OGH 10ObS121/91

OGH10ObS121/917.5.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag.Kurt Resch (Arbeitgeber) und Richard Paiha (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz H*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Josef R.Harthaller, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter (Landesstelle Salzburg), 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 30. Jänner 1991, GZ 5 Rs 11/91-20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 8.November 1990, GZ 44 Cgs 75/90-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen. Die Kosten der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 2.2.1938 geborene Kläger war in den Jahren 1975, 1976, 1979 bis 1981 und vom 8.8.1988 bis 31.8.1989 jeweils mit Unterbrechungen sowie vom 7.5.1984 bis 15.2.1985 als Schalzimmerer bzw. Schaler beschäftigt. Vom 27.4.1981 bis 1.1.1984 war er als Maschinist beschäftigt. Mit Bescheid der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter vom 11.1.1990 wurde sein Antrag vom 14.9.1989 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension abgelehnt.

In seiner auf Gewährung der Invaliditätspension "ab Stichtag" (1.10.1989) gerichteten Klage behauptete der Kläger Berufsschutz als angelernter Zimmerer. Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage und wendete unter anderem ein, aus der Aktenlage ergäben sich keine Hinweise auf eine derartige Qualifikation.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte fest, daß der Kläger noch leichte und mittelschwere Arbeiten in gelegentlich wechselnder Körperhaltung ganztägig mit den üblichen Arbeitspausen im Freien und in geschlossenen Räumen verrichten kann. Die ausschließlich stehenden Anteile sollten gering sein. Bei geeignetem Schuhwerk bestehen keine weiteren Einschränkungen, auch nicht hinsichtlich des Anmarschweges zur Arbeitsstätte. Bei seinen Tätigkeiten war der Kläger nie als Vorarbeiter oder Partieführer eingesetzt. Einfache Schalungsarbeiten an Hand von einfachen Plänen erledigte er selbständig, zu Tätigkeiten im Zusammenhang mit schwierigen Plänen wurde er nicht herangezogen. Mit den Herstellungen von Betonmischungen hatte er nichts zu tun. Er beherrscht das Abdichten des Bauwerks mit Dichtschlämmen nicht, ebensowenig das Ausfüllen von Ausmaßbestätigungen und Arbeitsbestätigungen. Den Materialbedarf kann er beiläufig schätzen, berechnet hat er ihn nicht. Er machte auch keine Berechnungen von Mörtel- und Betonmischungen. Bei schwierigen Arbeitaufträgen hatte der Kläger Probleme und wurde demzufolge nicht herangezogen. Er hat sich nicht jene Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet, die einen gelernten Schalungsbauer auszeichnen.

Unter Heranziehung der Ausbildungsvorschriften für den Lehrberuf Schalungsbauer erachtete das Erstgericht den Berufsschutz des Klägers iS des § 255 Abs 2 ASVG als nicht gegeben. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne er noch Verweisungsberufe wie beispielsweise Portier, Museumswärter, Wächter oder Bürodiener ausüben.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Die Rechtsprechung habe den Schaler oder Schalungszimmerer nicht als angelernten Beruf anerkannt, weil diese Tätigkeiten im Rahmen des Zimmererberufes ausgeübt würden und die hiefür notwendigen Teilkenntnisse nicht das Ausmaß erreichten, das § 255 Abs 2 ASVG erfordere. Die Schaler würden im einschlägigen Kollektivvertrag als angelernte Bauarbeiter geführt. Sie seien relativ kurzfristig eingearbeitete Hilfskräfte im Baugewerbe, deren Hauptaufgabe darin bestehe, Verschalungen für den Betonbau herzustellen oder fertige Schalelemente zusammenzubauen. Sicher sei diese Tätigkeit mit einer Verantwortung verbunden, sie könne jedoch im Hinblick auf das Berufsbild des Zimmerers nur als eine relativ kleine Teiltätigkeit aus dem Zimmererhandwerk qualifiziert werden. Der Kläger habe sich auch nicht entsprechend praktische Kenntnisse und Fähigkeiten im Lehrberuf des Schalungsbauers angeeignet. Auch hier habe der Kläger im Rahmen seiner praktischen Tätigkeit mit dem Abdichten von Bauwerken und anderen Arbeiten, wie sie dem Berufsbild entsprächen, nichts zu tun gehabt. Er habe nicht nur keine theoretischen Kenntnisse bezogen, es mangle ihm auch an der entsprechenden praktischen Tätigkeit.

Die dagegen vom Kläger erhobene Revision ist im Sinne ihres Aufhebungsantrages berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Nach § 255 Abs 2 ASVG liegt ein angelernter Beruf iS des Abs 1 vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Schon aus der Formulierung "gleichzuhalten" ergibt sich klar, daß die qualifizierten, in der Praxis erworbenen Kenntnisse nicht jene eines bestimmten gesetzlich geregelten Lehrberufes sein, sondern den in einem Lehrberuf erworbenen besonderen Kenntnissen und Fähigkeiten an Qualität und Umfang nur entsprechen müssen, auch wenn es keinen gleichartigen, gesetzlich geregelten Lehrberuf gibt (vgl. SSV-NF 4/74 mit Hinweisen auf die Gesetzesmaterialien). Der Gesetzgeber wollte gerade für jene angelernten Berufe Berufsschutz gewähren, für die kein entsprechender Lehrberuf vorgesehen ist, wenn damit gleichartige und gleichwertige qualifizierte Kenntnisse verbunden sind. Die rasche wirtschaftliche Entwicklung und insbesondere die Spezialisierung in Großunternehmungen haben es notwendig gemacht, für ganz bestimmte qualifizierte Aufgaben die Arbeiter, sei es in eigenen Werkstätten oder Ausbildungskursen, sei es am konkreten Arbeitsplatz selbst auszubilden (anzulernen), weil die durch die herkömmlichen Lehrberufe vermittelte Ausbildung für die besonderen Aufgaben einerseits nicht genügt und andererseits in der Praxis entbehrlich ist (vgl. auch SSV-NF 1/70 und 4/80). So hat der erkennende Senat ausgesprochen, daß daraus, daß ein früherer Lehrberuf nicht mehr Gegenstand der Lehrberufsliste ist, nicht geschlossen werden darf, daß die für diese Tätigkeit erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht denen eines Lehrberufes entsprächen (SSV-NF 4/74 zum früheren Lehrberuf Drahtzieher; ähnlich 10 Ob S 170/90 = SSV-NF 4/11 - in Druck). Umgekehrt könnte Berufsschutz auch schon für die Zeit vor dem Inkrafttreten von Ausbildungsvorschriften angenommen werden (SSV-NF 4/80 zu dem Beruf eines angelernten Kraftfahrers).

