OGH 2Ob45/90

OGH2Ob45/9025.4.1990

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kralik als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Vogel, Dr.Jensik, Dr.Melber und Dr.Kropfitsch als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dipl.-Ing.Werner G***, Chemiker, Siebenlärchen 31, 4861 Schörfling, vertreten durch Dr.Alois Nußbaumer, Dr.Stefan Hoffmann, Rechtsanwälte in Vöcklabruck, wider die beklagten Parteien 1.) Franz M*** jun., Angestellter, Schubertstraße 2, 4802 Ebensee, 2.) Werner S***, Maschinenschlosser, Max-Zieglerstraße 7, 4802 Ebensee, 3.) A*** Versicherungs AG, Fabrikstraße 32, 4020 Linz, alle vertreten durch DDr.Rudolf R. Schlegl, Rechtsanwalt in Ebensee, wegen S 26.499 sA, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Kreisgerichtes Wels als Berufungsgerichtes vom 23. Oktober 1989, GZ R 813/89-29, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Bezirksgerichtes Gmunden vom 22. Mai 1989, GZ 3 C 431/88-22, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Das Urteil des Berufungsgerichtes wird dahin abgeändert, daß das Ersturteil wiederhergestellt wird.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit S 7.493,68 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin enthalten S 1.248,95 Umsatzsteuer) und die mit S 4.911,36 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 568,56 Umsatzsteuer und S 1.500 Barauslagen) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 6.2.1988 ereignete sich gegen 18.45 Uhr auf der Bundesstraße 145 im Freilandgebiet ein Verkehrsunfall im Begegnungsverkehr. Es war diesig, die Fahrbahn weist drei durch Leitlinien getrennte Fahrstreifen auf, sie hat in Richtung Altmünster ein Gefälle von 5 bis 6 %. Der Kläger fuhr mit seinem PKW mit einer Geschwindigkeit von 60 bis 80 km/h in Richtung Gmunden. In dieser Richtung fuhr kein anderes Fahrzeug. Der Zweitbeklagte lenkte den vom Erstbeklagten gehaltenen, bei der drittbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW in Richtung Altmünster, er fuhr zunächst auf dem rechten Fahrstreifen hinter einem VW-Bus, der eine Geschwindigkeit von 40 bis 50 km/h einhielt und begann dann, diesen zu überholen. Während des Überholmanövers kam es zu einer Streifung zwischen den vom Kläger und vom Zweitbeklagten gelenkten Fahrzeugen. Der Kläger begehrte, gestützt auf Alleinverschulden des Zweitbeklagten, einen Schadenersatzbetrag von S 26.499 samt Zinsen und brachte vor, er sei am äußerst rechten Fahrstreifen gefahren, der Zweitbeklagte sei bei seinem Überholmanöver in diesen Fahrstreifen geraten.

Die beklagten Parteien wendeten ein, das Alleinverschulden treffe den Kläger, der, obwohl das Überholmanöver des Klägers von weitem sichtbar gewesen sei, nicht den freien rechten, sondern den mittleren Fahrstreifen benützt habe. Überdies wendeten die Beklagten eine Gegenforderung von S 33.129,60 ein.

Das Erstgericht sprach aus, daß die eingeklagte Forderung mit S 25.999 zu Recht, die Gegenforderung aber nicht zu Recht bestehe und erkannte die beklagten Parteien daher zur ungeteilten Hand schuldig, dem Kläger S 25.999 sA zu bezahlen. Das Mehrbegehren von S 500 wurde abgewiesen. Das Erstgericht stellte, abgesehen von dem oben wiedergegebenen Sachverhalt, noch fest, daß sich die Kollision auf der rechten Fahrbahnhälfte des Klägers ereignete, der vom Zweitbeklagten gelenkte PKW also die Fahrbahnmitte überragte. Ob der Kläger den rechten Fahrstreifen verlassen hat, konnte nicht festgestellt werden.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, der Zweitbeklagte habe gegen § 16 Abs. 1 lit a StVO verstoßen, da er die Fahrbahnmitte (Mitte des mittleren Fahrstreifens) überfahren habe. Ein Verschulden des Klägers sei nicht nachgewiesen worden. Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Parteien teilweise Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, daß die Klagsforderung gegenüber der Erst- und Drittbeklagten mit S 17.332,67 zu Recht und gegenüber dem Zweitbeklagten mit S 12.999,50 zu Recht bestehe die Gegenforderung mit S 11.043,20 zu Recht bestehe, und die beklagten Parteien daher zur ungeteilten Hand schuldig seien, dem Kläger den Betrag von S 1.956,30 und die erstund drittbeklagte Partei überdies den Betrag von S 4.333,17 zu bezahlen. Das Mehrbegehren wurde abgewiesen, die Revision nicht für zulässig erklärt.

