OGH 10ObS95/91

OGH10ObS95/9130.4.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Pipin Henzl und Dr. Rudolf Oezelt (beide Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Leopoldine H*****, Pensionistin, ***** vertreten durch Dr. Otto Pichler, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei SOZIALVERSICHERUNGSANSTALT DER GEWERBLICHEN WIRTSCHAFT, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, vertreten durch Dr. Karl Leitner, Rechtsanwalt in Wien, wegen Hilflosenzuschusses, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 14.Dezember 1990, GZ 31 Rs 234/90-25, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 28. September 1990, GZ 17 Cgs 515/89-21, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger mündlicher Berufungsverhandlung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 22.10.1915 geborene Klägerin bezieht seit 1.12.1977 von der beklagten Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft eine Erwerbsunfähigkeitspension. Mit Bescheid vom 20.12.1988 wurde ihr Antrag auf Zuerkennung eines Hilflosenzuschusses gemäß § 74 GSVG abgelehnt.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin den Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß ab dem 14.9.1988 zu gewähren und eine vorläufige Zahlung von S 2.542,-- monatlich 14 x jährlich zu erbringen. Es ging zunächst vom medizinischen Leistungskalkül aus, wonach die Klägerin sich eine kleine Mahlzeit zubereiten und auch am Herd kochen kann. Eine oberflächliche Reinigung der Wohnung (Reinigung der Tischplatte, Aufkehren usw.) ist wie das Waschen der kleinen Leibwäsche und das Aufhängen der Wäsche möglich. Die Bedienung eines Kohleofens ist nicht möglich. Mehrmaliges Bücken, das Besteigen einer Leiter oder eines Stockerls sind nicht möglich. Die eingeschränkte Schulterbeweglichkeit erschwert alle Tätigkeiten in Kopfhöhe und darüber. Das Stiegensteigen, das Betreten der Straße und das Einkaufen vermag die Klägerin nur mit einer Begleitperson durchzuführen. Unter Heranziehung eines Sachverständigen für Haushaltskunde kam das Erstgericht zur weiteren Annahme, daß die Klägerin in ihrem konkreten Haushalt in den einzelnen Verrichtungsgruppen folgende monatliche Verrichtungen bewältigen müßte, um vor dem Verkommen bewahrt zu sein: 40,5 Stunden für Mahlzeitenzubereitung, 12,1 Stunden für Geschirreinigung, 8,8 Stunden für Küchenreinigung, 5,8 Stunden für Wäschereinigung, 2,5 Stunden für Wäscheinstandhaltung, 15 Stunden für Raumreinigung, 3,1 Stunden für Beheizung, 9,6 Stunden für Beschaffung (gemeint offenbar Einkaufen) und 4,1 Stunden für Haushaltsführung, insgesamt daher 101,5 Stunden. Bei der Ermittlung des Ausfalles an Verrichtungsvolumen infolge der medizinischen Einschränkungen und der Notwendigkeit, für den Ausfall Fremdhilfe in Anspruch zu nehmen, folgte das Erstgericht gleichfals dem haushaltskundlichen Gutachten und meinte, daß der Sachverständige durch seine detaillierte Kenntnis der Anforderungsprofile in der Lage gewesen sei, aus den (nur eine Auswahl von Verrichtungen behandelnden) medizinischen Sachverständigengutachten das Verrichtungsvolumen festzustellen. Demnach habe die Klägerin bei den einzelnen Verrichtungen folgenden Hilfsbedarf: 4,05 Stunden bei der Mahlzeitenzubereitung, 6,05 Stunden bei der Geschirreinigung, 5,28 Stunden bei der Küchenreinigung, 4,64 Stunden bei der Wäschereinigung, 2,5 Stunden bei der Wäscheinstandhaltung, 11,25 Stunden bei der Raumreinigung, 3,1 Stunden bei der Beheizung, 9,6 Stunden bei der Beschaffung, 1,025 Stunden bei der Haushaltsführung, insgesamt daher 47,495 Stunden. Ausgehend von einem Lohn von S 82,-- für eine Arbeitsstunde - ohne Sozialversicherungsbeitrag und ohne Steuerbelastung - errechnete das Erstgericht, auch darin dem Sachverständigen folgend, einen monatlichen Bedarf an Hilfskosten von S 3.894,59.

