OGH 10ObS132/90

OGH10ObS132/908.5.1990

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Raimund Kabelka (Arbeitgeber) und Monika Fischer (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Manfred A***, Schweißer, Eisengraberamt 5, 3542 Gföhl, vertreten durch Dr. Wolfgang Grohmann und Dr. Helmut Paul, Rechtsanwälte in Krems, wider die beklagte Partei A*** U***, Adalbert

Stifter-Straße 65, 1200 Wien, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner und Dr. Josef Milchram, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. Jänner 1990, GZ 34 Rs 250/89-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Krems/Donau als Arbeits- und Sozialgericht vom 15. September 1989, GZ 15 Cgs 102/89-10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 3.292,80 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 548,80 S Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger erlitt bei einem Arbeitsunfall am 23. Juni 1988 einen Riß des vorderen Kreuzbandes bzw des inneren Seitenbandes am linken Knie. Als Folge dieses Unfalles besteht ab Beginn des berentbaren Zeitraumes eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH. Diese Einschätzung berücksichtigt die Verhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Einschätzung der Leistungsfähigkeit ist wahrscheinlich bis zum Beginn der Festsetzung der Dauerrente gegeben. Bis zum Zeitpunkt der Dauerrentenfestsetzung ist eine Besserung des Zustandsbildes möglich, in weiterer Folge ist ebenso eine Verschlechterung innerhalb eines Zeitraumes von 2 bis 5 Jahren möglich.

Mit Bescheid vom 23. März 1989 anerkannte die beklagte Partei den Unfall des Klägers vom 23. Juni 1988 als Arbeitsunfall und gewährte dem Kläger unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH für die Zeit vom 17. Oktober 1988 bis 31. Oktober 1989 eine Gesamtverfügung im Betrag von 25.326 S. Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger die Gewährung einer Rente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 vH beginnend mit 17. Oktober 1988.

Die beklagte Partei beantragt die Abweisung der Klage. Die bestehenden Unfallsfolgen bedingten keine höhere Minderung der Erwerbsfähigkeit als 20 vH; durch die Gewährung einer vorläufigen Versehrtenrente sei der Kläger nicht beschwert, weil er zum gegebenen Zeitpunkt wieder Rechtsschutz in Anspruch nehmen könne. Das Erstgericht erkannte dem Kläger eine Gesamtvergütung in bescheidmäßigen Umfang zu und wies das Mehrbegehren ab. Das Begehren auf Gewährung einer Dauerrente sei wohl zulässig, jedoch nicht begründet, zumal nach den Feststellungen eine weitere Besserung des Zustandes möglich sei. Es seien daher die Voraussetzungen für die Gewährung der vorläufigen Rente gegeben. Auch durch die Gewährung einer Gesamtvergütung sei der Kläger nicht beschwert. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers teilweise Folge und verpflichtete die beklagte Partei zur Gewährung einer vorläufigen Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente für die Zeit vom 17. Oktober 1988 bis 23. Juni 1990; das übersteigende Mehrbegehren auf Gewährung einer Versehrtenrente in einem höheren Ausmaß als 30 vH wies es ab. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und billigte dessen Beweiswürdigung. Der Zuspruch einer vorläufigen Versehrtenrente sei gemäß § 209 Abs 1 ASVG nur in den Fällen vorgesehen, in denen im Zeitpunkt der Entscheidung die Entwicklung der Folgen des Arbeitsunfalles noch nicht absehbar sei. Sei aber aufgrund der ärztlichen Prognose bereits absehbar, für welchen Zeitraum eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im rentenfähigen Ausmaß bestehen werde, so sei der Zeitraum, für den der Versicherungsträger eine Gesamtvergütung für eine vorläufige Versehrtenrente zu gewähren habe, nicht seinem Ermessen anheimgestellt. Die Gewährung einer Gesamtvergütung stelle nur einen vom Versicherungsträger gewählten Auszahlungsmodus einer vorläufigen Versehrtenrente dar, der das Gericht nicht binde. Es sei daher zulässig, im gerichtlichen Verfahren bei Vorliegen der Voraussetzungen die vorläufige Versehrtenrente auch über den der Gesamtvergütung entsprechenden Zeitraum hinaus zuzuerkennen. Da im vorliegenden Fall die Minderung der Erwerbsfähigkeit bis Juni 1990 20 vH betragen werde, bestünden die Voraussetzungen für die Zuerkennung einer vorläufigen Versehrtenrente bis zu diesem Zeitpunkt.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus den Revisionsgründen der Nichtigkeit und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen; hilfsweise wird der Antrag gestellt, das angefochtene Urteil im Sinn einer Klageabweisung abzuändern. Die klagende Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die Revision vertritt den Standpunkt, die Klageführung sei unzulässig, weil durch die Zuerkennung der Gesamtvergütung von der beklagten Partei nur über den von der Gesamtvergütung umfaßten Zeitraum entschieden worden sei. Da darüberhinaus eine Entscheidung nicht vorliege, könne ein Begehren auf Rentenleistung für die Zeit nach Ablauf des Gesamtvergütungszeitraumes nicht Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens sein; es fehle an der Verfahrensvoraussetzung gem § 67 Abs 1 Z 1 ASGG. Der Kläger sei auch durch die Gewährung der Gesamtvergütung nicht beschwert, weil ihm die Möglichkeit zur Verfügung stehe, die Weitergewährung der Leistung zu beantragen. Da die Klage jedoch lange vor Ablauf des Gesamtvergütungszeitraumes erhoben worden sei, könne darin auch kein Antrag auf Weitergewährung der Leistung über Oktober 1989 hinaus erblickt werden.