Das Gericht zweiter Instanz übernahm den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt und führte zur rechtlichen Beurteilung aus, die Markierung von drei durch Leitlinien getrennten Fahrstreifen habe den Zweck, in beiden Fahrtrichtungen das Überholen langsam auf dem ersten Fahrstreifen fahrender Fahrzeuge zu ermöglichen. Nach § 16 Abs. 1 lit a StVO sei das Überholen schon dann verboten, wenn die bloße Möglichkeit einer Gefährdung oder Behinderung eines anderen Verkehrsteilnehmers bestehe. Der Lenker eines anderen Fahrzeuges dürfe daher grundsätzlich nur dann überholen, wenn er in der Lage sei, die Überholstrecke zu überblicken und sich von der Möglichkeit eines gefahrlosen Überholens zu überzeugen. Es dürfe daher grundsätzlich nicht überholt werden, wenn nicht einwandfrei erkennbar sei, daß der Überholvorgang anstandslos durchgeführt werden könne. Allerdings brauche ein Verkehrsteilnehmer bis zur Wahrnehmung des Gegenteils grundsätzlich auch nur mit einem den Verkehrsvorschriften entsprechenden Gegenverkehr zu rechnen (ZVR 1983/171). Im vorliegenden Fall habe der Zweitbeklagte bei Beginn seines Überholmanövers an den Scheinwerfern erkennen können, daß ihm ein einziges Fahrzeug, nämlich ein PKW entgegenkomme. Da für jedes der drei vorhandenen Fahrzeuge ein Fahrstreifen von jeweils mehr als 3 m zur Verfügung gestanden sei, sei eine drohende Gefahr bei der Begegnung vorerst nicht abzusehen gewesen, da bei einer Fahrlinie des Klägers und des VW-Busses jeweils in der Mitte des rechten Fahrstreifens - in der jeweiligen Fahrtrichtung gesehen für Sicherheitsabstände beim Überholen nach beiden Seiten insgesamt rund 3 m zur Verfügung gestanden seien. Könne ein Kfz-Lenker bei Einleitung eines Überholmanövers auf einer Straße mit drei Fahrstreifen, die jeweils durch Leitlinien getrennt seien, zunächst nur das Scheinwerferlicht eines einzigen ihm entgegenkommenden PKWs, nicht aber die genaue Position desselben erkennen, so dürfe er nach Ansicht des Berufungsgerichtes auch in einer solchen Situation bis zur Wahrnehmung des Gegenteils darauf vertrauen, daß dieser PKW den äußerst rechten Fahrstreifen benütze. Ein derartiges Überholmanöver widerspreche dann aber nicht der Bestimmung des § 16 Abs. 1 lit a StVO, weil dem Überholenden im Hinblick auf die von ihm wahrgenommene Straßen- und Verkehrssituation bei einer Fahrbahnbreite von 9,8 m die Möglichkeit einer Behinderung oder Gefährdung anderer Straßenbenützer nicht habe bewußt sein können. Bei Beurteilung eines allfälligen Verschuldens des Zweitbeklagten sei nämlich von der für ihn günstigsten Variante der erstgerichtlichen Feststellungen auszugehen, wonach er zwar die Fahrbahnmitte im geometrischen Sinne überfahren habe, es aber durchaus nicht auszuschließen sei, daß der Kläger bei Beginn des Überholmanövers des Zweitbeklagten auf dem rechten Fahrstreifen gefahren sei und im Kollisionszeitpunkt zumindest teilweise den mittleren Fahrstreifen benützt habe, zumal weder die Annäherung noch die Kollisionsposition des Klagsfahrzeuges in bezug auf die 4,9 m breite rechte Fahrbahnhälfte habe geklärt werden können. Entgegen der Auffassung des Erstgerichtes könne dem Zweitbeklagten daher unter Zugrundelegung der getroffenen Feststellungen auch kein Verstoß gegen das Überholverbot des § 16 Abs. 1 lit a StVO bzw gegen § 7 Abs. 2 StVO angelastet werden. Keinem der Lenker könne daher der Vorwurf eines Verschuldens gemacht werden, es bestehe nur eine Haftung nach dem EKHG. Trotzdem sei auch das gegenüber dem Zweitbeklagten erhobene Begehren nicht zur Gänze abzuweisen, weil die Beklagten in ihrer Berufung eine Schadensteilung von 1 : 1 anstrebten, eine über 50 % hinausgehende Haftung des Zweitbeklagten komme aber nicht in Betracht. Die (gewöhnliche) Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges sei durch den Überholvorgang erhöht worden, zumal nach der Anlage der Straße der mittlere Fahrstreifen in erster Linie wohl zum Überholen langsam bergauffahrender Fahrzeuge dienen solle, es sei daher eine Schadensteilung im Verhältnis von 2 : 1 zu Gunsten des Klägers vorzunehmen. Die Revision sei nicht für zulässig zu erklären, weil vorwiegend Sachverhaltsfragen zu klären gewesen seien und im übrigen hinsichtlich der Grundsätze der Schadensteilung bei einem weitgehend ungeklärten Unfallshergang nicht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abgewichen worden sei. Der Kläger bekämpft das Urteil des Berufungsgerichtes mit außerordentlicher Revision, macht als Anfechtungsgrund unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt die Wiederherstellung des Ersturteiles.