In rechtlicher Hinsicht erachtete das Erstgericht infolge des den monatlichen Hilflosenzuschuß übersteigenden Fremdhilfeaufwandes Hilflosigkeit der Klägerin iS des § 74 GSVG als gegeben.

Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung von der beklagten Partei erhobenen Berufung in nichtöffentlicher Sitzung statt und änderte das Ersturteil im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens ab. Zur Beurteilung des Fremdaufwandes bei immer wiederkehrenden einfachen Bedürfnissen des täglichen Lebens reiche eine richterliche und allgemeine Lebenserfahrung aus, es bedürfe daher keines förmlichen Beweisverfahrens oder einer detaillierten Auflistung. Selbst mit Übergehung eines von der Partei angebotenen Beweises, aber auch nach bereits erfolgter Einholung eines Sachverständigenbeweises könne die Ermittlung der Höhe des Anspruches nach § 273 Abs.1 ZPO erfolgen. Der haushaltskundliche Sachverständige habe seinem Gutachten unter Heranziehung der konkreten Haushaltsbeschreibung haushaltsarbeitswissenschaftliche statistische Datensätze zugrundegelegt, wie sie bei der Schätzung einer Hausfrauenrente herangezogen würden. Im Ergebnis stelle daher das Gutachten auch nur eine Schätzung des Arbeitsaufwandes im Haushalt dar, weil die genaue Höhe des Aufwandes gar nicht erwiesen werden könne. Zu einer solchen Schätzung habe das Erstgericht kein Gutachten benötigt, weil es hiezu im Rahmen des § 273 ZPO selbst in der Lage gewesen wäre. Das Gutachten sei daher überflüssig, so daß das Berufungsgericht im Rahmen des § 273 Abs.1 ZPO den Aufwand auf Grund des festgestellten medizinischen Leistungskalküls im Rahmen der Verfahrensergebnisse selbständig bestimmen könne, ohne an die Ergebnisse des Gutachtens "gebunden" zu sein. Es erübrige sich ein detailliertes Eingehen auf die Gutachtensbegründungen, weil das Gutachten "insgesamt untauglich" sei. Gehe man aber von den der Klägerin zumutbaren hauswirtschaftlichen Verrichtungen aus, dann könne die Klägerin eine kleine Mahlzeit zubereiten und am Herd kochen. Beim Fremdhilfeaufwand sei lediglich der Zeitaufwand für das Besorgen der Lebensmittel zu berücksichtigen. Selbst bei der Notwendigkeit einer zweimaligen gründlichen Wohnungsreinigung im Monat sowie der im konkreten Fall mit Hilfe der Waschmaschine zu besorgenden großen Wäsche, des Aufwandes für das Einkaufen und allenfalls die Spaziergänge der Klägerin, die mit den Besorgungen verbunden werden könnten, ergäben sich Kosten, die unter dem begehrten Hilflosenzuschuß lägen. Insgesamt sei nämlich ein durchschnittlicher Fremdhilfeaufwand von nur rund 30 Stunden im Monat anzunehmen. Da aus rechtlichen Gründen eine "Bindung" an das Sachverständigengutachten nicht gegeben sei, habe zu den in der Beweisrüge geführten Bedenken gegen die Schlüssigkeit des Gutachtens nicht mehr Stellung genommen werden müssen.

