Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 13.602,60 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin Umsatzsteuer von S 2.267,10, keine Barauslagen) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger stürzte am 18.1.1984 als Fahrgast während der Fahrt aus einem Stadtbahnzug der Linie GD der Beklagten und wurde dabei schwer verletzt.
Im vorliegenden Rechtsstreit begehrte er aus dem Rechtsgrund des Schadenersatzes aus diesem Verkehrsunfall die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von S 312.635,-- sA; überdies stellte er ein auf Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Unfallschäden und für einen auf Grund des einzuholenden medizinischen Sachverständigengutachtens den Betrag von S 300.000,-- übersteigenden Schmerzengeldanspruch gerichtetes Feststellungsbegehren (ON 16 S 74). Der Höhe nach ist der Klagsanspruch nicht mehr strittig; auch das Feststellungsinteresse des Klägers hinsichtlich künftiger Unfallschäden ist unbestritten. Dem Grunde nach stützte der Kläger sein Begehren im wesentlichen darauf, daß er durch einen starken Ruck des Stadtbahnzuges gegen eine Tür gestoßen worden sei. Durch diesen Anstoß habe sich die elektrische Falttür auf ungeklärte Weise geöffnet, wodurch er bei einer Fahrgeschwindigkeit von rund 50 km/h auf den Gleiskörper gestürzt und dabei schwer verletzt worden sei.
Die Beklagte wendete dem Grunde nach im wesentlichen ein, der Kläger habe den Unfall absichtlich herbeigeführt; er habe einen Selbstmordversuch unternommen. Es handle sich bei dem Stadtbahnwagen um ein Fahrzeug modernster Bauart, bei dem Gebrechen von der Art, wie sie der Kläger schildere, technisch ausgeschlossen seien. Es sei unmöglich, die Tür von innen aufzustoßen. Sie könne vom Fahrzeuginneren her nur dadurch geöffnet werden, daß sie mit nicht unerheblicher Kraftanstrengung nach innen gezogen werde. Wäre daher der Kläger von innen gegen die Falttür gestürzt, dann hätte er sie nur noch fester zudrücken, aber nicht öffnen können. Der Unfall des Klägers sei ein für die Beklagte unabwendbares Ereignis, das der Kläger allein verschuldet habe, weil er sich nicht genügend angehalten habe.
Das Erstgericht gab dem Leistungsbegehren des Klägers zur Gänze und seinem Feststellungsbegehren in Ansehung seiner künftigen Unfallschäden statt; sein Feststellungsbegehren hinsichtlich der Haftung der Beklagten für einen S 300.000,-- übersteigenden Schmerzengeldanspruch wies es ab.
Diese Entscheidung des Erstgerichtes blieb in ihrem klagsabweisenden Teil unangefochten. In ihrem klagsstattgebenden Teil wurde sie von der Beklagten mit Berufung bekämpft. Mit dem angefochtenen Urteil gab das Berufungsgericht diesem Rechtsmittel keine Folge. Es bestätigte die Entscheidung des Erstgerichtes mit der Maßgabe, daß es im Ausspruch über das Feststellungsbegehren die Haftung der Beklagten für künftige Unfallschäden mit der Haftungshöchstgrenze des § 15 Abs 1 EKHG beschränkte.
Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der Beklagten. Sie bekämpft sie aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens, "allenfalls unter Zugrundelegung eines 50 % Mitverschuldens der klagenden Partei", abzuändern; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag. Der Kläger hat eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag erstattet, der Revision der Beklagten keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, sachlich aber nicht berechtigt. Der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor, was nicht näher zu begründen ist (§ 510 Abs 3 ZPO). Die Vorinstanzen gingen, was die im Revisionsverfahren allein noch strittige Frage der Haftung der Beklagten dem Grunde nach bzw eines allfälligen Mitverschuldens des Klägers betrifft, im wesentlichen von folgendem Sachverhalt aus:
Der Kläger war am 18.1.1984 Fahrgast des Zuges der Wiener Stadtbahn Nr 24 der Linie GD, bestehend aus dem Triebwagen Nr 4932 und den Beiwagen Nr 1911, 1909 und 4911, der von der Stadtbahnstation Meidling in Richtung Westbahnhof unterwegs war. Obwohl genügend Sitzplätze frei waren, blieb der Kläger im Beiwagen Nr 4911 mit dem Rücken zur Fahrerkabine stehen und hielt in den Händen ein kleines Taschenbuch, in welchem er las. Der Kläger trug sich keineswegs mit Selbstmordabsichten, sondern wollte etwas vom Westbahnhof abholen. Um etwa 9,38 Uhr wurde der Kläger, der sich nicht anhielt, durch einen starken Ruck (Seitenbeschleunigung) des Stadtbahnzuges gegen die in seiner Fahrtrichtung rechts gelegene Tür des Wagens gestoßen, wodurch sich die elektrische Falttür öffnete und der Kläger bei einer Fahrgeschwindigkeit des Stadtbahnzuges von rund 50 km/h (die Bremseinleitungsgeschwindigkeit nach dem Unfall des Klägers betrug 45 km/h) auf den Gleiskörper stürzte und schwer verletzt wurde.
Die Stadtbahngarnitur wurde eingezogen und überprüft; ein technisches Gebrechen konnte nicht festgestellt werden. Der damalige Streckenbereich der Gleise verlief mit Unebenheiten. Da der Zug damals mit relativ hoher Geschwindigkeit fuhr und eine Ablenkung über eine Weiche nach links erfolgte, führte dies im Stadtbahnzug einen starken seitlichen Ruck herbei. Dadurch wurde der Kläger auf die elektrische Falttür gestoßen, die sich dann auf heute nicht mehr feststellbare Weise öffnete. Zur Unfallszeit bestand an der Unfallstelle eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 60 km/h; einige Tage nach dem Unfall wurde sie auf 40 km/h herabgesetzt.
Bei der Tür, gegen die der Kläger gestoßen wurde, ist eine Rutschkupplung eingebaut, die dazu dient, daß man die Tür im Notfall manuell öffnen kann. Diese Tür ist manuell nur sehr schwer aufzubringen. Es handelt sich dabei um eine bei der Straßenbahn übliche Türkonstruktion; in Wien sind davon etwa 4000 Stück in Betrieb. Von Einfachtüren dieser Art sind etwa 600 Stück in Betrieb. Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt im wesentlichen dahin, der Kläger habe es zwar entgegen der Bestimmung des Punktes N 1 e der Allgemeinen Beförderungsbedingungen der Beklagten unterlassen, sich einen dauernd festen Halt zu verschaffen; diese Vorschrift dürfe jedoch nicht überspannt betrachtet werden. Das Festhalten an Haltegriffen oder Griffstangen diene dazu, Stürze im Inneren des Zuges, insbesondere auf Grund von Bremsungen, hintanzuhalten. Bei einer plötzlichen Notbremsung wäre der Kläger höchstens innerhalb des Wagens nach vorne gefallen. Der Unfall sei aber durch einen seitlichen Ruck hervorgerufen worden, mit welchem der Kläger auf Grund des Streckenverlaufes der Stadtbahn nicht rechnen habe müssen. Das Nichtanhalten des Klägers bedeute ein zu vernachlässigendes Verschulden im vorliegenden Einzelfall.
Die Beklagte habe nicht zu beweisen vermocht, daß ein unabwendbares Ereignis vorgelegen sei. Jede nicht aufklärbare Ungewißheit - wie im vorliegenden Fall über das Aufgehen der Tür - gehe zu Lasten des Halters. Auch sei bei mehreren möglichen Versionen des Unfallgeschehens im Zweifel wegen der den Halter treffenden Beweislast von der für den Kläger günstigeren Möglichkeit auszugehen. Ein Versagen der Verrichtungen schließe die Haftung des Halters auch dann nicht aus, wenn der Halter und seine Betriebsgehilfen die äußerste nach den Umständen gebotene Sorgfalt beachtet hätten. Es sei daher das Klagebegehren dem Grunde nach berechtigt.
