OGH 10ObS442/89

OGH10ObS442/8923.1.1990

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Rudda (AG), Anton Liedlbauer (AN) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ingeborg M***, 6424 Silz, Bahnhofstraße 12, vertreten durch Dr. Jörg Hobmeier, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei P*** DER A***, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. September 1989, GZ 5 Rs 130/89-32, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 11. Juli 1989, GZ 42 Cgs 191/88-26, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 17. Mai 1941 geborene Klägerin, die keinen Beruf erlernt hat, war zunächst als Näherin, Spinnereiarbeiterin und Büglerin, in den letzten 15 Jahren vor der Antragstellung als Gruppen- bzw. Bandleiterin im Bereich Konfektionsnäherei beschäftigt. Der Tätigkeitsbereich einer Gruppen- bzw. Bandleiterin beinhaltet im Rahmen der arbeitsteiligen Bekleidungsherstellung zum einen Aufgaben im Zusammenhang mit der Einteilung und Kontrolle sowie Einschulung der dem jeweiligen "Band" (Abteilung mit ca. 15 Mitarbeitern) zugeteilten Näherinnen, einschließlich der Meldung deren Stückleistung pro Tag, und zum anderen Näharbeiten an Spezialmaschinen, wobei sich die Aufgabe der einzelnen Arbeitskraft immer nur auf einige wenige Teilfertigungsschritte (im Konkreten handelt es sich vorwiegend um die Anfertigung von Hosen und Röcken aus unterschiedlichen Stoffen) nähmäßig beschränkt. In diesem Sinne hatte die Klägerin als "Springerin" unterschiedliche Nähmaschinen gleich einer Näherin zu bedienen, einfache Wartungsarbeiten, z.B. Reinigen und Ölen vorzunehmen, und je nach Beschaffenheit des Stoffes im Hinblick auf den Nähvorgang an der Maschine die passende Fadenspannung und Stichlänge zu wählen bzw. die richtige Nadel- und Garnwahl zu treffen. Die Anlernzeit zur Näherin beläuft sich üblicherweise auf ca. 3 Monate, jene zu einer Bandleiterin ist abermals mit 1 - 3 Monaten anzusetzen. Neben der Fähigkeit zur Menschenführung und Arbeitsplanung verlangt diese Tätigkeit vor allem gutes Sehvermögen, Farbtüchtigkeit, Hand- und Fingergeschick, Genauigkeit, Ausdauer, Routinebeständigkeit und Neigung zu flinkem Arbeiten. Gearbeitet wird zum Großteil im Sitzen, während der Näharbeit mit vorgeneigtem Oberkörper, einhergehend mit ständig anstrengendem Schauen, wobei sich Erschwernisse auch durch die starke Staub- und Lärmentwicklung ergeben. Fließbandähnliche Arbeiten, die primär auf Schnelligkeit abstellen, erfordern darüber hinaus eine gute Allgemeinkonstitution, unter anderem auch im Sinne einer eindeutig erhöhten Streß- und Monotonieresistenz. Zufolge gesundheitsbedingter Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit in erster Linie als Folge eines Diabetes mellitus ist die Klägerin nur mehr in der Lage, leichte und mittelschwere Arbeiten im Verhältnis 2 : 1 möglichst im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen in geschlossenen Räumen durchzuführen. Das Heben und Tragen schwerer Lasten und gehäuftes Bücken sind zu vermeiden, ebenso starke psychische und physische Belastungen. Die Klägerin muß die Möglichkeit haben, im Rahmen ihrer Berufstätigkeit Pausen zur Blutzuckerselbstkontrolle einzuschalten. Eine Blutzuckerbestimmung dauert ca. 2 Minuten, inklusive aller Vorarbeiten - insbesondere Händewaschen und Gerätevorbereiten - dauert die Bestimmung 5 bis 7 Minuten. Hiezu ist neben einem Waschbecken auch ein entsprechendes Gerät erforderlich, das in unmittelbarer Nähe des Waschbeckens an einem sauberen Platz aufzubewahren ist. Bei Berufen ohne erhöhtem Streßfaktor sind während der achtstündigen Arbeitszeit zwei solche Blutzuckerkontrollen erforderlich. Im Falle einer streßbetonten Berufstätigkeit, insbesondere bei Akkordarbeit, kann es im Einzelfall erforderlich werden, während der Arbeitsziet bis zu sechs solcher Blutzuckerselbstkontrollen durchzuführen. Bei besonders unglücklicher Konstellation, so bei besonderen psychischen Belastungen im Zusammenhang mit Arbeitskollegen und Vorgesetzten, können auch an anderen Arbeitsplätzen vermehrt Blutzuckerkontrollen erforderlich sein. Bei derartigen Ausnahmesituationen bzw. bei Berufen mit erhöhtem Streßfaktor sind unter Umständen auch zwei Insulininjektionen in der Dauer von je 5 - 7 Minuten während der Arbeitszeit nötig. Der Diabetes verlangt weiters nach einem Schutz vor Kälte und Nässe, da mit dieser Stoffwechselstörung eine erhöhte Infektanfälligkeit verbunden ist. Auf Grund der gesundheitsschädlichen ständigen Streßbelastung ist die Klägerin nicht mehr imstande, die Tätigkeit einer Gruppen- bzw. Bandleiterin oder einer Näherin auszuüben. Sie ist aber noch fähig, einfache Angestelltentätigkeiten büroadministrativer Art, wie etwa als Kartei-, Registratur- und Archivkraft oder als Postexpedientin produktiv leistungsbezogen zu verrichten. Im Vergleich zu der von der Klägerin zuletzt ausgeübten Tätigkeit bedeuten derartige Verwendungen keinen sozialen Abstieg. Behinderungsbedingte Zusatzpausen in der Gesamtdauer von täglich bis zu 20 Minuten (etwa zur Durchführung der Blutzuckerkontrolle zwei bis drei Pausen im Ausmaß von jeweils 5 - 7 Minuten) werden im allgemeinen seitens der Wirtschaft toleriert.

