OGH 15Os64/90-9

OGH15Os64/90-97.8.1990

Der Oberste Gerichtshof hat am 7.August 1990 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bernardini als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Walenta, Dr. Reisenleitner, Hon.Prof. Dr. Brustbauer und Dr. Rzeszut als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Mende als Schriftführer, in der Strafsache gegen Karin P*** wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Angeklagten sowie über die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 21.Dezember 1989, GZ 4 d Vr 5392/87-95, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Jerabek, der Angeklagten Karin P*** und des Verteidigers Dr. Duma zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird verworfen. Der Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und gemäß § 288 Abs. 2 Z 3 StPO in der Sache selbst erkannt:

Karin P*** wird von der Anklage, sie habe in der Nacht zum 15.Mai 1987 in Wien dadurch, daß sie Nabil Abd el R*** mit einem Messer viermal in die Brust stach, sich in einer allgemein begreiflichen heftigen Gemütsbewegung dazu hinreißen lassen, diesen zu töten und sie habe hiedurch das Verbrechen des Totschlages nach § 76 StGB begangen, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Mit ihrer Berufung wird Karin P*** auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde die am 26.Februar 1962 geborene Karin P*** in Erledigung der gegen sie wegen des Verbrechens des Totschlages nach § 76 StGB erhobenen Anklage des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB schuldig erkannt, weil sie in der Nacht zum 15.Mai 1987 in Wien in Überschreitung des gerechten Maßes der Verteidigung gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff auf ihre körperliche Integrität Nabil Abd el R*** aus Furcht vier Messerstiche in die Brust versetzt und hiedurch fahrlässig dessen Tod herbeigeführt hatte. Nach den maßgeblichen Urteilsfeststellungen kam es am späten Nachmittag des 14.Mai 1987 zwischen Karin P*** und ihrem ägyptischen Lebensgefährten Nabil Abd el R*** in der gemeinsamen Wohnung anläßlich einer über die Modalitäten der ins Auge gefaßten Eheschließung geführten Unterredung zu einem heftigen Streit, der dazu führte, daß die Angeklagte in der Folge jeden Kontakt mit ihrem Lebensgefährten unterließ und nach dem Konsum von drei Tabletten des Schlafmittels Rohypnol zu Bett ging. Nachdem R*** nach 20.30 Uhr im Nebenraum des Schlafzimmers ein Fastenessen nach islamischem Ritus zu sich genommen hatte, wurde er nach 22.30 Uhr von einem ihm bekannten Türken telefonisch davon in Kenntnis gesetzt, daß seine Lebensgefährtin zu einem anderen Mann geschlechtliche Beziehungen unterhalte. Über Aufforderung des Anrufers begab sich R***, der zur Eifersucht neigte und aus diesem Grunde schon wiederholt gegen seine Lebensgefährtin tätlich geworden war, zu einem türkischen Lokal, wo ihm ein Begleiter des Anrufers tatsächlich intime Beziehungen zu Karin P*** eingestand. Nach der Rückkehr in die Wohnung riß R***, der zuvor noch gegen Mitternacht mit einer Freundin seiner Lebensgefährtin über dieses Thema gesprochen und keine ihn befriedigende Auskunft erhalten hatte, seine ihm körperlich weit unterlegene Lebensgefährtin aus dem Schlaf und stieß sie in eine Zimmerecke, wodurch sie Hämatome an der Stirn und am linken Oberschenkel erlitt. Nachdem R*** die Angeklagte sodann ins nächste Zimmer gezerrt hatte, würgte er sie und drückte ihre Brust so fest gegen seine Brust, daß Karin P*** "nicht mehr Atem holen konnte" und Rippenbrüche befürchtete. "Außer sich vor Angst" schlug die Frau mit den Armen wild um sich und versuchte zu schreien, doch versagte ihr die Stimme. Als R*** "immer brutaler zupackte", ergriff die Angeklagte, die in ihrem Angstzustand befürchtete, "durch R*** erdrückt zu werden" und keine andere Möglichkeit ihrer Befreiung sah, ein im Nahbereich liegendes Küchenmesser und stach auf den Angreifer ein. R***, der sich gegen die unvorhergesehene Messerattacke nicht wehrte, fixierte hierauf die Angeklagte mit den Augen und sprach sie "auf besonders haßerfüllte Weise" mit dem Wort "Schatzi" an, wobei er sich - was das Erstgericht nicht ausschließen konnte - in Todesangst an sie anklammerte. Die Angeklagte fühlte sich hiedurch in ihrem Schockzustand "extrem angegriffen" und fügte dem R*** aus "purer Angst" vor einem entsprechenden Racheakt einen weiteren Messerstich zu. Drei der insgesamt vier gegen R*** geführten Stiche reichten bis zum Herz und hatten binnen kürzester Zeit den Tod durch Verbluten zufolge (Urteil S 11 ff, 16). Das Erstgericht beurteilte diesen Sachverhalt als eine auf asthenischem Affekt (Furcht) beruhende Notwehrüberschreitung. Es nahm zwar eine Notwehrsituation als gegeben an, lastete der Angeklagten jedoch im Hinblick darauf, daß sie "das Nachlassen der Intensität des Angriffes in Reaktion auf ihre (erste) Gegenwehr wahrgenommen und Einzelheiten wie den stechenden Blick des Verwundeten und dessen haßerfüllte Anrede registriert hatte", das Unterlassen einer - bei entsprechender Aufmerksamkeit erkennbarer Weise ebenfalls zielführenden - "dosierteren" Verteidigungsreaktion als strafrechtlich relevanten Sorgfaltsverstoß an (Urteil S 18 f). Dieser Schuldspruch wird von der Anklagebehörde und der Angeklagten mit Nichtigkeitsbeschwerden, welche widerstreitende Zielsetzungen aufweisen, bekämpft. Die Staatsanwaltschaft strebt eine anklagekonforme Verurteilung, zumindest aber einen Schuldspruch nach § 81 Z 1 StGB an, die Angeklagte begehrt ihren Freispruch.