Das Berufungsgericht führte rechtlich im wesentlichen aus, daß sich der Kläger zwar entgegen § 44 Abs 1 EisenbahnG, § 12 Abs 7 StraßenbahnVO und den Beförderungsbedingungen der Beklagten nicht angehalten habe; dies könne ihm aber nicht als meßbares Verschulden angerechnet werden, weil das Anhalten dazu diene, bei einer Notbremsung einen Sturz nach vorne zu verhindern, nicht aber dazu, in einer Kurve infolge der Fliehkraft nicht zur Seite geschleudert zu werden. Die Stadtbahntrasse sei mit so großen Kurvenradien gebaut, daß mit einer solchen seitlichen Fliehkraft nicht gerechnet werden müsse. Der Kläger habe vielmehr damit rechnen können, daß die Stadtbahn technisch so eingerichtet sei, daß eine Tür nicht während der Fahrt aufgehe, selbst wenn man mehr oder minder stark an sie anstoße. Die Beklagte sei verpflichtet, die Stadtbahn technisch so einzurichten, daß es zu keinen derartigen Vorfällen kommen könne. Im vorliegenden Fall könne zwar kein Fehler in der Beschaffenheit des Fahrzeuges und kein Versagen der Vorrichtungen festgestellt werden. Dennoch sei der Entlastungsbeweis der Beklagten als nicht gelungen anzusehen. Aus nicht aufklärbaren Umständen sei die Tür aufgegangen, als der Kläger gegen sie gestoßen sei, obwohl sie nach ihrer technischen Einrichtung nur nach innen zu öffnen sei. Diese Unklarheit gehe zu Lasten der Beklagten. Hiezu komme, daß zwar unklar sei, wie es zur Öffnung der Tür gekommen sei, daß aber durchaus Anhaltspunkte dafür vorhanden seien, daß die Beklagte nicht jede erdenkliche Sorgfalt angewendet habe, um überhaupt einen seitlichen Sturz eines Fahrgastes zu vermeiden. Die Stadtbahn sei trotz der Weiche und der offensichtlich damals dort vorhandenen Unebenheit mit einer beachtlich hohen Geschwindigkeit gefahren; erst nach dem Unfall sei dort die zulässige Höchstgeschwindigkeit herabgesetzt worden.
Die Beklagte habe somit infolge Nichtgelingens des Entlastungsbeweises und eines nicht meßbaren Mitverschuldens des Klägers am Unfall - von seinem Alleinverschulden könne nicht ernstlich gesprochen werden - diesem den gesamten Schaden zu ersetzen.
Die Beklagte versucht in ihrer Rechtsrüge darzutun, daß ihr kein Sorgfaltsverstoß im Sinne des § 9 Abs 2 EKHG anzulasten sei und daß sie daher nicht nach den Bestimmungen des EKHG für die Unfallsfolgen einzustehen habe; jedenfalls treffe den Kläger ein erhebliches Mitverschulden von zumindest 50 %, weil er sich nicht entsprechend angehalten habe.
Dem ist nicht zu folgen.