Von diesem Sachverhalt ausgehend wies das Erstgericht das auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. Juli 1988 gerichtete Klagebegehren ab. Die Klägerin könne auf einfache Angestelltentätigkeiten büroadministrativer Art verwiesen werden, welche kurzfristig anlernbar seien und die keinen sozialen Abstieg gegenüber dem Vorberuf bedeuteten. Die zur Blutzuckerkontrolle benötigten Arbeitspausen würden sich zumindest teilweise mit den gesetzlich vorgesehenen Ruhepausen überschneiden. Die Klägerin sei daher nicht berufsunfähig im Sinne des § 273 Abs. 1 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und trat auch dessen rechtlicher Beurteilung bei.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund des § 503 Z 4 ZPO ist nicht berechtigt.

Soweit die Rechtsrüge damit argumentiert, daß der Klägerin jegliche, auch am "leichtesten" Arbeitsplatz nicht zu vermeidende psychische Belastungen fernzuhalten seien, geht sie nicht vom festgestellten Sachverhalt aus; die Rechtsrüge ist insoweit nicht gesetzmäßig ausgeführt. Wie der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen hat, werden die gegebenenfalls erforderlichen Blutzuckermessungen während der Arbeitszeit gerade bei Bürotätigkeiten, die nicht mit Kundenverkehr verbunden sind, von Arbeitgebern ganz allgemein geduldet, sie erfordern ebensowenig wie die Einnahme kleiner Zwischenmahlzeiten ein besonderes Entgegenkommen des Arbeitgebers (SSV-NF 2/145), was im vorliegenden Fall auch den Feststellungen der Vorinstanzen entspricht. Dagegen vermag die Revision keine stichhältigen Gründe vorzubringen. Die Zugehörigkeit zur Pensionsversicherung der Angestellten wird nicht nur durch die tatsächliche Ausübung einer Tätigkeit im Sinne des § 14 ASVG, darunter einer Angestelltentätigkeit im Sinne des Angestelltengesetzes, sondern auch dadurch begründet, daß die Anwendung dieses Gesetzes nur auf einer Vereinbarung zwischen Dienstgeber und Dienstnehmer beruht. "Vertragsangestellte", die zwar Arbeitertätigkeiten verrichten, auf deren Dienstverhältnis aber nach dem Dienstvertrag das Angestelltengesetz angewendet werden soll, werden also insoweit den echten Angestellten gleichgestellt (VwSlg. NV 5966 A; Schrammel in DRdA 1988, 259 ff mit weiteren Hinweisen bei FN 12). Geht man davon aus, daß die Klägerin während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend Angestelltentätigkeit verrichtet hat, was gemäß § 1 AngG voraussetzen würde, daß sie vorwiegend zur Leistung kaufmännischer oder höherer nicht kaufmännischer Dienste oder zu Kanzleiarbeiten angestellt war, dann trifft die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes zu, sodaß es ausreichen würde, auf deren Richtigkeit hinzuweisen (§ 48 ASGG). Die Vorinstanzen haben allerdings nicht geprüft, ob die von der Klägerin in den letzten 15 Jahren ausgeübte Tätigkeit einer Gruppen- oder Bandleiterin im Bereich Konfektionsnäherei eine solche im Sinn des § 1 AngG war. Wie der Oberste Gerichtshof wiederholt mit ausführlicher Begründung ausgesprochen hat (SSV-NF 2/71, 10 Ob S 330/88 = JBl. 1989, 462 = SSV-NF 3/2 - in Druck -), ist der Eintritt des Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit - anders als die Leistungszugehörigkeit (§ 245 ASVG) - und die Leistungszuständigkeit (§ 246 ASVG) ausschließlich nach der tatsächlichen Tätigkeit zu beurteilen: Es kommt nicht darauf an, ob der Dienstnehmer als Arbeiter oder Angestellter eingeordnet war, sondern ob er Arbeiter- oder Angestelltentätigkeit verrichtet hat. Hätte die Klägerin also mangels Leistung höherer nicht kaufmännischer Dienste (kaufmännische Dienste und Kanzleiarbeiten scheiden von vornherein aus, vgl. Martinek-Schwarz, AngG6 46 ff, 55 ff und 65 ff) ausschließlich Arbeitertätigkeiten verrichtet (vgl. dazu das bei Martinek-Schwarz aaO 61 unter Z 7 zitierte Beispiel), dann wäre der Eintritt des Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit der Klägerin inhaltich nach § 255 Abs. 3 ASVG zu prüfen.

Im Ergebnis ist dadurch für die Klägerin allerdings nichts gewonnen. Die Frage, ob ihr Begehren auf Pensionsleistungen nach § 273 Abs 1 ASVG oder nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen ist, kann deshalb offenbleiben, weil die Klägerin auch im letztgenannten Fall unter Berücksichtigung ihres medizinischen Leistungskalküls auf eine Reihe von Arbeitertätigkeiten verwiesen werden kann, die über leichte, gelegentlich mittelschwere Arbeiten in geschlossenen Räumen im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen nicht hinausgehen, bei denen es zu keinen Streßbelastungen kommt und bei denen die oben geschilderten Arbeitspausen toleriert werden. Das Verweisungsfeld für Versicherte, die keinen erlernten oder angelernten Beruf ausgeübt haben, ist nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes mit dem Arbeitsmarkt identisch (SSV-NF 2/34 und 50 jeweils mwN).

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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