Rechtliche Beurteilung

Mit ihrer Mängelrüge (§ 281 Abs. 1 Z 5 StPO), die sich gegen die der Annahme einer Notwehrsituation zugrundeliegenden Urteilsfeststellungen richtet, ist die Staatsanwaltschaft nicht im Recht.

Dem Beschwerdevorbringen zuwider läßt sich zunächst schon die in Frage gestellte Urteilsannahme, daß die Angeklagte das zur Tatausführung verwendete Messer von dem im Nebenraum des Schlafzimmers befindlichen Tisch ergriffen hat, sehr wohl mit der der Wiedergabe des Tatgeschehens vorangestellten, an sich unmaßgeblichen Urteilsannahme vereinbaren, daß dieser Tisch nach Beendigung des oben erwähnten Nachtmahls "zur Gänze abgeräumt wurde": Schon im Hinblick auf den (mehrstündigen) Zeitablauf bis zur Tat bietet sich eine nach Lage des Falles nicht weiter erörterungsbedürftige Erklärungsvielfalt dafür an, daß das Küchenmesser eben auf diesem Tisch gelegen ist.

Mit dem nicht näher konkretisierten Einwand fehlender "Plausibilität" und "Nachvollziehbarkeit" der erstgerichtlichen Erwägung, der in Richtung Notwehr abzielenden Verantwortung der Angeklagten trotz gewichtiger Widersprüche im wesentlichen Glauben zu schenken und diese Verantwortung als maßgebliche Feststellungsgrundlage heranzuziehen, unternimmt die Anklagebehörde nur den (keine formellen Begründungsmängel zur Darstellung bringenden und demzufolge auch unbeachtlichen) Versuch einer Bekämpfung der formell einwandfreien, auch die angesprochenen Widersprüche berücksichtigenden Beweiswürdigung der Tatrichter (Urteil S 16 f).

Letztlich bleibt die Staatsanwaltschaft auch eine Begründung dafür schuldig, inwieweit die ihrer Auffassung nach nicht ausreichende Würdigung der Aussage der Zeugin P*** bzw. die unterlassene Auseinandersetzung mit den Angaben des Zeugen Insp. H*** den Ausspruch über eine für die rechtliche Beurteilung des Tatverhaltens der Angeklagten entscheidende Tatsache betreffen sollte; auch dieses - substratlose - Vorbringen bedarf deshalb keiner näheren Erörterung.