Gemäß § 9 Abs 1 EKHG wäre die Ersatzpflicht der Beklagten ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht worden wäre, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit noch auf einem Versagen der Verrichtungen des Stadtbahnzuges beruhte. Ein Versagen der Verrichtungen im Sinne dieser Gesetzesstelle liegt auch dann vor, wenn ein Fahrzeugteil die Funktionen, die ihm im Betrieb zukommen, nicht oder nicht ordnungsgemäß erfüllt (Koziol, Haftpflichtrecht2 II 549; Geigel, Haftpflichtprozeß19 610; ZVR 1978/231; ZVR 1980/162; 8 Ob 204, 205/81 ua). Die elektrische Falttür, durch die der Kläger stürzte, hatte nach dem Vorbringen der Beklagten selbst ja gerade die Funktion, während der Fahrt des Stadtbahnzuges geschlossen zu bleiben und damit zu verhindern, daß Fahrgäste den Wagen (gewollt oder ungewollt) verlassen konnten; nur im Notfall sollte sie (im Stillstand oder bei einer Fahrgeschwindigkeit von höchstens 5 km/h, siehe Beilage B) von innen händisch geöffnet werden können, und zwar auch das nicht durch einen Stoß, sondern nur durch Zug nach innen. Diese Funktion hat die Tür, durch die der Kläger stürzte, eindeutig nicht erfüllt, wenn sie sich, als der Kläger gegen sie stieß, öffnete, sodaß der Kläger aus dem Wagen stürzte. Es liegt somit eindeutig ein Versagen der Verrichtungen im Sinne des § 9 Abs 1 EKHG vor, das es verhindert, den hier zu beurteilenden Unfall als unabwendbares Ereignis im Sinne dieser Gesetzesstelle zu qualifizieren. Es kommt daher weder darauf an, ob die Beklagte bzw ihre Betriebsgehilfen jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt im Sinne des § 9 Abs 2 EKHG beachtet haben noch darauf, worauf das Versagen der Verrichtungen zurückzuführen ist (ZVR 1980/162 mwN; 8 Ob 204, 205/81 ua). Entscheidend ist, daß ein solches Versagen der Verrichtungen vorliegt; dies ist nach den Feststellungen der Vorinstanzen jedenfalls zu bejahen. Die Beklagte kann sich daher nicht mit Erfolg auf die im § 9 EKHG normierte Haftungsbefreiung berufen; sie haftet vielmehr nach den Bestimmungen des EKHG für den dem Kläger entstandenen Schaden.
Mit Recht haben die Vorinstanzen auch eine Kürzung der Schadenersatzansprüche des Klägers wegen eines ihm anzulastenden Verschuldens im Sinne des § 7 Abs 1 EKHG abgelehnt. Die vom Berufungsgericht zitierten Bestimmungen des § 44 Abs 1 EisenbahnG 1957 und des § 12 Abs 7 StraßenbahnVO 1957 enthalten keine konkreten Vorschriften darüber, wie sich der Fahrgast zur Vermeidung einer Selbstgefährdung infolge der beim Betrieb auftretenden Fliehkräfte zu verhalten hat. Wenn der Fahrgast nach dem Vorbringen der Beklagten laut Punkt N 1 e ihrer Allgemeinen Beförderungsbedingungen verpflichtet ist, sich dauernd festen Halt zu verschaffen, so handelt es sich dabei um eine Schutzbestimmung zu Gunsten des Fahrgastes, deren Zweck aber eindeutig darin liegt, Schäden hintanzuhalten, die ein Fahrgast dadurch erleiden könnte, daß er durch beim Betrieb auftretende Erschütterungen und Fliehkräfte innerhalb des Wagens zu Sturz kommt oder sonst gegen andere Fahrgäste oder Gegenstände stößt. Der Zweck dieser Bestimmung liegt aber keinesfalls darin, zu verhindern, daß ein Fahrgast während der Fahrt durch eine Tür, die nach ihrer Funktion dies gerade verhindern soll, aus dem Wagen fällt. Der Kläger hat sich nach den Feststellungen der Vorinstanzen dadurch gegen einen allfälligen Gleichgewichtsverlust durch Betriebsvorgänge zu sichern versucht, daß er mit dem Rücken zur Fahrerkabine stand. Er hat seine Verletzungen nicht dadurch erlitten, daß er gegen die Tür des Wagens stieß, sondern dadurch, daß sich diese Tür öffnete und er daher aus dem Wagen stürzte. Unter diesen Umständen tritt aber eine allenfalls dem Kläger anzulastende Nachlässigkeit, die darin zu erblicken wäre, daß er sich nicht besser gegen einen durch Betriebsvorgänge bedingten Gleichgewichtsverlust schützte, gegenüber der von der Beklagten zu vertretenden Betriebsgefahr ihres Stadtbahnzuges derart in den Hintergrund, daß eine Kürzung der Schadenersatzansprüche des Klägers im Sinne des § 7 Abs 1 EKHG nicht gerechtfertigt erscheint. Der Revision der Beklagten muß daher ein Erfolg versagt bleiben. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.
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