Im vorliegenden Fall ist von Bedeutung, daß der Lehrberuf "Schalungsbauer", an dem die Vorinstanzen Tätigkeit und Kenntnisse des Klägers gemessen haben, erst mit Wirkung vom 15.7.1987 in die Lehrberufsliste eingefügt wurde

(BGBl. 1987/299). Gleichzeitig entfielen die Bestimmungen betreffend den Lehrberuf "Betonbauer" (dazu ausführlich SSV-NF 3/79). Ab Inkrafttreten der Verordnung, mit der Ausbildungsvorschriften für den Lehrberuf Schalungsbauer erlassen wurden (BGBl. 1987/300), übte der Kläger diesen Beruf überwiegend nicht mehr aus; daß er nicht alle dort aufgelisteten Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, könnte ihm daher nicht zum Nachteil gereichen. Nach früherer Anschauung war die Tätigkeit des Schalers eine Spezialisierungseinrichtung von Maurern, Zimmerern oder Betonbauern, die sich ausschließlich auf das Anfertigen von Schalungen verlegt haben (vgl. Berufslexikon Band 2 "Ausgewählte Berufe" mit Stand Jänner 1985, S 422). Gerade die Schaffung eines eigenen Lehrberufes im Jahr 1987 deutet darauf hin, daß der Schalungsbauer insgesamt qualifizierte Arbeiten verrichtet, wofür die durch die herkömmlichen Lehrberufe (Zimmerer, Betonbauer) vermittelte Ausbildung einerseits nicht genügt, andererseits in der Praxis entbehrlich ist.

Die Frage, ob der Kläger als Schalungsbauer vor dem Inkrafttreten der Bestimmungen über den Lehrberuf "Schalungsbauer" Berufsschutz erworben hat, kann mangels ausreichender Feststellungen über Art und Umfang der ausgeübten Tätigkeit nicht beantwortet werden. Daß der Kläger nie als Vorarbeiter oder Partieführer eingesetzt worden ist, ist für sich allein ebensowenig entscheidend wie der Umstand, daß er zu Tätigkeiten, die mit schwierigen Plänen im Zusammenhang standen, nicht herangezogen wurde. Der Zeuge Manfred K***** sagte dazu aus, es hänge von den jeweiligen Bedürfnissen an einer bestimmten Baustelle ab, wer als Vorarbeiter eingesetzt werde. Die Ausschnitte aus den Plänen, die für einen Schaler von Interessen waren, habe der Kläger mit Sicherheit lesen können (Protokoll ON 13). Daß der Kläger das Abdichten des Bauwerks mit Dichtschlämmen oder das Ausfüllen von Ausmaß- und Arbeitsbestätigungen nicht beherrschte, wäre nur dann von Bedeutung, wenn solche Kenntnisse von Schalungsbauern in der Praxis regelmäßig erwartet werden müssen. Um beurteilen zu können, ob der Kläger während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in einem angelernten Beruf iS des § 255 Abs 2 ASVG tätig war, ist in erster Linie zu klären, welcher Lehrberuf der Tätigkeit eines Schalungsbauers - vor Inkrafttreten der Bestimmungen über diesen Lehrberuf - am nächsten kam und welche Kenntnisse und Fähigkeiten von einem Arbeiter in dieser Variante üblicherweise verlangt wurden. Dem werden dann die gleichen oder gleichartigen und gleichwertigen - ebenfalls noch festzustellenden - Kenntnisse und Fähigkeiten gegenüberzustellen sein, die der Kläger in der während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausgeübten Berufstätigkeit anwendete. Ob die Klärung der Anforderungen, die an Schalungsbauer auch in früheren Jahren üblicherweise gestellt wurden, die Einholung eines berufskundlichen Sachverständigengutachtens erfordert, werden die Tatsacheninstanzen zu beurteilen haben. Daß der Kläger diese Tätigkeit nach dem nunmehrigen medizinischen Leistungskalkül nicht mehr ausüben kann, ergibt sich zwar nicht ausdrücklich aus den Entscheidungen der Vorinstanzen, dürfte aber angesichts der in diesem Beruf verlangten körperlichen schweren Arbeiten unbestriten sein. Überdies wird festzustellen sein, wie lange die Anlernzeit für die Tätigkeit des Klägers war.

Da es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war auch das Urteil des Erstgerichtes aufzuheben und die Sozialrechtssache an dieses zurückzuverweisen. Erst wenn genaue Feststellungen im oben aufgezeigten Sinn vorliegen, wird beurteilt werden können, ob der Kläger einen angelernten Beruf ausübte und daher Berufsschutz genießt.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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