Rechtliche Beurteilung

Die beklagten Parteien beantragen, die außerordentliche Revision nicht zuzulassen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben. Die Frage der Zulässigkeit des Überholens bei Gegenverkehr auf einer Fahrbahn mit insgesamt drei Fahrstreifen ist eine Rechtsfrage, der erhebliche Bedeutung im Sinne des § 502 Abs. 4 Z 1 aF ZPO zukommt, die Revision ist daher im Sinne dieser Gesetzesstelle zulässig. Sie ist im Ergebnis auch berechtigt.

Die in der Revision vertretene Ansicht, Überholen trotz Gegenverkehrs stelle immer einen Verstoß gegen § 7 Abs. 2 StVO dar, kann allerdings nicht geteilt werden. § 7 StVO regelt die allgemeine Fahrordnung. Gemäß dem Abs. 1 dieser Gesetzesstelle hat der Lenker eines Fahrzeuges, sofern sich aus diesem Bundesgesetz nichts anderes ergibt, so weit rechts zu fahren, wie ihm dies unter Bedachtnahme auf die Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs zumutbar und dies ohne Gefährdung, Behinderung oder Belästigung anderer Straßenbenützer und ohne Beschädigung von Sachen möglich ist. Nach Abs. 2 ist, wenn es die Verkehrssicherheit erfordert, insbesondere in unübersichtlichen Kurven, vor Fahrbahnkuppen, bei ungenügender Sicht, beim Überholtwerden und bei Gegenverkehr am rechten Fahrbahnrand zu fahren. Beim Überholen, das - von Ausnahmen abgesehen gemäß § 15 Abs. 1 StVO nur links erfolgen darf, kann das Rechtsfahrgebot der allgemeinen Fahrordnung nicht beachtet werden, seine Zulässigkeit ist auf Grund der Vorschriften des § 16 StVO zu beurteilen. Nach Abs. 1 lit a dieser Bestimmung darf der Lenker eines Fahrzeuges nicht überholen, wenn andere Straßenbenützer, insbesondere Entgegenkommende, gefährdet oder behindert werden könnten oder wenn nicht genügend Platz für ein gefahrloses Überholen vorhanden ist. Kommt einem Fahrzeuglenker auf einer Fahrbahn mit drei Fahrstreifen auf dem rechten Fahrstreifen ein Fahrzeug entgegen, dann werden dadurch, daß er auf dem mittleren Fahrstreifen überholt, Lenker und Insassen des entgegenkommenden Fahrzeuges nicht gefährdet oder behindert, es ist auch genügend Platz für ein gefahrloses Überholen vorhanden. Ein Überholen ist daher - bei genügender Sicht und übersichtlicher Straße (§ 16 Abs. 2 lit b StVO) - auf dem mittleren Fahrstreifen, wenn auf diesem kein Fahrzeug entgegenkommt, zulässig und zwar auch dann, wenn dabei die Fahrbahnmitte überfahren wird.

Nach ständiger Rechtsprechung ist das Überholverbot des § 16 Abs. 1 lit a StVO allerdings schon dann gegeben, wenn die bloße Möglichkeit einer Gefährdung oder Behinderung eines anderen Verkehrsteilnehmers besteht (ZVR 1980, 289, ZVR 1983/131 ua), der Zweitbeklagte hätte daher nur überholen dürfen, wenn eine derartige Gefährdung oder Behinderung auszuschließen gewesen wäre. Dies war jedoch nicht der Fall, da ein Fahrzeug entgegenkam, wobei nicht erkennbar war, auf welchem Fahrstreifen es sich befindet. Der Zweitbeklagte durfte nicht darauf vertrauen, daß das entgegenkommende Fahrzeug auf dem rechten Fahrstreifen gelenkt wird, weil - wie bereits ausgeführt - das Überholverbot des § 16 Abs. 1 lit a StVO schon bei der bloßen Möglichkeit einer Gefährdung oder Behinderung besteht. Die vom Berufungsgericht für seine Rechtsansicht angeführte Entscheidung ZVR 1983/171 betraf nicht einen Überholvorgang.

Obwohl nicht feststellbar war, auf welchem Fahrstreifen sich die Kollision ereignete, ist dem Zweitbeklagten daher entweder anzulasten, daß er überholte, obwohl auf dem mittleren Fahrstreifen ein Fahrzeug entgegenkam (daß der Kläger zunächst den rechten Fahrstreifen benützte und erst während des Überholvorganges des Zweitbeklagten in den mittleren Fahrstreifen geriet, behaupteten die Beklagten nicht, das Verfahren ergab dafür auch keine Anhaltspunkte), oder daß er beim Überholen in den äußerst linken Fahrstreifen geriet. In jedem Fall trifft den Zweitbeklagten daher ein Verschulden.

Der Kläger hat somit Anspruch auf vollen Schadenersatz, da ein Nachweis, daß ihn ein Verschulden trifft, nicht erbracht wurde und eine Ausgleichspflicht nach § 11 Abs. 1 EKHG auf Grund des Verschuldens des Zweitbeklagten nicht in Betracht kommt. Aus diesen Gründen war der Revision Folge zu geben und das Urteil des Erstgerichtes wiederherzustellen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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