Die gegen dieses Urteil von der Klägerin erhobene Revision ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Wie der Oberste Gerichtshof schon in seiner Grundsatzentscheidung zum Hilflosenzuschuß ausgeführt hat (SSV-NF 1/46 = SZ 60/223), liegt ein Bedürfnis nach ständiger Wartung und Hilfe nur dann vor, wenn die für die notwendigen Dienstleistungen nach dem Lebenskreis des Rentners oder Pensionisten üblicherweise aufzuwendenden Kosten im Monatsdurchschnitt mindestens so hoch sind wie der begehrte Hilflosenzuschuß. Der Oberste Gerichtshof hat auch wiederholt ausgesprochen, daß dabei die üblicherweise aufzuwendenden Kosten nicht bis ins einzelne, sondern nur überschlagsmäßig (vgl. § 273 ZPO) festzustellen sind; zur Beurteilung, welchen Aufwand fremde Hilfe bei den immer wiederkehrenden einfachen Bedürfnissen des täglichen Lebens erfordert, reichen richterliche und allgemeine Lebenserfahrung aus, ohne daß es eines förmlichen Beweisverfahrens und einer detaillierten Auflistung bedürfte. Es genügt, wenn die richterlichen Erwägungen zur Ermittlung der ungefähren Kosten in nachvollziehbarer Weise dargelegt wurden. Ein Mangel des Berufungsverfahrens durch Anwendung des § 273 ZPO wurde daher stets verneint (vgl. SSV-NF 3/32 uva).

Der vorliegende Fall ist aber dadurch gekennzeichnet, daß das Erstgericht den Bedarf der Klägerin nach Hilfe bei hauswirtschaftlichen Verrichtungen nicht in analoger Anwendung des § 273 Abs.1 ZPO ermittelt, sondern ein förmliches Beweisverfahren darüber durchgeführt und insbesondere einen Sachverständigen aus der Haushaltskunde vernommen hat. In seinen Ausführungen zur Beweiswürdigung hat das Erstgericht dargelegt, daß bei der Ermittlung des Ausfalls an Verrichtungsvolumen das Kalkül der - ursprünglich nicht auf diese Frage zugeschnittenen - medizinischen Gutachten zugrunde zu legen sei, der haushaltskundliche Sachverständige aber durch seine detaillierte Kenntnis der Anforderungsprofile in der Lage gewesen sei, aus den nur eine Auswahl von Verrichtungen behandelnden medizinischen Gutachten das ausfallende Verrichtungsvolumen abzuleiten. Der haushaltskundliche Sachverständige habe auch die Widersprüche der medizinischen Gutachten an Hand detailliert ermittelter Anforderungsprofile gelöst und in einem Ergänzungsgutachten seine Überlegungen nachvollziehbar dargestellt.

