OGH 14Os3/91

OGH14Os3/9112.3.1991

Der Oberste Gerichtshof hat am 12.März 1991 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kral als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Lachner, Hon.Prof. Dr. Brustbauer, Dr. Massauer und Dr. Markel als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Winge als Schriftführer, in der Strafsache gegen Andrea K***** und Nandor V***** wegen des Verbrechens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs. 1 und Abs. 3 zweiter Fall StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten Nandor V***** gegen das Urteil des Kreisgerichtes Wiener Neustadt als Schöffengericht vom 9. Oktober 1990, GZ 12 b Vr 45/90-118, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Kodek, und der Verteidigerin Dr. Schmid, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

Gemäß § 390 a StPO fallen dem Angeklagten die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Der Angeklagte Nandor V***** wurde - ebenso wie die Mitangeklagte Andrea K***** (sen.) - des Verbrechens des Quälens eines Unmündigen (vollständige Deliktsbenennung laut Marginalrubrik:

"Quälen oder Vernachlässigen unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen") nach § 92 Abs. 1 und Abs. 3 zweiter Fall StGB schuldig erkannt.

Darnach hat er in der Zeit vom 19.November 1989 bis 11. Jänner 1990 in Baden im einverständlichen Zusammenwirken mit Andrea K***** (sen.) in mehreren Angriffen einem anderen, der seiner Obhut unterstand und der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, nämlich der am 31.Mai 1985 geborenen Andrea K***** (jun.), durch mehrfache Mißhandlungen körperliche und seelische Qualen zugefügt, wobei die Tat den Tod des Kindes zur Folge hatte.

Während Andrea K***** sen. das Urteil in Rechtskraft erwachsen ließ, bekämpft es der Angeklagte Nandor V***** mit Nichtigkeitsbeschwerde aus den Gründen der Z 4, 5, 5 a und 10 des § 281 Abs. 1 StPO.

Nach den wesentlichen Urteilsfeststellungen haben der Angeklagte und dessen Lebensgefährtin Andrea K***** sen. im Deliktszeitraum die bei ihnen in der gemeinsamen Flüchtlingsunterkunft wohnhafte Tochter der Genannten, die damals 4 1/2-jährige Andrea K***** (jun.), teils in Anwesenheit des jeweils anderen, teils auch allein, aber jedenfalls im einverständlichen Zusammenwirken (US 5) und mit dem Vorsatz, sie zu mißhandeln und zu quälen (US 7), wiederholt mit der Hand insbesondere auf den Kopf geschlagen, ihr Verbrennungen zugefügt und auch mit geformten Werkzeugen (Riemen, Stöcken) Schläge versetzt, was beim Tatopfer zunächst zum Teil schwere Verletzungen (mindestens ein Schädel-Hirntrauma lt. US 6, 7 iVm S 314, 316/II), nach einer letzten Mißhandlung am 11.Jänner 1990 aber (auf Grund einer weiteren Schädel-Hirnverletzung) dessen Tod zur Folge hatte (US 7, 9, 12).

Als Verfahrenmangel (Z 4) macht der Beschwerdeführer geltend, daß sein Antrag (S 318/II) auf Ladung (und zeugenschaftliche Vernehmung) seiner beiden Söhne Nandor V***** jun. und Laszlo V***** - die zur Hauptverhandlung nicht erschienen waren, weil (was sich allerdings erst nachträglich herausstellte) ihnen die Ladungen an der angegebenen Anschrift in Budapest nicht zugestellt werden konnten und ihr derzeitiger Aufenthalt den ungarischen Rechtshilfebehörden unbekannt ist (S 363/II) - zum Beweis dafür, daß "die Verletzungen am Kind von der Erstangeklagten (Andrea K***** sen.) zugefügt wurden", abgewiesen worden ist (S 318/319/II; US 12/13).

Dadurch wurden indes Verteidigungsrechte des Angeklagten aus mehreren Gründen nicht beeinträchtigt.

Für den Deliktszeitraum vor dem 11.Jänner 1990 hat das Erstgericht in seinem Zwischenerkenntnis mit Recht darauf hingewiesen, daß die beiden Söhne des Angeklagten zumindest während ihres Schulbesuches gar keine sachdienlichen Wahrnehmungen hätten machen können. Dies gilt aber gleichermaßen auch für den Großteil ihrer Freizeit, weil nicht anzunehmen ist, daß sich die beiden Halbwüchsigen (13 und 14 Jahre alt) während derselben immer in der beengten Unterkunft aufgehalten haben. Es stand daher von vornherein fest, daß die als Zeugen beantragten Söhne des Angeklagten im Sinne des angeführten Beweisthemas dessen Täterschaft bezogen auf die Zeit vor dem 11.Jänner 1990 keinesfalls hätten ausschließen können. Dazu kommt, daß der Angeklagte in allen Verfahrensstadien immer angegeben hat, er selbst habe niemals beobachtet, daß seine Lebensgefährtin ihre Tochter mißhandelt und dabei verletzt hätte (zB S 193, 199, 203/I; 217 verso, 217 b verso/I; 300/II). Wenn das Kind Verletzungen aufgewiesen habe, so könne er eine Urheberschaft seiner Lebensgefährtin nur vermuten (S 217 a/I; 304/II). Angesichts dieser Einlassungen hätte der Angeklagte aber im Beweisantrag begründen müssen, warum seine Söhne mehr gesehen haben sollten als er, zumal diese vor der Polizei ihrerseits die Verletzungen des Mädchens nicht erklären konnten und jedenfalls Mißhandlungen seitens irgendeines Familienmitgliedes kategorisch verneinten (S 103, 105, 107/I).

Rechtliche Beurteilung

Was aber die Geschehnisse am Morgen des 11.Jänner 1990 anlangt, so trifft es zwar zu, daß Nandor V***** jun. und Laszlo V***** damals in der Wohnung anwesend waren. Entgegen seiner Behauptung im Beweisantrag ging aber die Darstellung des Angeklagten immer dahin, daß sich das Kind ohne Fremdeinwirkung plötzlich nach hinten geworfen habe und vom Sessel gefallen sei (S 199/I, 305/II). Seine Söhne schilderten vor der Polizei den Vorfall in ähnlicher Weise (S 101, 107/I). Keiner behauptete also, daß das Mädchen unmittelbar vor seinem Tod von seiner Mutter mißhandelt und deshalb zu Boden gestürzt wäre. Bei dieser Sachlage hätte aber im Beweisantrag auch dargetan werden müssen, aus welchen Gründen von den Zeugen eine Darstellung zu erwarten sei, die der eigenen Verantwortung des Beschwerdeführers und zudem den früheren Bekundungen der beantragten Zeugen selbst widerspricht. Ohne eine solche Erläuterung des Antrages fehlte es dem Erstgericht aber an den zur Überprüfbarkeit der Berechtigung des Beweisanbotes erforderlichen Grundlagen, weshalb es von einer Vernehmung der beiden Söhne des Angeklagten sanktionslos Abstand nehmen durfte. In Wahrheit lief der Beweisantrag - insbesondere auch unter dem Aspekt einer Überprüfung der Glaubwürdigkeit der Mitangeklagten Andrea K***** sen. - auf einen unzulässigen Erkundungsbeweis (Mayerhofer-Rieder StPO3 E 88 ff zu § 281 Z 4) hinaus, von dem sich zudem nachträglich herausgestellt hat, daß er für das Gericht gar nicht erreichbar ist (aaO E 104).

Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt demnach nicht vor.

Aber auch formelle Begründungsmängel sind dem Erstgericht nicht unterlaufen.

Nach dem in der Hauptverhandlung mündlich erstatteten Gutachten des gerichtsärztlichen Sachverständigen Dr. MISSLIWETZ, der die bereits schriftlich vorliegenden Expertisen (ON 82 und 86) erläuterte und nach den Verfahrensergebnissen ergänzte, war ein - von Andrea K***** dem Angeklagten angelasteter (S 283/II) - Schlag am 11.Jänner 1990 mit anschließendem Sturz zu Boden "der letzte Stein", der zum Tode des Kindes führte (S 314, 315/II), wobei auch eine ältere Hirnblutung mitkausal war (S 316/II). Gestützt auf dieses Gutachten (US 12) und die als glaubwürdig beurteilte (US 10) Darstellung der Mitangeklagten konnte aber das Schöffengericht - der Beschwerde (Z 5) zuwider - mit Recht davon ausgehen, daß Mißhandlungen durch den Beschwerdeführer am 11.Jänner 1990 letzte Ursache für den Tod des Kindes waren (US 7, 9, 12). Daß in den schriftlichen Gutachten die für die Todesfolge maßgeblichen gewaltsamen Einwirkungen zeitlich nicht auf den Tag genau präzisiert wurden, tut dem keinen Abbruch, weil dabei die Ergebnisse der Hauptverhandlung naturgemäß noch nicht berücksichtigt werden konnten.

