OGH 13Os10/91 (13Os11/91)

OGH13Os10/91 (13Os11/91)20.3.1991

Der Oberste Gerichtshof hat am 20.März 1991 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kießwetter als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Felzmann, Dr. Kuch, Dr. Massauer und Dr. Markel als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Hofer als Schriftführer in der Strafsache gegen Otto S***** und einen anderen Angeklagten wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1 StGB über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Urteile des Bezirksgerichtes Grein vom 12. März 1990, GZ U 62/89-15, und des Landesgerichtes Linz vom 20. September 1990, AZ 37 Bl 167/90, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, des Generalanwaltes Dr. Stöger, und des Verteidigers Dr. Stefan Holter, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In der Strafsache gegen Otto S***** und Kämil A***** wegen des § 88 Abs. 1 StGB, AZ U 62/89 des Bezirksgerichtes Grein, verletzen das Urteil des Bezirksgerichtes Grein vom 12.März 1990, GZ U 62/89-15, soweit es den Angeklagten Otto S***** betrifft, und jenes des Landesgerichtes Linz als Berufungsgericht vom 20. September 1990, AZ 37 Bl 167/90, das Gesetz in den Bestimmungen des § 88 Abs. 1 StGB und des § 3 StPO. Das Urteil des Bezirksgerichtes Grein, das im übrigen (im Freispruch des Kämil A*****) unberührt bleibt, wird in seinem Otto S***** betreffenden Teil aufgehoben; ebenso werden das Urteil des Landesgerichtes Linz als Berufungsgericht und alle darauf beruhenden Beschlüsse und Verfügungen aufgehoben, und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung im Umfang der Aufhebung an das Bezirksgericht Linz-Land verwiesen.

Text

Gründe:

Aus dem Akt U 62/89 des Bezirksgerichtes Grein ergibt sich folgender Sachverhalt:

Am 27.Juli 1989 gegen 10.10 Uhr ereignete sich auf der Bundesstraße 119 a im Gemeindegebiet St. Georgen am Walde bei der Kreuzung mit dem Güterweg Ebenedt ein Verkehrsunfall. Als Otto S***** mit dem LKW St 242.059 nach links in den Güterweg einbiegen wollte, wurde sein Fahrzeug von einem nachfolgenden LKW (pol. KZ O 366.141), der von Kämil A***** gelenkt wurde, im Zuge eines Überholmanövers gestreift. Hiedurch kam der LKW des Kämil A***** von der Fahrbahn ab und stieß gegen einen Hochspannungsmast, der abgerissen wurde und auf das Führerhaus fiel. In der Folge erlitt Kämil A***** Verbrennungen ersten und zweiten Grades an einem Finger und Verbrennungen dritten und vierten Grades an der linken Hand sowie Abschürfungen und eine Verstauchung der Halswirbelsäule, welche eine Gesundheitsschädigung und Berufsunfähigkeit von mehr als dreitägiger Dauer zur Folge hatten, dadurch, daß er, nachdem er und sein Beifahrer Hüderverdi K***** das Fahrzeug bereits verlassen hatten, beim Versuch, aus dem LKW, der zu brennen begann, die Fahrzeugpapiere herauszuholen, durch Berührung der unter Spannung stehenden Fahrzeugtüre in den Stromkreis geriet und zu Boden geschleudert wurde.

Der Bezirksanwalt beim Bezirksgericht Grein stellte gegen beide unfallsbeteiligten Lenker den Antrag auf Bestrafung wegen Vergehens nach dem § 88 Abs. 1 StGB. Nach Durchführung einer Hauptverhandlung wurde mit dem Urteil des Bezirksgerichtes Grein vom 12.März 1990, GZ U 62/89-15, Otto S***** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1 StGB schuldig erkannt und zu einer bedingt nachgesehenen Geldstrafe verurteilt. Kämil A***** hingegen wurde von dem gegen ihn erhobenen Strafantrag gemäß dem § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Nach Überzeugung des Gerichtes hatte Otto S***** zwar, nachdem er ca. 150 m vor der Güterwegkreuzung zum rechten Fahrbahnrand gefahren war, um eine Bäuerin nach dem Weg zu fragen, bei Fortsetzung seiner Fahrt zunächst den linken Blinker betätigt, dann aber nach Ausschaltung auf Grund der automatischen Blinkerrückstellung diesen kein zweites Mal eingeschaltet. Der Erstrichter folgte hiebei den Angaben von Kämil A***** und Hüderverdi K***** und lastete demgemäß Otto S***** einen Verstoß gegen die Bestimmungen der §§ 11, 12 StVO an, wobei ein Verschulden des Kämil A***** an dem Unfallsgeschehen verneint wurde. Die bei Kämil A***** festgestellten Verletzungen seien - so meinte der Erstrichter - als Folgewirkungen des Unfalls von Otto S***** zu vertreten.

