen Gleitschutz (Spikes) verwendete. Nach Ansicht des erkennenden Senates hat sich jedenfalls im städtischen Bereich ein allgemeines Bewußtsein der beteiligten Kreise (Fußgänger) dahingehend, daß bei Glatteis Fußgänger einen besonderen Gleitschutz in Form von Spikes zu verwenden haben, nicht gebildet, es wird wohl auch die Mehrheit der Stadtbewohner über derartige Mittel nicht verfügen. Entgegen der in der Revisionsbeantwortung vertretenen Ansicht kann der Klägerin auch nicht vorgeworfen werden, keinen Gehstock verwendet zu haben. Die Klägerin war zum Unfallszeitpunkt 52 Jahre; dieses Alter allein rechtfertig nicht den Vorwurf, sie hätte jedenfalls einen Stock benützen müssen. Eine körperliche Behinderung oder besondere Krankheit wurde vom Erstgericht nicht festgestellt, aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr.Eduard Bone ergibt sich lediglich, daß die Klägerin eine ihrem Alter entsprechende Kalksalzverminderung (Osteoporose) hat (AS 111).

Die Ansicht des Berufungsgerichtes, die Klägerin treffe eine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten, weil sie ihre Wohnung trotz Glatteises überhaupt verließ, erweist sich sohin nicht als zutreffend. Die Rechtssache ist aber dessenungeachtet noch nicht spruchreif, da der Beklagte der Klägerin auch vorgeworfen hat, sie hätte die ihr erkennbare Gefahrenstelle vermeiden können. Wie schon oben ausgeführt, sind einem Fußgänger bei Schnee- oder Eisglätte auch kleinere Umwege zuzumuten und muß erkennbar gefährlichen Wegstellen ausgewichen werden. Mit diesen Fragen hat sich das Erstgericht aber nicht auseinandergesetzt und darüber auch keine Feststellungen getroffen. Im fortgesetzten Verfahren wird daher zu klären sein, ob und wann für die Klägerin der gefährliche Zustand des Weges vor der Liegenschaft des Beklagten erkennbar war und ob und welche Möglichkeiten sie gehabt hätte, dieser gefährlichen Strecke auszuweichen.

Es war daher der Revision im Sinne ihres Aufhebungsantrags Folge zu geben und spruchgemäß zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 ZPO.

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