OGH 2Ob15/91

OGH2Ob15/9110.4.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch, Dr. Zehetner, Dr. Schwarz und Dr. Schinko als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Alexandra B*****, Lehrling, 1110 Wien, ***** vertreten durch Dr. Wolfgang Taussig, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagten Parteien 1.) ***** Versicherungs-AG, 1100 Wien, ***** und 2.) Helga C*****, 1020 Wien, ***** beide vertreten durch Dr. Manfred Melzer und Dr. Erich Kafka, Rechtsanwälte in Wien, wegen S 341.850,- sA und Feststellung infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 9. November 1990, GZ 13 R 155/90-32, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 31. Jänner 1990, GZ 31 Cg 726/87-24, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neue Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen. Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Am 2. 9. 1985 ereignete sich in der Erdbergstraße in Wien 3 etwa auf Höhe des Hauses Nr 70 bei Tageslicht und trockener Fahrbahn ein Verkehrsunfall, an dem die damals 14jährige Klägerin als Fußgängerin und die Zweitbeklagte als Lenkerin ihres bei der erstbeklagten Partei haftpflichtversicherten Mopeds Puch CS 50, pol.Kennzeichen W 33.640, beteiligt waren. Die Zweitbeklagte fuhr in Richtung Erdbergerlände; die Klägerin wollte die Fahrbahn von rechts nach links, gesehen in Fahrtrichtung der Zweitbeklagten, überqueren. Das gegen beide am Unfall Beteiligte eingeleitete Strafverfahren wurde gemäß § 90 StPO eingestellt.

Die Klägerin begehrte von den Beklagten zur ungeteilten Hand die Zahlung von S 341.850,- sA und beantragte weiters die Feststellung, daß ihr die Beklagten solidarisch für alle künftigen Schäden aus diesem Unfall hafteten, wobei die Haftung der Erstbeklagten auf die nach dem Haftpflichtversicherungsvertrag geltende Versicherungssumme begrenzt sei. Die Klägerin habe vorsichtig die Fahrbahn überqueren wollen. Sie sei dabei von dem Moped der Zweitbeklagten erfaßt und schwer verletzt worden. Die Zweitbeklagte treffe das alleinige Verschulden am Unfall, weil sie zu schnell gefahren sei, einen zu geringen Seitenabstand vom rechten Fahrbahnrand eingehalten und nicht rechtzeitig reagiert habe. Das grob verkehrswidrige Verhalten der Zweitbeklagten sei auf eine wesentliche Herabsetzung ihrer Fahrtüchtigkeit durch Alkoholkonsum zurückzuführen.

Die Beklagten beantragten die Abweisung des Klagebegehrens. Das Verschulden am Unfall treffe allein die Klägerin, die unvorsichtig und ohne auf den herannahenden Verkehr zu achten die Fahrbahn zu überqueren versucht habe und dabei knapp vor der Zweitbeklagten in deren Fahrspur getreten sei. Die Zweitbeklagte habe die Klägerin wegen der Sichtbehinderung durch die dortige Bauhütte nicht früher sehen können. Der Aufwand für die Reparatur des Mopeds von S 8.745,60 werde gegen die Klageforderung aufrechnungsweise eingewendet.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es

traf - zusammengefaßt dargestellt - folgende Feststellungen:

Die Erdbergstraße ist auf Höhe des Hauses Nr. 70, also zwischen der Kreuzung mit der Apostelgasse und der Löwenherzgasse, 10,3 m breit; da die Fahrbahn beiderseitig verparkt ist, ergibt sich eine Durchfahrtsbreite von ca. 6,3 m. Im Zeitpunkt des Unfalls befand sich vor dem genannten Haus auf der Fahrbahn eine Bauhütte, welche über die linke Flanke der am rechten Fahrbahnrand abgestellten Fahrzeuge etwa 20 cm in die Fahrbahn hineinragte. Die Klägerin trat vom Gehsteig zwischen der genannten Bauhütte und einem vor derselben abgestellten Ford Kombi mit dem Kennzeichen W 308.702 auf die Fahrbahn, um diese zu überqueren. Sie blieb zunächst neben der Hütte stehen und blickte nach links und dann nach rechts, ohne sich nähernde Fahrzeuge wahrzunehmen. Sie erkannte den auf dem gegenüberliegenden Gehsteig in Richtung Apostelgasse gehenden Erich W*****, der ihr zunickte. Sie nickte zurück und schritt weiter nach vor. Als sie einen neuerlichen Blick nach links über die Kante der Bauhütte hinweg richtete, erkannte sie "etwas Rotes", nämlich das sich nähernde Fahrzeug der Zweitbeklagten. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt die gedachte Verlängerung der linken Flanke der Bauhütte bereits überschritten, wurde vom Moped erfaßt und zu Boden geschleudert.

Die Zweitbeklagte lenkte ihr Moped durch die Erdbergstraße in Richtung Erdbergerlände. Sie hielt bei einer Fahrgeschwindigkeit von ca. 30-34 km/h einen Abstand von "unter 1 m" zu den rechts parkenden Fahrzeugen ein. Da sie ihre Fahrlinie beibehielt, verringerte sich dieser Abstand im Bereich der vorragenden Bauhütte auf etwa einen halben Meter. Als sie sich mit ihrem Fahrzeug auf Höhe der Bauhütte befand, trat plötzlich die Klägerin von rechts kommend in dessen Fahrlinie. Sie war für die Zweitbeklagte vor der Kollision lediglich während des Bruchteils einer Sekunde (0,5 bis 0,7 Sekunden) sichtbar. Die Zweitbeklagte kollidierte reaktionslos mit der Klägerin und kam ihrerseits zu Sturz. Die Zweitbeklagte hatte vor Antritt der Fahrt zwei Krügel Bier konsumiert und das dritte nicht völlig ausgetrunken; ihr Alkotest verlief positiv; ihr wurde vom Amtsarzt die Weiterfahrt verwehrt.

Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, daß der Zweitbeklagten weder eine überhöhte Geschwindigkeit noch eine verspätete Reaktion anzulasten sei. Auch ein Verstoß gegen § 7 Abs 1 StVO könne ihr nicht vorgeworfen werden, weil der Seitenabstand nach rechts von unter einem Meter für ein langsam fahrendes einspuriges Fahrzeug zu billigen sei und auch der Seitenabstand von einem halben Meter auf Höhe der Bauhütte gegen keine gesetzliche Bestimmung verstoße. Der Umstand, daß die Zweitbeklagte im Unfallszeitpunkt alkoholisiert gewesen sei, ändere nichts daran, daß der Unfall für sie im Sinne des § 9 Abs 2 EKHG unabwendbar war.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes mit der Einschränkung, daß es offenließ, ob die Geschwindigkeit der Klägerin auch eine solche von 40 km/h gewesen sein konnte. Die Zweitbeklagte treffe kein Verschulden am Unfall. Auch eine (Mit-)Haftung nach dem EKHG komme nicht in Betracht, weil ihr gemäß § 9 Abs 2 EKHG der Nachweis gelungen sei, jede erdenkliche Sorgfalt angewendet zu haben, um erst gar nicht in eine Situation zu kommen, aus der eine Gefahr entstehen kann. Die Klägerin sei am Unfall allein schuld, weil sie entgegen § 76 StVO die Fahrbahn überraschend betreten habe, ohne sich zu vergewissern, daß dies gefahrlos möglich sei. Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil die Entscheidung auf der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes fuße.

Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin. Sie beantragt, diese zuzulassen, zieht die Anfechtungsgründe des § 503 Z 3 und 4 ZPO heran und begehrt die Abänderung des angefochtenen Urteils dahin, daß das Klagebegehren abgewiesen werde; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagten beantragen in der Revisionsbeantwortung, deren Erstattung ihnen anheimgestellt worden war, die Revision zurückzuweisen oder ihr nicht Folge zu geben.