Während der Freispruch des Kämil A***** in Rechtskraft erwuchs, focht Otto S***** das Urteil mit Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe sowie wegen des Ausspruches über die privatrechtlichen Ansprüche an. Ein in der Berufungsausführung gestellter und in der Berufungsverhandlung wiederholter Beweisantrag auf zeugenschaftliche Vernehmung von Mitarbeitern des in unmittelbarer Nähe der Unfallstelle befindlichen Sägewerks, die Kämil A***** ausdrücklich und lautstark aufgefordert haben sollen, sich nicht zum Fahrzeug zu begeben, sowie auf ergänzende Vernehmung des Hüderverdi K*****, daß er und Kämil A***** sich nach dem Verkehrsunfall bereits in etwa 100 m Entfernung in Sicherheit gebracht hätten und ihnen klar gewesen sei, daß der LKW unter Strom stehe und zu brennen beginne, wurde vom Berufungsgericht abgewiesen.

Mit Urteil des Landesgerichtes Linz als Berufungsgericht vom 20. September 1990, AZ 37 Bl 167/90, wurde in teilweiser Stattgebung der Berufung des Angeklagten Otto S***** lediglich die bedingt nachgesehene Geldstrafe unter Bedachtnahme auf eine Vorverurteilung gemäß den §§ 31, 40 StGB herabgesetzt, im übrigen jedoch den Rechtsmittelanträgen nicht Folge gegeben. Das Berufungsgericht übernahm die Feststellung des Erstgerichtes, daß Otto S***** den Blinker unmittelbar vor der Kreuzung nicht betätigt hat, und bejahte demnach gleichfalls dessen Verschulden. Zu der entscheidenden Frage des Risikozusammenhanges vertrat es die Ansicht, dieser sei nicht auszuschließen, wenn - wie hier - ein unter dem Schock des Unfalls Stehender versucht, wichtige Dokumente aus dem Fahrzeug zu retten, dabei nicht oder nicht genügend bemerkt, daß das Fahrzeug unter Strom stehen könnte, und sich um allfällige Warnungen nicht kümmert. Zu einer Vernehmung der vom Berufungswerber beantragten Zeugen sah sich das Berufungsgericht zum einen aus rechtlichen Gründen, zum anderen deshalb nicht veranlaßt, weil die Zeugen nicht mit Namen und Anschrift genannt worden seien und Hüderverdi K***** schon in erster Instanz zum angegebenen Beweisthema hätte befragt werden können.

Die Entscheidungen des Bezirksgerichtes Grein und des Landesgerichtes Linz als Berufungsgericht stehen mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Rechtliche Beurteilung

Wie das Berufungsgericht an sich richtig erkannte, sind im Sinne

der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, 9 Os 47,48/86 =

EvBl. 1987/142 = RZ 1987/71, einem Täter, welcher einen mit

keinerlei unmittelbaren Verletzungsfolgen verbundenen Verkehrsunfall verschuldet, Verletzungen, die infolge eines nachträglichen Fehlverhaltens eines vom Unfall Betroffenen eintreten, nur dann mangels Risikozusammenhanges nicht zuzurechnen, wenn einer der Genannten ein Folgeverhalten an den Tag gelegt hat, das - über eine auffallende Sorglosigkeit hinaus - für jeden vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Betroffenen unter den gegebenen Umständen schlechthin unbegreiflich ist und wenn ohne dieses Verhalten des Opfers die Tatfolge mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre; nur unter diesen Voraussetzungen erlangt das nachträgliche Verhalten für den letztlich eingetretenen Erfolg ein derart dominantes Gewicht, daß der erforderliche normative Zusammenhang zwischen dem Primärverhalten des Täters und dem Erfolg nicht mehr besteht.

Demnach mag zutreffen, daß ein Täter sich nicht auf einen Ausschluß des Risikozusammenhanges berufen kann, wenn eine unter dem unmittelbaren Schock eines Unfalls stehende Person versucht, aus einem in Brand geratenden Fahrzeug ihre Kraftfahrzeugpapiere zu bergen, ohne dabei das damit verbundene Risiko zu bedenken und warnende Zurufe zu beachten. Anders liegt aber der Fall, wenn jemand ein solches Fehlverhalten setzt, obwohl er sich voll bewußt ist, daß das Fahrzeug, aus dem er Urkunden retten will, unter Stromspannung steht und, nachdem er dieses bereits verlassen und sich eine nicht unbeachtliche Wegstrecke vom Unfallsort entfernt hat, erst nach einer gewissen Zeitspanne zu diesem Zweck dorthin zurückkehrt. So gesehen war es sehr wohl von Bedeutung, ob Kämil A***** auf Grund von Mitteilungen seines Beifahrers, der sich beim Aussteigen aus dem Fahrzeug elektrisiert hatte (S 30), und auf Grund von Warnungen durch Mitarbeiter eines in unmittelbarer Nähe der Unfallstelle befindlichen Sägewerks, sich nicht mehr zu seinem Fahrzeug zu begeben, weil dieses unter Strom stehe (S 26), positive Kenntnis von der mit einer Berührung von leitenden Teilen des LKWs verbundenen Lebensgefahr hatte und sich so der möglichen Folgen seiner Handlungsweise bewußt war. Unter diesen besonderen Umständen wäre nämlich sein nachträgliches Fehlverhalten nicht bloß als grob fahrlässig, sondern als für jeden vernünftig denkenden Menschen schlechthin unbegreiflich zu bezeichnen.

