OGH 2Ob66/91

OGH2Ob66/9115.1.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Melber, Dr. Kropfitsch, Dr. Zehetner und Dr. Schinko als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Elisabeth B*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Ölz, Rechtsanwalt in Dornbirn, wider die beklagten Parteien 1.) Firma T***** AG, *****

2.) ***** VERSICHERUNG*****, beide vertreten durch Dr. Paul F. Renn, Rechtsanwalt in Dornbirn, wegen S 101.060,-- s.A. infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 16. Oktober 1991, GZ 3 R 239/91-12, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 15. Juli 1991, GZ 4 Cg 231/91-7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der Klägerin die mit S 4.783,68 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten Umsatzsteuer von S 797,28, keine Barauslagen) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 3. 9. 1990 ereignete sich um ca. 9,20 Uhr im Ortsgebiet von F***** auf der R*****straße ***** im Bereich der Kreuzung mit dem A*****weg ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin mit ihrem Fahrrad und der von Hans Peter K***** gelenkte, von der Erstbeklagten gehaltene LKW-Zug mit dem Kennzeichen ***** beteiligt waren. Die von der Klägerin bei diesem Unfall erlittenen Verletzungen rechtfertigen ein Schmerzengeld von S 70.000, die Reparaturkosten am Fahrrad betrugen S 760,--, die Klägerin hatte weitere Unkosten in der Höhe von 300 S. Die Passivlegitimation der Zweitbeklagten als Haftpflichtversicherer ist unstrittig.

Der A*****weg mündet - in der Fahrtrichtung des von der Erstbeklagten gehaltenen LKWs gesehen - von rechts trichterförmig in die bevorrangte R*****straße ein. Die R*****straße ist beidseitig durch Gehsteige begrenzt und weist durch Sperrlinien abgetrennte Radfahrstreifen auf. Im Bereich der Einmündung ist der Radfahrstreifen unterbrochen. Sowohl vor als auch nach der Einmündung des A*****weges ist jeweils vor dem Beginn bzw. dem Ende des Einmündungstrichters ein Streifen einer Leitlinie angebracht. Sowohl vor diesem einen Streifen als auch nach dem anderen befindet sich die Sperrlinie des Radfahrstreifens. Der A*****weg ist gegenüber der R*****straße durch das Vorrangzeichen "Vorrang geben" abgewertet. Im Bereich der Unfallsstelle verläuft die R*****straße in Annäherung an die Kreuzung in einer langgezogenen Rechtskurve; es besteht eine Sichtmöglichkeit auf zumindest 100 m. Die R*****straße ist durch eine Leitlinie in zwei Fahrbahnhälften geteilt. Aus der Sicht eines Radfahrers, der das Fahrrad an der Einmündungslinie des A*****weges anhält, besteht auf den von links kommenden Verkehr eine Sichtmöglichkeit auf ca. 70 m. Der zwischen den Sperrlinien des Radfahrstreifens befindliche Teil der R*****straße ist 7,2 m breit, jede Fahrbahnhälfte sohin 3,1 m. Bewegt sich ein 2,5 m breites Fahrzeug entlang der Leitlinie, so beträgt der Seitenabstand zum Radfahrstreifen ca. 60 cm. Der Radfahrstreifen selbst ist 1 m breit.

Hans Peter K***** fuhr mit dem 18 m langen und 2,5 m breiten LKW-Zug auf der R*****straße in Richtung B***** mit einer Geschwindigkeit von ca. 48 km/h. Die Klägerin fuhr mit ihrem Fahrrad auf dem A*****weg zur R*****straße und beabsichtigte, in diese nach rechts einzubiegen.