Die außerordentliche Revision ist zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Im Vordergrund des hier zu beurteilenden Sachverhaltes steht die Frage, ob die Zweitbeklagte - wie die Vorinstanzen

vermeinen - tatsächlich jede nach den Umständen des Falles erforderliche Sorgfalt angewendet hat, um den Unfall zu vermeiden. Unter Sorgfalt im Sinn des § 9 Abs 2 EKHG ist nicht die gewöhnliche Verkehrssorgfalt, sondern die äußerste nach den Umständen des Falles mögliche Sorgfalt zu verstehen (ZVR 1984/332 uza). Sie hat nicht erst in der Gefahrenlage einzusetzen, sondern verlangt, daß von vornherein vermieden wird, in eine Lage zu kommen, aus der Gefahr entstehen kann (ZVR 1986/19 uza). Diese Grundsätze ständiger Judikatur werden zwar von den Vorinstanzen erkannt, jedoch nicht in ihrer vollen Konsequenz angewendet:

Gewiß ist es richtig, daß die Frage, welcher Abstand beim Vorbeifahren an einem stehenden Kraftfahrzeug udgl einzuhalten ist, in weitgehendem Maß von der im Einzelfall bestehenden Verkehrslage abhängt (vgl etwa ZVR 1982/304); der Oberste Gerichtshof hat aber schon mehrfach darauf hingewiesen, daß beengten Sichtverhältnissen Rechnung zu tragen und insbesondere zu berücksichtigen ist, daß es einem Fußgänger gestattet sein muß, durch Hervortreten zwischen parkenden Fahrzeugen oder anderen am Fahrbahnrand abgestellten Objekten, wie es die Bauhütte in der Erdbergstraße war, gefahrlos die Verkehrslage überblicken zu können (vgl etwa ZVR 1989/121; ZVR 1988/123; ZVR 1982/313 ua).

Im vorliegenden Fall fuhr die Zweitbeklagte jedoch so knapp bei der die Sicht auf den Zwischenraum zum nächsten parkenden Fahrzeug verstellenden Bauhütte vorbei, daß sie die Klägerin sogleich und reaktionslos erfaßte, als diese hinter derselben hervortrat. Im Gegensatz zur Auffassung der Vorinstanzen hat die Zweitbeklagte, die überdies alkoholisiert war, damit keine der Sinngebung des § 9 Abs.2 EKHG entsprechende besondere vorsorgliche Fahrweise eingehalten, sondern vielmehr unter Verstoß gegen diese Bestimmung in Kauf genommen, daß sie auf das Fehlverhalten des anderen Verkehrsteilnehmers - der Klägerin - nicht mehr rechtzeitig und ausreichend, ja sogar überhaupt nicht mehr reagieren konnte.

Gemäß § 7 Abs 1 EKHG ist das Mitverschulden der Klägerin unter Anwendung der Vorschrift des § 1304 ABGB zu berücksichtigen (ZVR 1982/313 uza). Da dieses beträchtlich überwiegt und zu berücksichtigen ist, daß die Beklagten wegen Nichterbringung des Entlastungsbeweises nach § 9 Abs 2 EKHG nur für die Betriebsgefahr des Mopeds der Zweitbeklagten einzustehen haben, wärend die Klägerin die für einen Fußgänger geltenden fundamentalen Grundsätze der StVO (siehe hiezu die zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichtes) schuldhaft übertrat, ist eine Schadensteilung von 2 : 1 zugunsten der Beklagten vorzunehmen.

Die Vorinstanzen haben sich mit der Höhe des Schadens der Klägerin aufgrund der vom Obersten Gerichtshof nicht gebilligten Auffassung ihrer alleinigen Haftung für die Unfallsfolgen bisher nicht ausreichend auseinandergesetzt; sie sind auch auf die Aufrechnungseinrede der Beklagten nicht eingegangen. Ihre Urteile waren daher aufzuheben. Dem Erstgericht war eine neue Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.

Der Kostenausspruch beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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