Aus diesem Grund hätte das Berufungsgericht die Anträge des Berufungswerbers auf Durchführung von Beweisen, welche für die Erfolgszurechnung und demgemäß auch für die Frage von entscheidender Bedeutung waren, ob Otto S***** den Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1 StGB, dessen Verwirklichung den Eintritt einer Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung voraussetzt, angelastet werden kann, nicht ablehnen dürfen und die näheren Umstände des zu seiner Verletzung führenden Fehlverhaltens des Kämil A***** klarstellen müssen. Die Abstandnahme von diesen Beweisaufnahmen verkürzte Verteidigungsrechte, widersprach der Verpflichtung des Berufungsgerichtes zur Erforschung der materiellen Wahrheit und verletzte sohin das Gesetz in der Bestimmung des § 3 StPO (10 Os 118/80).

Zudem war es verfehlt, die Abweisung des Beweisantrages auch damit zu begründen, daß vom Berufungswerber Name und Anschrift der zu vernehmenden Personen nicht bekanntgegeben wurden und eine ergänzende Befragung des Hüderverdi K***** zum angegebenen Beweisthema schon in erster Instanz möglich gewesen wäre (S 128, 129). Voraussetzung eines prozeßordnungsgemäßen Beweisantrages ist die deutliche und bestimmte Bezeichnung des Beweismittels und des Beweisthemas (§ 222 Abs. 1 StPO, Mayerhofer-Rieder, StPO3, ENr. 27 zu § 246). Einen solchen Antrag darf das Gericht nur ablehnen, wenn das Beweisthema schon erwiesen oder unerheblich oder wenn die Beweisaufnahme unzulässig, unmöglich oder zweifelsfrei ungeeignet ist, das Beweisthema zu erhärten (Platzgummer, Grundzüge des österreichischen Strafverfahrens3, 17 f; Bertel, Grundriß des österreichischen Strafprozeßrechts3, Rz 524 ff). Sonach ist es unstatthaft, einen Zeugenbeweis deshalb nicht zuzulassen, weil Namen und Anschrift des (oder der) Zeugen erst ermittelt werden müssen, sofern nur vom Antragsteller konkrete Hinweise gegeben werden, die eine Ausforschung mit Grund erwarten lassen. Ebenso bleibt es (vom Fall beabsichtigter Verfahrensverschleppung abgesehen) einem Berufungswerber mangels Bestehens eines Neuerungsverbotes im Verfahren über Berufungen gegen ein Urteil eines Bezirksgerichtes unbenommen, die ergänzende Vernehmung eines bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen zu für die Entscheidung über das Rechtsmittel relevanten neuen Beweisumständen zu begehren. Auch in dieser rechtsirrigen Begründung für die Ablehnung der Beweisanträge durch das Berufungsgericht ist daher ein Verstoß gegen die Verpflichtung des Berufungsgerichtes zur Wahrheitserforschung gelegen.

Indem sich das Erstgericht mit der in der Hauptverhandlung verlesenen Aussage des Otto S***** vor dem Gendarmerieposten St. Georgen am Walde (S 26 iVm S 72) nicht auseinandersetzte, nach der mehrere Personen, die auf einem nahe der Unfallstelle befindlichen Holzlagerplatz arbeiteten, Kämil A***** und Hüderverdi K***** zuriefen, sie sollen nicht mehr zum LKW gehen, ist es gleichfalls der Verpflichtung zur Klarstellung der näheren Umstände, die zur Verletzung des Kämil A***** führten, nicht nachgekommen. Auch hierin liegt ein Verstoß gegen den § 3 StPO.

Da sich die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Verurteilten Otto S***** auswirkten, war in bezug auf den Genannten die Verfahrenserneuerung anzuordnen (§ 292 StPO). Das Bezirksgericht Grein ist nur mit einem Richter besetzt. Bei Bedachtnahme auf den § 68 Abs. 2 StPO war die Sache daher an das Bezirksgericht Linz-Land zu verweisen.

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