In der Folge kam es zu einer streifenden Kollision zwischen der linken Lenkstange bzw. dem linken Arm der Klägerin und der rechten hinteren Seite des Anhängers auf Höhe des hintersten rechten Rades. Es bestand eine Winkelstellung zwischen der Längsachse des LKW-Zuges und der Fahrradlängsachse. Nicht feststellbar ist, wo sich die Kollisionsstelle in bezug auf die Straßenlängsachse und in bezug auf die Fahrbahnbreite befand. Es ist möglich, daß die Klägerin zum Zeitpunkt der Kollision bereits ca. 3 m nach dem Ende des Einmündungstrichters war und sich zur Gänze auf dem Radfahrstreifen befand. Es ist aber auch möglich, daß sie im Kollisionsmoment noch ca. 5 m vor dem Ende des Einmündungstrichters fuhr und sich die Kollisionsstelle außerhalb der gedachten Verlängerung der Sperrlinie des Radfahrstreifens befand. Auch die genaue Fahrlinie des LKW-Zuges ist nicht feststellbar. Es steht nicht fest, ob der Lastzug bereits bei Annäherung an die Einmündung des A*****weges teilweise auf dem Radfahrstreifen fuhr oder ob er im Zuge der Annäherung nach rechts gegen den Radfahrstreifen hin gelangte. Jedenfalls war die Annäherung der Klägerin für Hans Peter K***** noch vor dem Passieren des Fahrrades erkennbar.

Geht man von der Darstellung der Klägerin aus, so fuhr sie zu einem Zeitpunkt in die R*****straße ein, als der LKW-Zug mit der Vorderfront noch ca. 5 m links von ihr entfernt war. Ca. eine Sekunde vor der späteren Kollision fuhr sie ca. auf Höhe der Zugmaschine und war noch nicht parallel zum Fahrbahnrand. In dieser Position war die Radfahrerin zum Teil bereits auf dem Radfahrstreifen im Bereich der Sperrlinie.

Die Klägerin begehrte die Zahlung eines Schmerzengeldes von S 100.000, den Ersatz der Reparaturkosten ihres Fahrrades von S 760 und den Ersatz weiterer Unkosten von S 300. Sie brachte vor, bei Annäherung an die R*****straße den LKW-Zug wahrgenommen zu haben, zu diesem Zeitpunkt sei dieser ordnungsgemäß auf der rechten Fahrbahnhälfte gefahren. Deshalb sei sie rechts abbiegend auf den Radfahrstreifen der R*****straße eingebogen. Erst als sie bereits mehrere Meter auf diesem Radfahrstreifen gefahren sei, sei sie vom LKW-Zug erfaßt und niedergestoßen worden.

Die Beklagten bestritten und wendeten ein, die Klägerin treffe das Alleinverschulden am Unfall, da sie, ohne den Vorrang des LKW-Zugs zu beachten, in die R*****straße eingebogen sei.

Ausgehend von den eingangs wiedergegebenen Feststellungen verurteilte das Erstgericht die beklagten Parteien zur Zahlung von S 71.060, ein Schmerzengeldmehrbegehren von S 30.000 wurde abgewiesen.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Ansicht, den Beklagten sei der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs.2 EKHG nicht gelungen. Ausgehend von der für die Klägerin günstigsten Annahme sei diese ca. 3 m nach dem Ende des Einmündungstrichters zur Gänze auf dem Radfahrstreifen gefahren und vom LKW-Zug gestreift worden. Dieser habe zu einem Teil die Sperrlinie überfahren und damit den Radfahrstreifen befahren. In diesem - möglichen - Fall hätte Hans Peter K***** gegen § 8 Abs.4 StVO sowie gegen das Rechtsfahrgebot und die Vorschrift zur Einhaltung eines genügenden Seitenabstandes verstoßen. Ein Vorrangverstoß der Klägerin sei hingegen nicht mit Sicherheit feststellbar; es sei möglich, daß der LKW-Zug erst auf Höhe der Kreuzung nach rechts geraten sei. Im Sinne der Gefährdungshaftung nach dem EKHG hätten die Beklagten für die Schäden der Klägerin aufzukommen. Eine Schadensteilung habe nicht zu erfolgen, da den Beklagten der Beweis eines Mitverschuldens der Klägerin nicht gelungen sei.