Damit macht die beklagte Partei nur geltend, daß die Prozeßführung aus verfahrensrechtlichen Gründen unzulässig sei. Die Entscheidung des Berufungsgerichtes über die materiellrechtliche Frage wird im Rechtsmittel nicht gerügt. Die Überprüfung durch das Revisionsgericht hat sich daher auf die in der Revision relevierten formellrechtlichen Fragen zu beschränken.

Der Kläger hat mit seiner Klage begehrt, ihm anstelle der auf der Basis einer MdE von 20 vH gewährten Gesamtvergütung für die Zeit ab 17. Oktober 1988 bis 31. Oktober 1989 eine Rentenleistung von 30 vH zu gewähren, wobei nach dem Vorbringen das Begehren auf Gewährung einer Dauerrente gerichtet war.

Die Gewährung von Rentenleistungen aus der Unfallversicherung und damit auch der Gesamtvergütung ist eine Sozialrechtssache gemäß § 65 Abs 1 Z 1 ASGG. Daß die Bekämpfung der der Höhe der Gesamtvergütung zugrunde gelegten MdE im Klagewege möglich ist, zieht die beklagte Partei selbst nicht in Zweifel. Die Klage war daher auch ausgehend von dem von der beklagten Partei vertretenen Standpunkt jedenfalls zulässig. Durch die Klage trat aber der Bescheid, der inhaltlich eine Einheit bildete, zur Gänze außer Kraft (SSV-NF 1/2, 18; 2/42 ua). Das Gericht hat in einem solchen Fall über das Begehren des Klägers ein völlig neues Verfahren ohne Bindung an den Inhalt des Bescheides durchzuführen und auf dieser Grundlage eine neue Entscheidung zu fällen. Es bestand dabei auch keine Bindung an den von der beklagten Partei der Bemessung der Gesamtvergütung zugrundegelegten Zeitraum.

Bestimmungen über die Gewährung einer vorläufigen Versehrtenrente und auch die Einrichtung der Gesamtvergütung waren bereits in der RVO (§ 616 a) vorgesehen und dies wurde aus verwaltungsökonomischen Gründen auch im ASVG beibehalten (599 BlgNR 7. GP). Ist ein Fall überschaubar und kann daher der voraussichtliche Rentenaufwand abgeschätzt werden, so besteht gemäß § 209 Abs 2 ASVG für den Versicherungsträger die Möglichkeit, nach