Damit, daß das Verhältnis des Angeklagten zum Tatopfer selbst nach Darstellung der ihn sonst belastenden Andrea K***** sen. anfangs noch gut gewesen, weshalb nach Meinung des Beschwerdeführers bezüglich der "Erstverletzungen" seine Täterschaft "absolut auszuschließen" sei, mußte sich das Erstgericht im Urteil nicht auseinandersetzen, denn eine bestimmte Mindestdauer jenes Zeitraumes, über den sich die einzelnen Tathandlungen erstrecken, wird im Gesetz nicht gefordert, sodaß die Frage nach einem allenfalls späteren Einsetzen der Quälereien durch den Angeklagten keinen entscheidenden Tatumstand betrifft.

Daß die Tatrichter - und das wird in der Beschwerde gar nicht in Frage gestellt - davon ausgegangen sind, daß der Angeklagte es war, der das Kind am Morgen des 11.Jänner 1990 mißhandelt hat und daß diese Mißhandlung letztlich für den Eintritt des Todes (mit-)ursächlich gewesen ist, wurde bereits erwähnt. Gegen die Richtigkeit dieser Annahme bestehen ebensowenig erhebliche Bedenken (Z 5 a), wie in Ansehung der übrigen dem Ausspruch über die Schuld des Beschwerdeführers zugrunde gelegten entscheidenden Tatsachen.

Der - der Sache nach auch schon im Rahmen der Mängelrüge erhobene - Einwand (Z 10), mangels Feststellung einer bestimmten von ihm begangenen tödlichen Mißhandlung sei ihm die Todesfolge nicht zuzurechnen, geht daher an sich schon ins Leere. Vor allem übersieht der Beschwerdeführer aber, daß nach den Urteilsannahmen beide Angeklagten im einverständlichen Zusammenwirken handelten, er für die Todesfolge also selbst dann haftete, wenn feststellbar gewesen wäre, daß Andrea K***** sen. am 11.Jänner 1990 das Kind mißhandelt hätte. Für die Zurechnung dieses qualifizierten Erfolges war daher keineswegs der Nachweis der Kausalität zwischen einem von ihm unmittelbar ausgeführten Einzelakt und dieser Folge Voraussetzung, es genügte vielmehr der nicht ernstlich in Zweifel zu ziehende Kausalzusammenhang zwischen der Gesamtheit der vom gemeinsamen Vorsatz getragenen Quälereien mit dem eingetretenen Tod des Kindes, sofern dieser dem Angeklagten im Sinne des § 7 Abs. 2 StGB als wenigstens fahrlässig herbeigeführt zuzurechnen ist. Dabei kommt es nach herrschender Lehre und Rechtsprechung praktisch ausschließlich auf die Vorhersehbarkeit der Folge an, die aber bei der Art der Mißhandlungen, insbesondere bei den durch die beiden ausgedehnten Schädelhirntraumata nachgewiesenen Schlägen auf den Kopf für jeden durchschnittlich begabten Menschen gegeben war.

Gleichermaßen zu Unrecht bestreitet der Angeklagte mit seinen (zum Teil ebenfalls schon in der Mängelrüge enthaltenen) weiteren Ausführungen zur Subsumtionsrüge (Z 10) das Bestehen einer Obhutsverpflichtung gegenüber dem Kind, deren Annahme vom Erstgericht auf keinerlei konkrete Tatsachenfeststellungen gestützt worden sei.