Dem gegen den klagsstattgebenden Teil dieser Entscheidung erhobenen Rechtsmittel der Beklagten gab das Berufungsgericht nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und führte zur Rechtsfrage aus, daß sich zwar der Vorrang grundsätzlich auf die gesamte Breite der bevorrangten Straße bzw. Fahrbahn erstrecke. Zu dieser bevorrangten Fahrbahn zähle aber nicht der durch eine Sperrlinie von der Fahrbahn abgetrennte Radfahrstreifen im Sinne des § 2 Abs.1 Z 7 StVO, dessen Befahrung durch Kraftfahrzeuge gemäß § 8 Abs.4 StVO verboten sei. Ausgehend von der für die Klägerin günstigsten Version habe sich diese im Moment der Kollision zur Gänze auf dem Radfahrstreifen befunden und habe der LKW-Zug teilweise die Sperrlinie überfahren und damit den Radfahrstreifen befahren. Hätten der LKW-Zug ausschließlich den für ihn bestimmten Fahrbahnteil und auch die Klägerin nur den Radfahrstreifen benützt, wäre eine Vorrangsituation gar nicht vorgelegen. Von einer solchen könne nämlich nur dann gesprochen werden, wenn zwei Fahrzeuge aus verschiedenen Straßen aufeinander so zukommen, daß bei Nichtbeachtung des Vorranges durch den Wartepflichtigen im Kreuzungsbereich Kollisionsgefahr besteht. Bei Nichtbefahren des Radfahrstreifens durch den LKW-Zug hätte nach der für die Klägerin günstigsten Version keine Berührung zwischen den Fahrlinien der Unfallsfahrzeuge stattgefunden. In diesem Falle hätte der Zeuge K***** den Unfall durch den Verstoß gegen § 8 Abs.4 StVO allein verschuldet, die Klägerin hätte auch in einem Zug auf den Radfahrstreifen einbiegen dürfen. Mangels Erbringung des Entlastungsbeweises im Sinne des § 9 Abs.2 EKHG hätten die Beklagten daher nach den Bestimmungen des EKHG zu haften. Den Beweis für ein Mitverschulden der Klägerin im Sinne des § 7 Abs.1 EKHG seien die Beklagten schuldig geblieben.

Die ordentliche Revision wurde zugelassen, weil zur Frage, ob sich der Vorrang eines Kraftfahrzeuges auch auf einen durch Sperrlinie von der Fahrbahn abgetrennten Radfahrstreifen im Sinne des § 2 Abs.1 Z 7 StVO erstreckt, eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes fehle.

Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Parteien wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Klagebegehren kostenpflichtig abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die klagende Partei beantragte, das Rechtsmittel der Beklagten zurückzuweisen, in eventu, ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Die Beklagten machen in ihrem Rechtsmittel geltend, die Vorrangsregelung des § 19 StvO beziehe sich auf die gesamte Fahrbahn, wozu auch der Radfahrstreifen gehöre; sie gelte für alle Fahrzeuge im Sinne des § 2 Abs.1 Z 19 StVO, sohin auch für Fahrräder. Auch ein verkehrswidriges Verhalten des Berechtigten nehme diesem nicht den Vorrang. Auch wenn daher der Lenker des Lastwagenzuges zu nahe an den Radfahrstreifen herangefahren oder diesen mitbenützt haben sollte, so habe er den Vorrang dennoch nicht verwirkt. Dies gelte für den Zeitraum, in welchem sich der LKW-Zug der Kreuzung näherte, diese passierte und sich die Klägerin noch im benachrangten A*****weg oder im Bereich des Einmündungstrichters befand. Bei sorgfältiger Beobachtung des Querverkehrs hätte die Klägerin erkennen können, daß der LKW-Zug entweder in einem bedenklichen Nahbereich zum Radfahrstreifen fährt und (oder), daß sie mit dem Fahrrad nicht mehr den Bereich des durch die Sperrlinie abgetrennten Radfahrstreifens erreicht, bevor der LKW-Zug an der Radfahrerin zur Gänze vorbeigezogen ist.

Dem ist folgendes entgegenzuhalten:

Zunächst ist, wie die Vorinstanzen bereits zutreffend ausgeführt haben, bei der Beurteilung der Haftung nach dem EKHG, davon auszugehen, daß jede nicht aufklärbare Ungewißheit über wesentliche Einzelheiten des Unfalles zu Lasten des Halters geht (ZVR 1983/306; ZVR 1984/22 uva). Demnach ist für die rechtliche Beurteilung davon auszugehen, daß der LKW-Zug im Kollisionsmoment teilweise auf dem Fahrradstreifen fuhr und der Zeuge K***** den LKW so weit rechts lenkte, obwohl die Annäherung der Klägerin für ihn noch vor dem Überholen der Radfahrerin erkennbar gewesen wäre.

Es besteht kein Zweifel daran, daß der von der Erstbeklagten gehaltene LKW gemäß § 19 Abs.4 StVO aufgrund des Vorschriftszeichens "Vorrang geben" den Vorrang hatte. Nach ständiger Rechtsprechung bezieht sich der Vorrang auf die gesamte Fahrbahn der bevorrangten Straße (ZVR 1977/53; ZVR 1984/36; ZVR 1990/155 uva). Eine konkrete Vorrangsituation liegt aber nur dann vor, wenn zwei Fahrzeuge aus verschiedenen Straßen aufeinander so zukommen, daß eine Überschneidung ihrer Fahrlinien bei Fortsetzung der Fahrt eintritt und bei Nichtbeachtung des Vorranges durch den Wartepflichtigen im Kreuzungsbereich Kollisionsgefahr besteht (ZVR 1979/157; ZVR 1982/166). Zum Kreuzungsbereich gehört auch dessen Beginn und dessen Ende; er erfaßt die gesamte innerhalb des Mündungstrichters liegende Fläche (ZVR 1990/155). Der Vorrang geht auch durch vorschriftswidriges Verhalten des im Vorrang befindlichen Verkehrsteilnehmers nicht verloren (ZVR 1984/36; ZVR 1990/155 ua). Im vorliegenden Fall war aber, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, eine konkrete Vorrangsituation nicht gegeben, da die Klägerin - unter Annahme der für sie günstigsten Möglichkeit - sich im Moment der Kollision bereits außerhalb des Kreuzungsbereiches zur Gänze auf dem Radfahrstreifen befand und der LKW-Zug teilweise die Sperrlinie überfuhr und damit den Radfahrstreifen befuhr. Der Lenker des von der Erstbeklagten gehaltenen LKW hat somit gegen die Bestimmung des § 8 Abs.4 StVO verstoßen, ohne daß der Klägerin eine Verletzung des Vorranges dieses Fahrzeuges angelastet werden könnte. Auch wenn zum Zeitpunkte des Einfahrens in die Kreuzung durch die Klägerin der von der Erstbeklagten gehaltene LKW bereits näher als 1 m (Breite des Radfahrstreifens) an den rechten Fahrbahnrand gekommen sein sollte, so durfte die Klägerin gemäß § 3 StVO doch darauf vertrauen, daß er beim neuerlichen Beginn des Radfahrstreifens diesen nicht benützen werde.

Es ist sohin - entgegen der in der Revision vertretenen Ansicht - auch unbeachtlich, ob die Klägerin in einem Zuge in die bevorrangte R*****straße eingefahren ist. Insoweit in der Revision in diesem Zusammenhang auf die Behandlung der Beweisrüge durch das Berufungsgericht eingegangen wird, ist den Beklagten entgegenzuhalten, daß Fragen der Beweiswürdigung nicht vor den Obersten Gerichtshof gebracht werden können (§ 503 ZPO).

Der unberechtigten Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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