seinem freien Ermessen (".... so kann der Versicherungsträger .... abfinden") bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung einer vorläufigen Versehrtenrente diesen Anspruch in Form einer Gesamtvergütung abfinden. Es handelt sich hiebei nicht um einen besonderen Leistungsanspruch - die Gesamtvergütung wird auch im Leistungskatalog des § 173 ASVG nicht aufgezählt -, sondern nur um einen vom Versicherungsträger gewählten Auszahlungsmodus einer vorläufigen und befristet angenommenen Versehrtenrente. Wenn der Versicherungsträger sich zu dieser im § 209 Abs 2 ASVG vorgesehenen Gesamtvergütung entschließt, so nimmt er an, daß mit dieser Leistung die Folgen des Unfalles restlos abgegolten werden, wenn auch hiedurch nicht endgültig auch über den nach der Gesamtvergütung liegenden Zeitraum abgesprochen wird. Mit der Gesamtvergütung soll aber das von Amts wegen oder auf Antrag eingeleitete Verfahren voraussichtlich beendet und der Versicherungsträger von der Aufgabe einer weiteren Evidenzhaltung befreit werden. Es ist aus verwaltungsökonomischen Gründen zu erklären, daß in diesen Fällen entgegen der allgemeinen Regel des § 361 ASVG nur über Antrag eine weitere Leistung aus dem Titel der Versehrtenrente gewährt werden kann (so auch SSV 17/51). Der Bescheid über die Gewährung der Gesamtvergütung enthält dabei zugleich eine negative Entscheidung hinsichtlich des über den der Bemessung der Gesamtvergütung hinausgehenden Zeitraumes; es wird damit implicit zum Ausdruck gebracht, daß ausgehend vom derzeitigen Zustand und der derzeit zu stellenden Prognose für weitere Zeiträume eine Rentenleistung nicht zu erbringen ist. Diese negative Entscheidung bildet jedoch eine taugliche Grundlage für die Klage gemäß § 67 Abs 1 ASGG.

Die Bestimmung des § 209 Abs 2 ASVG stellt sich gegenüber § 209 Abs 1 ASVG als Ausnahmsregel dar. Das Gesetz räumt dem Versicherungsträger das Ermessen anstelle einer laufenden vorläufigen Versehrtenrente eine Gesamtvergütung in der Höhe des voraussichtlichen Rentenaufwandes zu gewähren, nur für den Fall ein, daß bereits abzusehen ist, daß nur eine vorläufige Rente zu gewähren ist, daß also abzusehen ist, daß die Unfallfolgen bis zum Ablauf des Zweijahreszeitraumes des § 209 Abs 1 ASVG ganz behoben oder doch so weit gebessert werden können, daß eine MdE im rentenbegründenden Ausmaß (§ 203 ASVG) nicht mehr vorliegt. Die Gewährung einer Gesamtvergütung für einen kürzeren als den im § 209 Abs 1 ASVG bezeichneten Zeitraum ist nur zulässig, wenn eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß mit Ablauf dieses Zeitraumes eine MdE in rentenbegründendem Ausmaß nicht mehr besteht. Inhaltlich stellt sich eine solche Entscheidung als Gewährung einer (innerhalb des Zweijahreszeitraumes) befristeten vorläufigen Versehrtenrente dar, die mit einem Gesamtbetrag in der Höhe der Rentenleistung für den Befristungszeitraum abgefunden wird. Im Unterschied zu § 256 ASVG, wo ein Ausschluß einer bloß gegen die Befristung der Leistung gerichteten Klage ausdrücklich angeordnet wird, findet sich eine solche Einschränkung im § 209 Abs 2 ASVG nicht. Die Gewährung einer Gesamtvergütung für einen kürzeren Zeitraum als den, für den das Vorliegen einer MdE im rentenbegründenden Ausmaß zu erwarten ist, ist durch das Gesetz nicht gedeckt. Durch eine dagegen verstoßende Vorgangsweise des Versicherungsträgers werden auch die Rechte des Versicherten beeinträchtigt, wird er doch bezüglich einer darüber hinausgehenden Leistung auf eine besondere Antragstellung verwiesen, während bei richtiger Vorgangsweise die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen auch für danach liegende Zeiträume in einem amtswegig zu führenden Verfahren zu erfolgen hat. Liegen die Voraussetzungen, unter denen der Gesetzgeber dem Versicherungsträger das Ermessen einräumt, eine Gesamtvergütung zu gewähren, nicht vor, so kann der Versicherte seinen Anspruch auf Gewährung von Rentenleistungen durch den Versicherungsträger ohne eine von diesem angeordnete besondere Befristung klageweise gegen den über die Gesamtvergütung absprechenden Bescheid geltend machen. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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