Ausgehend von dem eingangs wiedergegebenen, mängelfrei begründeten Urteilssachverhalt ist der Angeklagten aber beizupflichten, soweit sie in Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde die Annahme einer ihr anzulastenden Notwehrüberschreitung für rechtlich verfehlt erachtet.

In der für die Angeklagte vorgelegenen Notwehrsituation durfte sie sich zur Abwehr des in Rede stehenden Angriffes des R*** der notwendigen Verteidigung bedienen. Notwendig im Sinn des § 3 Abs. 1 StGB ist jene Verteidigungshandlung, die, aus der Situation des Angegriffenen gesehen, jedoch unter Zugrundelegung objektiver Kriterien, zur verläßlichen Abwehr des Angriffs erforderlich war. Das Maß der Abwehr wiederum bestimmt sich nach Art, Wucht und Intensität des abzuwehrenden Angriffes, nach der Gefährlichkeit des Angreifers und nach den zur Abwehr zur Verfügung stehenden Mitteln. Eine dieses Maß überschreitende Abwehr kann bei der vom Erstgericht als erwiesen angenommenen Fallgestaltung im inkriminierten Tatverhalten nicht erblickt werden. Die aus tiefem Schlaf gerissene, körperlich weit unterlegene Angeklagte stand einem hochgradig erregten, und auch schon früher gegen sie tätlich gewordenen Angreifer gegenüber, dessen für sie unmotivierten Tätlichkeiten nach Überzeugung des Erstgerichtes eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer körperlichen Unversehrtheit, wenn nicht sogar die ernstliche Gefährdung ihres Lebens befürchten ließen. Angesichts der festgestellten im höchsten Grade bedrohlichen Situation muß die Verwendung eines Messers in der vom Erstgericht als erwiesen angenommenen Weise insbesondere auch in Ansehung des zuletzt geführten Stichs als zulässige Verteidigungshandlung gewertet werden, zumal die Angeklagte den Urteilsannahmen zufolge bis zuletzt eine Fortsetzung der ihre körperliche Unversehrtheit bzw. ihr Leben gefährdenden Angriffe erwartete. Der vom Erstgericht erhobenen Forderung nach einer "dosierteren" Verteidigungsreaktion kann bei dieser Sachlage nicht gefolgt werden. Überdies war es auch der Angeklagten im Tatzeitpunkt nicht zumutbar, im Zustand höchster nervlicher Anspannung in Sekundenschnelle abzuschätzen und zu prüfen, welche Wirkung die ersten, ihrem Empfinden nach erfolglosen Verteidigungshandlungen tatsächlich erreichten. Der Vorwurf fahrlässiger Überschreitung der Grenzen der Notwehr kann demzufolge nicht aufrecht bleiben.

Soweit die Anklagebehörde in diesem Zusammenhang in Ausführung des Nichtigkeitsgrundes nach § 281 Abs. 1 Z 9 lit. b StPO Feststellungen vermißt, die "für einen bloßen offensichtlich geringen Nachteil sprechen", zumal die Angeklagte durch die von ihr "lediglich behaupteten" Pressungen und das schließlich auch noch "behauptete" Würgen keine oder höchstens geringfügige Verletzungen erlitten haben könnte, und daraus folgert, daß die Reaktion der Angeklagten jedenfalls unangemessen gewesen sei und daß die Annahme einer vorliegenden Notwehrsituation überhaupt "sichtlich rechtsirrig" erfolgte, macht sie keinen auf einen Rechtsirrtum zurückzuführenden Mangel der Feststellung des Urteilssachverhaltes geltend. Vielmehr verlangt sie in Wahrheit nur die Feststellung eines anderen Sachverhalts, was die fehlende Gesetzmäßigkeit dieser Rechtsrüge bewirkt.

Das angefochtene Urteil war sohin bereits aus diesen Erwägungen in Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten - ohne daß es einer Erörterung des weiteren Vorbringens der beiden Beschwerdeführerinnen bedarf - aufzuheben und gemäß § 288 Abs. 2 Z 3 StPO mit dem Freispruch der Angeklagten nach § 259 Z 3 StPO vorzugehen.

Mit ihrer Berufung war die Angeklagte auf den Freispruch zu verweisen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte