OGH 10ObS386/89

OGH10ObS386/8919.12.1989

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Robert Prohaska (AG) und Walter Benesch (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Nadija S***, Pensionistin, 1190 Wien, Dollingergasse 7/4, vertreten durch Dr. Wolfhart Zimmermann, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A***,

1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Erich Proksch und Dr. Richard Proksch, Rechtsanwälte in Wien, wegen Hilflosenzuschuß, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 5. Juli 1989, GZ 32 Rs 111/89-32, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 24. Jänner 1989, GZ 16 Cgs 26/88-24, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß es zu lauten hat:

"Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin ab 16. Dezember 1987 den Hilflosenzuschuß in der gesetzlichen Höhe zu gewähren, wird abgewiesen."

Die Klägerin hat die Kosten der Rechtsmittelverfahren selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 16. Dezember 1987 den Hilflosenzuschuß zu gewähren und trug ihr eine vorläufige Zahlung von S 2.500,-- monatlich auf. Es stellte im wesentlichen folgendes fest:

Die 75-jährige Klägerin kann sich aufgrund ihres - im einzelnen näher beschriebenen - körperlichen Zustands ohne fremde Hilfe an- und ausziehen, oberflächlich selbst waschen, zu Bett gehen, sich daraus erheben und eine Ganzkörperreinigung vornehmen. Zum Besteigen der Badewanne benötigt sie fremde Hilfe. Sie kann sich aber ohne Hilfe Speisen zubereiten und sie verzehren, die Notdurft verrichten, die Wohnung oberflächlich sauber halten, die kleine Leibwäsche waschen, sowie die Gasheizung regeln und bedienen, sie kann jedoch nicht regelmäßig Nahrungsmittel einholen. Es ist ihr ferner unmöglich, zu Boden gefallene Gegenstände aufzuheben. Zu sämtlichen "schwierigen" Verrichtungen, wie Großreinemachen und Fensterputzen, Waschen der Großwäsche und Bügeln, benötigt sie fremde Hilfe. Die Hebe- und Tragleistung ist mit höchstens fünf Kilogramm begrenzt. Die Klägerin bewohnt eine 2 1/2-Zimmer Wohnung mit Zentralheizung, Waschmaschine und Kühlschrank. Sie kocht elektrisch. Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt dahin, daß für die Hilfeleistung, welche die Klägerin für die schwierigen Tätigkeiten des täglichen Lebens, wie Großreinemachen, Fensterputzen, Waschen der Großwäsche und Bügeln, benötige, ein Arbeitsaufwand von 10 bis 15 Stunden im Monat erforderlich sei, wobei für eine Bedienerin Kosten von 80 bis 100 S je Stunde anzunehmen seien. Für das Einkaufen benötige die Klägerin zumindest zwei- bis dreimal in der Woche eine Hilfsperson, was einen Aufwand von etwa fünf Stunden im Monat zu den angeführten Kosten bedeute. Da sie zumindest zweimal in der Woche baden müsse, erfordere die hiefür notwendige Hilfe außerdem noch vier Stunden im Monat. Der letztlich ausschlagebende Umstand sei, daß sie zu Boden gefallene Gegenstände nicht mehr aufheben könne. Deshalb müsse jemand wenigstens ein- bis zweimal täglich "nach dem Rechten sehen", weil es ja möglich sei, daß Abfall, der die Gefahr des Ausrutschens mit sich bringe, oder scharfe Gegenstände, wie Messer oder zerbrechliches Geschirr, zu Boden fallen. Insgesamt liege der Aufwand, welcher der Klägerin durch die notwendige Hilfeleistung entstehe, unter Berücksichtigung der Wegzeit einer Hilfsperon zwischen 2.000 und 3.000 S, weshalb die Klägerin hilflos im Sinn des Gesetzes sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Bei der Anwendung der Erfahrungssätze durch das Erstgericht handle es sich um keine Rechts-, sondern um eine Tatfrage. Das Erstgericht habe die Erfahrungssätze richtig angenommen. Die vom Erstgericht (unrichtig als rechtliche Beurteilung bezeichneten) Feststellungen über die Dauer der erforderlichen Fremdhilfe und den hiedurch notwendigen Kostenaufwand widersprächen keineswegs Erfahrungssätzen. Daß diese Feststellungen auf mangelhafte Weise zustande gekommen seien, sei von der beklagten Partei nicht einmal behauptet worden. Das Berufungsgericht übernehme daher die Feststellung des Erstgerichtes als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens. Da die vom Erstgericht gemäß § 273 ZPO nach freier Überzeugung mit 2.000 bis 3.000 S festgesetzten zusätzlichen Kosten ungefähr in der Höhe des von der Klägerin begehrten Hilflosenzuschusses lägen, seien gemäß der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs die Voraussetzungen für die Gewährung des Hilflosenzuschusses erfüllt.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen im Sinn der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.

Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Die vom Erstgericht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung der Sache angewendeten Erfahrungssätze dienten nicht der Feststellung von Tatsachen, sondern der Ausfüllung eines Rechtsbegriffes, nämlich des Begriffes "ständige Wartung und Hilfe" im § 105 a ASVG. In einem solchen Fall ist die Anwendung von Erfahrungssätzen entgegen der Meinung des Berufungsgerichtes nicht Teil der Beweiswürdigung oder Tatsachenfeststellungen, sondern Teil der rechtlichen Beurteilung und kann daher noch im Rechtsmittel vor dem Obersten Gerichtshof gerügt und überprüft werden (ÖBl 1985, 105). Der Oberste Gerichtshof vermag sich dabei der Ansicht der Vorinstanzen nicht anzuschließen. Das Erstgericht, dem das Berufungsgericht gefolgt ist, übersah, daß die Hilfe bei der Benützung des Bades auch von derjenigen Person geleistet werden kann, welche die der Klägerin nicht mehr möglichen Hausarbeiten verrichtet, und daß die Klägerin das Bad während der Zeit nehmen kann, während der diese Hausarbeiten verrichtet werden. Durch die Behinderung bei der Benützung der Badewanne entstehen daher keine zusätzlichen Kosten, zumal eine medizinische Notwendigkeit für häufigeres Baden nicht festgestellt wurde (vgl. SSV-NF 2/12). Ähnliches gilt für die Behinderung beim Aufheben von Gegenständen, die zu Boden fielen. Gewöhnlich wird der Klägerin zugemutet werden können, daß sie zuwartet, bis die Person eintrifft, die ihr bei der Verrichtung der Hausarbeiten hilft und die Einkäufe für sie besorgt. Es mag ausnahmsweise Fälle geben, bei denen dies nicht möglich ist. Die hiedurch verursachten Kosten können aber vernachlässigt werden, weil sie, wenn überhaupt, nur selten anfallen. Keinesfalls erscheint es gerechtfertigt, wegen dieser Behinderung ein Bedürfnis nach täglicher (zusätzlicher) Hilfe anzunehmen.

Von den bei der Ermittlung der Kosten ins Gewicht fallenden Behinderungen verbleibt also die Behinderung bei schweren Hausarbeiten und beim Einkaufen. Der Oberste Gerichtshof hat schon wiederholt die Ansicht vertreten (SSV-NF 1/46 ua), es sei auszuschließen, daß die Kosten, welche durch die bei einer solchen Behinderung notwendige Hilfeleistung verursacht werden, auch nur annähernd die Höhe des begehrten Hilflosenzuschusses erreichen. Zu diesem Ergebnis gelangt man im übrigen auch, wenn man von den Erfahrungssätzen ausgeht, welche die Vorinstanzen ihrer Entscheidung zugrundelegten.

Sind aber die durch die notwendige Wartung und Hilfe verursachten Kosten nicht mindestens so hoch wie der begehrte Hilflosenzuschuß, so besteht nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs der Anspruch auf Hilflosenzuschuß nicht (SSV-NF 1/46 uva).

Der Ausspruch über die Kosten der Rechtsmittelverfahren beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG (vgl. SSV-NF 1/19).

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