Die beklagte Partei rügte in ihrer Berufung die erstgerichtlichen Feststellungen unter dem Berufungsgrund der unrichtigen Sachverhaltsfeststellung infolge unrichtiger Beweiswürdigung, aber auch unter dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, weil sie meinte, die für die notwendigen Dienstleistungen üblicherweise aufzuwendenden Kosten seien (unbedingt) iS des § 273 ZPO zu ermitteln. Diesem Argument schloß sich das Berufungsgericht im wesentlichen an; es erklärte das haushaltskundliche Gutachten für überflüssig und unbeachtlich und setzte den genannten Aufwand nunmehr unter Anwendung des § 273 Abs.1 ZPO abweichend vom Erstgericht fest. Gegen diese Anwendung des § 273 ZPO durch das Berufungsgericht beschwert sich die Revision zu Recht: Nur wenn der Beweis über den streitigen Betrag des zu ersetzenden Schadens oder Interesses oder der Forderung gar nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten zu erbringen ist, kann das Gericht selbst mit Übergehung eines von der Partei angebotenen Beweises den Betrag nach freier Überzeugung festsetzen. im vorliegenden Fall hatte das Erstgericht aber gerade zur Feststellung des Hilfsbedarfs ein Sachverständigengutachten eingeholt und auf Grund dieses Gutachtens festgestellt, daß die Klägerin den oben näher dargestellten Hilfsbedarf von rund 47,5 Stunden im Monatsdurchschnitt habe. Die Regel des § 273 Abs.1 ZPO darf zwar unter "Übergehung", also Unterlassung der Aufnahme eines Beweises, auch noch unter Nichtberücksichtigung bereits erhobener Beweise, nicht aber erstmals vom Berufungsgericht unter Abgehen von der Beweiswürdigung des Erstgerichtes ohne Beweiswiederholung angewendet werden. Wenn das Erstgericht auf Grund des Sachverständigengutachtens festzustellen können glaubte, welches Ausmaß der Bedarf der Klägerin an Hilfe erreicht, war für das Berufungsgericht ein Abgehen von diesen Feststellungen, die in der Berufung ausdrücklich bekämpft waren, ohne Beweiswiederholung und allein unter Berufung auf § 273 Abs.1 ZPO nicht statthaft. Nur wenn schon das Prozeßgericht diese Gesetzesstelle anwendet, ist das Ergebnis dieser Anwendung vom Rechtsmittelgericht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung überprüfbar (EvBl.1980/92 mit weiteren Hinweisen). Erachtet das Berufungsgericht die Voraussetzungen für die Anwendung des § 273 ZPO entgegen der Meinung des Erstgerichtes nicht für gegeben, dann muß es aufheben und die Sache an das Erstgericht zur Beweisaufnahme zurückverweisen, außer es beschließt gemäß § 496 Abs.3 ZPO in der Sache selbst neu zu verhandeln und zu entscheiden. Der umgekehrte Fall, daß die Nichtanwendung des § 273 ZPO gerügt werden kann, ist nur dann erfolgversprechend, wenn das Erstgericht infolge der Nichtanwendung dieser Gesetzesstelle ein abweisendes Urteil gefällt und dies mit der Beweislast des Klägers begründet hat (Fasching, Die richterliche Beitragsfestsetzung gemäß § 273 ZPO, JBl.1981, 225 (235)). Der erkennende Senat hat zwar wiederholt ausgesprochen, daß es den Tatsacheninstanzen nicht verwehrt ist, in freier Beweiswürdigung auch einem Sachverständigengutachten keinen Glauben zu schenken und von der Einholung eines weiteren Gutachtens Abstand zu nehmen, wenn die eigenen Fachkenntnisse - insbesondere im Senatsprozeß, der unter Beiziehung fachkundiger Laienrichter stattfindet - oder gar schon die allgemeine Lebenserfahrung zur Beurteilung ausreichen (SSV-NF 2/59, 3/14). Im gegenständlichen Fall hat sich aber das Berufungsgericht mit der erstgerichtlichen Beweiswürdigung und deren Bekämpfung in der Berufung gar nicht inhaltlich auseinandergesetzt, sondern das Gutachten aus rechtlichen Erwägungen als unbeachtlich angesehen. Das Berufungsurteil leidet daher an einem Mangel iS des § 503 Z 2 ZPO, der zur Aufhebung dieses Urteils und Zurückverweisung der Sozialrechtssache an das Berufungsgericht zur neuerlichen Entscheidung zwingt. Sollte das Berufungsgericht die im angefochtenen Urteil bereits anklingenden Bedenken gegen die Richtigkeit des haushaltskundlichen Gutachtens und damit gegen die Richtigkeit der erstgerichtlichen Beweiswürdigung haben, wird die Anberaumung einer mündlichen Berufungsverhandlung und die dort vorzunehmende Beweiswiederholung unumgänglich sein (Fasching ZPR2 Rz 1806 ff). Erst wenn das Berufungsgericht auf Grund der Beweiswiederholung zu dem Ergebnis kommen sollte, daß es die auf Grund des Sachverständigengutachtens getroffenen Feststellungen nicht übernehmen könnte, wäre es seinerseits zur Anwendung des § 273 ZPO berechtigt.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs.1 ZPO.

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