OGH 1Ob548/91

OGH1Ob548/9110.4.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Hofmann, Dr. Schlosser, Dr. Graf und Dr. Schiemer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1.) Ing. Harald H*****, 2.) Helga T*****, 3.) Ingeborg R*****, alle vertreten durch Dr. Josef Olischar, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Therese P*****, vertreten durch Dr. Helmut Winkler und Dr. Otto Reich-Rohrwig, Rechtsanwälte in Wien, wegen Aufkündigung, infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgerichtes vom 29. August 1990, GZ 41 R 363/90-27, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Donaustadt vom 4. Dezember 1989, GZ 6 C 1508/87t-23, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Aufkündigung vom 30. Juni 1987 als rechtsunwirksam aufgehoben und das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, den klagenden Parteien die Wohnung top Nr. 35 im Haus Wien 2., ***** geräumt zu übergeben, abgewiesen wird.

Die klagenden Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der beklagten Partei die mit S 24.144,78 (einschließlich S 2.927,90 Umsatzsteuer und S 2.234,-- Barauslagen) bestimmten Kosten des gesamten Verfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 8. Mai 1909 geborene Beklagte ist Hauptmieterin der von den Klägern aufgekündigten Wohnung top Nr. 35 im Haus Wien 2.*****. Sie ist gehbehindert, jedoch noch sehr rüstig. Seit mehreren Jahren pflegte sie ihre etwa gleichaltrige, schwer kranke, in Wien 8., ***** wohnhafte Schwester Josefine S*****. Außerdem betreute und pflegte sie seit vielen Jahren die am 4. Juli 1907 geborene, einige Häuser von ihrer Mietwohnung entfernt wohnende Sidonie S*****, die nach schwierigen Frakturen gehbehindert ist und auch ihre Arme nur eingeschränkt gebrauchen kann. Seit sich deren Gesundheitszustand ab 1985/1986 derart verschlechterte, daß sie nahezu ständiger Betreuung bedarf, wohnt die Beklagte bei Sidonie S*****, deren Haushalt sie besorgt. In die aufgekündigte Wohnung kommt die Beklagte seither nur selten. An ihrer Wohnungstür brachte sie einen Zettel mit der Aufschrift "Bin bei Frau S*****,***** Telefon *****" an. Außer der aufgekündigten Wohnung hat die Beklagte in Wien keine andere Wohnung. Eine konkrete Absicht der Beklagten, in absehbarer Zeit wieder ganz in die aufgekündigte Wohnung zurückzukehren, war nicht feststellbar.

Die Kläger stützen die Aufkündigung zum 30. Juni 1987 nur mehr auf den Kündigungsgrund des § 30 Abs 2 Z 6 MRG, weil die Beklagte die aufgekündigte Wohnung nicht regelmäßig zu Wohnzwecken verwende, sondern sich bei Sidonie S***** aufhalte und in absehbarer Zeit auch nicht mehr in die Mietwohnung zurückkehren wolle.

Die Beklagte bestritt das Vorliegen des geltend gemachten Kündigungsgrundes, beantragte die Aufhebung der Aufkündigung und wandte, soweit im Revisionsverfahren noch von Bedeutung, ein, sie benütze die aufgekündigte Wohnung zur Befriedigung eines dringenden Wohnbedürfnisses, halte sich jedoch nur wegen der Pflege ihrer Schwester Josefine S***** und der Sidonie S***** häufig in deren Wohnungen auf. Sie verfüge über keine andere Wohnmöglichkeit, so daß ein schutzwürdiges Interesse an der Aufrechterhaltung des Mietverhältnisses bestehe.

Nachdem das Erstgericht im ersten Rechtsgang die Aufkündigung für unwirksam erklärt, das Berufungsgericht jedoch diese Entscheidung - unter Verneinung eines schutzwürdigen Interesses der Beklagten an der aufgekündigten Wohnung - zur Klärung des (nunmehr nicht mehr relevanten) Verschweigungseinwandes der Beklagten aufgehoben hatte, erklärte das Erstgericht im zweiten Rechtsgang mit dem Hinweis auf die Bindung an die Rechtsansicht des Aufhebungsbeschlusses die Aufkündigung für rechtswirksam und verpflichtete die Beklagte zur Räumung der Wohnung.