Der Obhutsbegriff des § 92 StGB verlangt ein faktisches Schutz- oder Betreuungsverhältnis zwischen Täter und Opfer, wobei letzteres zumindest vorübergehend - wovon das Schöffengericht ausgeht - der Beaufsichtigung, Betreuung und Überwachung durch den Täter unterliegt, den infolge der besonderen konkreten tatsächlichen oder rechtlichen Umstände eine Beistands- und Beaufsichtigungspflicht gegenüber dem Schutzbefohlenen trifft. Diese Obhutspflicht ist von der allenfalls einen anderen (primär) treffenden Fürsorgepflicht (hier: der Kindesmutter) unabhängig (SSt. 48/29). Im vorliegenden Fall kann unter Berücksichtigung auch der außerordentlich beengten Wohnverhältnisse, die ein ständiges Zusammensein zwischen Kind und Lebensgefährten der Mutter mit sich brachten, kein Zweifel daran bestehen, daß dieses im gesamten Tatzeitraum (neben der Fürsorge seiner Mutter) auch der Obhut des Beschwerdeführers unterstand, dem gegenüber diesem Kind auch die Autorität der erwachsenen Bezugsperson zukam. Mit dem Begriff der "Obhut" des § 92 StGB wird in gleicher Weise wie dem der "Aufsicht" des § 212 StGB eine Beziehung erfaßt, die nicht auf einer bestimmten Rechtsgrundlage beruht, sondern faktischen Lebensverhältnissen entspricht, die nach heute allgemein herrschender Auffassung auch eine sittliche Verpflichtung begründen können (vgl. Mayerhofer-Rieder StGB3 E 9, 11, 13, 14, 33 zu § 212). Dem trägt übrigens § 72 Abs. 2 StGB Rechnung, wonach Kinder und Enkel eines Lebensgefährten wie Angehörige des anderen behandelt werden. Auch dieses Angehörigenverhältnis macht die Verpflichtung des einen Lebensgefährten zur Obhut gegenüber einem im gemeinsamen Haushalt lebenden Kinde des anderen deutlich.

Dem Ersturteil haftet somit keiner der geltend gemachten Rechtsirrtümer an.

Die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Nandor V***** war daher zu verwerfen.

Das Schöffengericht verhängte über den Angeklagten nach dem zweiten Strafsatz des § 92 Abs. 3 StGB fünf Jahre Freiheitsstrafe, wobei es weder besondere Erschwerungsgründe noch besondere Milderungsgründe als gegeben ansah. Dagegen richtet sich die Berufung des Angeklagten, mit der er eine schuldangemessene Herabsetzung des Strafausmaßes anstrebt.

Auch dieses Begehren ist unbegründet, denn in Wahrheit beschränkt sich der Berufungswerber in Wiederholung seiner Ausführungen zur Nichtigkeitsbeschwerde darauf, eine Obhutsverpflichtung gegenüber dem Kind sowie das Zufügen körperlicher, letztlich tödlicher Qualen, somit die Tat als solche zu bestreiten, was im Rahmen einer Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe unzulässig ist. Irgendwelche Umstände, die geeignet wären, sein schuldspruchmäßig festgestelltes Verhalten in einem milderen Lichte erscheinen zu lassen, werden nicht aufgezeigt. Die ablehnende Haltung des viereinhalbjährigen Mädchens ihm gegenüber vermag keinen Milderungsgrund abzugeben. Aus den Akten ergibt sich vielmehr als Erschwerungsgrund, daß der Angeklagte im Zusammenwirken mit seiner Mittäterin über das tatbestandsmäßige Maß hinaus in besonders grausamer Weise gehandelt und insbesondere an den Quälereien, die letztlich die Todesfolge auslösten, führend beteiligt war (§ 33 Z 4 und 6 StGB). Die vom Schöffensenat mit der Hälfte der gesetzlichen Höchststrafe ausgemessene Freiheitsstrafe entspricht der unrechtsbezogenen Schuld (§ 32 StGB) des Angeklagten und ist keinesfalls überhöht.

Demnach war auch der Berufung ein Erfolg zu versagen.

Auf den von der Verteidigung "zur Berücksichtigung im Rechtsmittelverfahren" vorgelegten schriftlichen Beweisantrag vom 6. März 1991, auf den auch im Gerichtstag Bezug genommen wurde, war nicht einzugehen (Mayerhofer-Rieder StPO3 E 15 a ff zu § 281).

Der Ausspruch über die Kostenersatzpflicht ist in der bezogenen Gesetzesstelle begründet.

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