Das Gericht zweiter Instanz bestätigte das Ersturteil und erklärte die ordentliche Revision für nicht zulässig. Benütze ein Mieter die Wohnung nicht (regelmäßig) zu Wohnzwecken, könne er die auf § 30 Abs 2 Z 6 MRG gestützte Aufkündigung nur durch den Nachweis abwehren, daß er trotz Nichtbenützung der Wohnung wegen der konkret absehbaren Rückkehr ein schutzbedürftiges Interesse am Fortbestand des Mietverhältnisses habe und sein Wohnbedürfnis überdies auch nicht anderweitig befriedigen könne. Auf ungewisse, in der Zukunft liegende Möglichkeiten eines solchen Bedarfs sei nicht Bedacht zu nehmen. Im vorliegenden Fall habe eine konkrete Absicht der Beklagten, in absehbarer Zeit in die Mietwohnung zurückzukehren, nicht festgestellt werden können, so daß der Kündigungsgrund gegeben sei.

Die gegen die Entscheidung der zweiten Instanz erhobene außerordentliche Revision der Beklagten ist zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 30 Abs 2 Z 6 MRG liegt ein Kündigungsgrund vor, wenn die vermietete Wohnung nicht zur Befriedigung des dringenden Wohnbedürfnisses des Mieters.......regelmäßig verwendet wird, es sei denn, daß der Mieter zu Kur- oder Unterrichtszwecken oder aus beruflichen Gründen abwesend ist. Nach Lehre und Rechtsprechung ist ein dringendes Wohnbedürfnis ("schutzwürdiges Interesse") des Mieters anzunehmen, wenn sein Wohnbedürfnis nicht anderweitig angemessen befriedigt wird oder wenn dies in naher Zukunft mit Sicherheit zu erwarten ist (Würth in Rummel II Rz 33 zu § 30 MRG mwH). Das Vorliegen dieses schutzwürdigen Interesses trotz fehlender regelmäßiger Benützung der Wohnung zu Wohnzwecken hat der Mieter nachzuweisen (Würth aaO Rz 31; MietSlg. 31.428).

Den Vorinstanzen kann nicht beigepflichtet werden, daß die Beklagte ihr durch Pflegedienste derzeit nur latentes Wohnbedürfnis an der aufgekündigten Wohnung und damit ihr schutzwürdiges Interesse am Fortbestand des Mietverhältnisses schon durch die nicht ständige oder überwiegende Benützung der Mietwohnung zu Wohnzwecken verlieren sollte, nur weil die (Absicht zur) Rückkehr nach Beendigung dieser Pflegetätigkeiten zeitlich nicht fixiert werden kann. Im Verfahren ist nicht strittig, daß die Beklagte über keine andere, rechtlich gleichwertige, gesicherte Wohnmöglichkeit in Wien verfügt. Sie ist daher bei Wegfall der Pflegedienste sofort auf die aufgekündigte Wohnung angewiesen. Es darf der Beklagten aber nicht auch noch zum Nachteil gereichen, wenn sie in hohem Alter trotz eigener Gehbehinderung die aufopferungsvolle Tätigkeit der Pflege und Betreuung alter und gebrechlicher Personen auf sich nimmt und deshalb überwiegend nicht in der aufgekündigten Mietwohnung, sondern bei den Pflegepersonen wohnt. Diese Tätigkeit kann aus Gründen auf Seiten der betreuten Personen oder auch der Beklagten selbst jederzeit ihr Ende finden, so daß die Beklagte über eine Wohnmöglichkeit in Form der aufgekündigten Wohnung verfügen können muß. Bei dieser Fallgestaltung ist aber im Sinne der von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu § 30 Abs 2 Z 6 MRG bzw § 19 Abs 2 Z 13 MietG entwickelten Grundsätze ein schutzwürdiges Interesse der Beklagten an der Aufrechterhaltung des Mietverhältnisses zu bejahen (MietSlg 33.383; 31.427; 31.421; 31.422 uva). die von Würth (aaO Rz 33) gegen die letztgenannte Entscheidung geäußerten Bedenken, daß diese Entscheidung sehr kasuistisch nur auf das Fehlen einer anderen Wohnung abstelle, können vom erkennenden Senat jedenfalls bei der vorliegenden Fallgestaltung nicht geteilt werden.

In Stattgebung der außerordentlichen Revision der Beklagten ist daher die Aufkündigung aufzuheben und das Räumungsbegehren abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41 bzw. 50, 41 ZPO.

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